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Titel: Ursula Engelen-Kefer: Eine immanente Kritik der unendlichen Geschichte der Gesundheitsreformen. Es gibt viel Reformbedarf an der neuesten „Reform“.

Datum: 11. Juli 2006 um 16:46 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Gesundheitspolitik
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Die ehemalige DGB-Vizechefin und Sozialpolitikerin Ursula Engelen-Kefer war schon an vielen Gesundheitsreformen der letzten zwei Jahrzehnte beteiligt und hat schon einige „Durchbrüche“ erlebt. Die jüngst von der Großen Koalition beschlossenen „Eckpunkte“ sind nach ihrer Meinung auch nur wieder Verschiebemanöver beim Stopfen der Finanzlöcher, dem neu erfundenen Gesundheitsfonds sei mangels Einbeziehung der privaten Krankenkassen die Basis entzogen, die Zwei-Klassen-Medizin werde verfestigt, ohne Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen würden die Arbeitnehmer weiter einseitig belastet, bei der Begrenzung der Ausgaben hingegen bewegte sich die Koalition nur in Mini-Schritten.
Weil auch bei dieser Reform nur an Symptomen kuriert wird, dürfte gelten: Nach der Reform ist vor der nächsten Reform. Siehe dazu auch die Anmerkungen der Herausgeber am Ende des Textes.

NACHDENKEN UEBER DIE GESUNDHEITSREFORM

ZU VERBESSERUNGEN IST ES NIE ZU SPÄT

Von Ursula Engelen-Kefer Die öffentlichen Kommentierungen der Gesundheitsreform –die ja als Test des Reformwillens der Grossen Koalition angekündigt worden war – ist alles andere als schmeichelhaft. Sowohl innerhalb der Parteien, welche die Grosse Koalition tragen, als auch zwischen den Koalitionsblöcken, fliegen die Fetzen. Von den unterschiedlich ideologisch positionierten Oppositionsparteien kommen die Breitseiten einer beißenden Kritik – begleitet vom Aufheulen der unterschiedlich betroffenen Interessenvertreter in und um das Gesundheitswesen. Gebannt schauen die regierenden Politiker auf die sich verschlechternden Meinungsumfragen.

Wer seit Mitte der 1980er Jahre die soziale Sicherung insgesamt, und die Krankenversicherung insbesondere aktiv mitgestalten konnte, der hat eine lange Serie von politisch umstrittenen Reparaturen am Gesundheitswesen vor Augen und dem drängen sich heute folgende Fragen auf: Wurde bei den jetzt vorgelegten Eckpunkten für die Reform des Gesundheitswesens nicht wieder viel zu kurz gesprungen? Reichen auch die komfortablen politischen Mehrheiten einer Grossen Koalition nicht aus, die mächtige Gesundheitslobby in diesem Land in die Schranken zu verweisen? Fehlt es an Weitblick und politischer Kraft, die entscheidenden Rahmenbedingungen in die Reformen einzubeziehen? Ist es nach sechzehn Jahren deutscher Einheit mit aufgelaufenen zusätzlichen Kosten in der sozialen Sicherung (Gesundheit, Rente, Arbeitslosenversicherung) von etwa 360 Mrd. Euro nicht endlich an der Zeit, die notwendigen politischen Konsequenzen zur Umstellung der Finanzierung und damit zu Stabilisierung der Sozialkassen zu ziehen? Zumindest eine gängige Rechtfertigung der Politik für das Unvermögen zu durchgreifenden Strukturreformen zieht nicht mehr: Die Blockadepolitik des Bundesrats, der in den Vorgänger-Koalitionen aus „schwarz-gelb“ und „rot-grün“ bei den entscheidenden Reformprojekten jeweils andersfarbige Mehrheiten aufwies.

FINANZIELLE VERSCHIEBEMANÖVER GEHEN WEITER

Was bei den Regierenden auch bei großen Mehrheiten bleibt, sind die Verschiebemanöver. Die Grosse Koalition ist noch nicht ein Jahr im Amt, doch die Verschiebemanöver beim Stopfen der Löcher im Bundeshaushalt haben bereits ein beachtliches Ausmaß erreicht. Dabei hatten sich die Koalitionspartner noch in der Koalitionsvereinbarung untereinander das Gegenteil geschworen: Die Sozialversicherungssysteme und damit die Beitragszahler sollten von gesamtgesellschaftlichen Ausgaben entlastet werden. Dies sei von allen Steuerzahlern zu schultern.

So hatte die alte Regierungskoalition beschlossen, dass mit der Tabaksteuer die Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen verringert werden sollen. Erst vor wenigen Wochen hat die Grosse Koalition jedoch diesen Steuerzuschuss aus der Krankenversicherung in den Bundeshaushalt verschoben. Dies ist just der Betrag, der den Beitragszahlern mit der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträgen ab 2007 mit 0,5 Prozent wieder aus der Tasche gezogen wird.

Ähnliche Verschiebemanöver gibt es übrigens bei den Langzeitarbeitslosen und ihren Transferleistungen im Rahmen von ALG II. Weil die Bundesregierung für die ALG II-Empfänger nur Mini-Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zahlt, entstehen weitere Löcher bei den Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen.

Darüberhinaus gehen die Eckpunkte völlig daran vorbei, dass die Einnahmebasis auch der gesetzlichen Krankenversicherung durch den dramatischen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgehöhlt wird. Dies ist keinesfalls schicksalhafte Auswirkung der Globalisierung, vielmehr hausgemachte Ergebnisse der so genannten Arbeitsmarktreformen Hartz I – Hartz IV: Bei Mini-Jobs (bis zu 7 Millionen; Ich-AGs (etwa 300 000); Ein-Euro-Jobs (mit etwa 630 000 Eintritten in 2005) wäre der Gesetzgeber dringend gefordert, umgehend den notwendigen Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik zu mehr sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung einzuleiten. Dies wäre auch ein wesentlicher Beitrag zu Stabilisierung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung.

GESUNDHEITSFONDS FEHLT DIE BASIS

Wie schon früher verschanzen sich auch heute wieder die Reformer hinter der bekannten Argumentation: Wenn alle Seiten so harsche Kritik üben, können die negativen Auswirkungen möglicherweise nicht so schlimm sein. Diese Rechtfertigung kann sich schnell als Trugschluss erweisen. Nachzudenken ist daher über eine andere Schlussfolgerung: Wie sind die nach einer langen Verhandlungsnacht zwischen den Koalitionären ausgehandelten umstrittenen Eckpunkte bei der weiteren Konkretisierung zu korrigieren? Bei solchen Reformen, die in das Leben der Menschen entscheidend eingreifen, wäre dies sicherlich keine Schande. Sehr zu bedauern ist jedenfalls, dass aus der Fülle der Kritik bisher viel zu wenig konkrete Ansätze für konstruktive Verbesserungsvorschläge erkennbar werden.

Das Mindeste, was festzustellen ist: Die Erwartungen an eine umfassende nachhaltige Reform von Strukturen und Finanzen im Gesundheitswesen sind nicht erfüllt. Von einem „Durchbruch“ zu reden- wie dies die Bundeskanzlerin am Morgen nach den Verhandlungen tat – wurde allgemein als weit überzogen angesehen.
Es muss schon über den Zustand der Politik im Bereich des Gesundheitswesens nachdenklich stimmen, wenn die wichtigste Botschaft aus den Eckpunkten für die Gesundheitsreform auf die Errichtung eines Gesundheitsfonds hinausläuft. Die im politischen Vorhof zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe haben sich nämlich weitgehend in Luft aufgelöst: Die Einführung einer dritten Einnahmesäule über Steuern zur Verringerung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Einbeziehung der Privaten Krankenversicherung in einen echten Risikostrukturausgleich.

STREIT UM DIE STEUERZUSCHÜSSE

Die ab 2008 vereinbarten Steuererhöhungen von 1,5 Mrd. Euro und 3 Mrd. Euro 2009 sind Tropfen auf den heißen Stein. Nicht zu vergessen: Dies ist weniger als der erst kürzlich von der Großen Koalition gestrichene Steuerzuschuss aus der Tabaksteuer von 4,2 Mrd. Euro. Dieser wurde kurzerhand zum Löcherstopfen in den Bundeshaushalt verschoben.

Erinnern wir uns: Wochenlang wurde von namhaften Vertretern beider Koalitionspartner mit großem Öffentlichkeitsgetöse über einen Steuerzuschuss debattiert – allerdings mit erheblichen Unterschieden über die Größenordnung zwischen den beiden Koalitionsparteien. Auch informierte Zeitungsleser staunten, als sich Vertreter beider Koalitionäre auf einen Steuerzuschuss von etwa 14 Mrd. Euro einzupendeln schienen. Dazu muss man wissen: Dies wären just die 14 Mrd. Euro, welche die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder in der gesetzlichen Krankenversicherung jährlich kostet.

Eine solche eindeutige Zuordnung eines möglichen Steuerzuschusses hätte natürlich sofort von den Privatversicherten verfassungsrechtlich angegriffen werden können: Sind denn die Kinder der Privatversicherten Staat und Steuerzahlern weniger Wert als jene der gesetzlich Versicherten? Genau deshalb hatten Vertreter der CDU/CSU auch einen Steuerzuschuss bis zu 16 Mrd. Euro ins Spiel gebracht. Dann wären auch die Kinder von Privatversicherten beitragsfrei gestellt worden. Dies hätte allerdings die Abwanderung der so genannten günstigen Risikogruppen aus der gesetzlichen in die private Krankenversicherung noch stärker beschleunigt. Um solch einer „verkehrten Welt“ auszuweichen, sollte ein Steuerzuschuss ohne genaue Spezifierung hinsichtlich der Verwendung auf die Schiene gebracht werden.

Soweit war das Koalitionspoker offensichtlich bis zur Verhandlungsnacht gediehen. Dann kam die „kalte Dusche“ der Bundeskanzlerin und ihrer CDU/CSU Ministerpräsidenten. Übrig blieben die bekannten Mini-Trippel-Schritte beim Steuerzuschuss ab 2008.

Wenn allerdings ein solcher Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung als „Echternacher Springprozession“ gestaltet werden soll, wären neun bis zehn Jahre erforderlich, um tatsächlich den Ausgleich für die Kinderleistungen –auch wenn dies nicht so genannt werden darf – zu finanzieren. Fragt sich nur: Auf welche zukünftigen Regierungsmehrheiten die Grosse Koalition dabei setzt?

Die Gestaltung der finanziellen Reform des Gesundheitswesens wird auch nicht dadurch erleichtert, dass die politische Schuldfrage zu dem öffentlichen Steuer-Hickhack in den Vordergrund geschoben wird. Hat die Kanzlerin in letzter Minute ihr Wort im Koalitions-Gesundheitspoker für einen erheblich höheren Steuerzuschuss gebrochen? Wurde sie von ihren Ministerpräsidenten zu stark unter Druck gesetzt? Hat sie sich vielleicht freiwillig von diesen einmauern lassen? Wer will schon gerne als Partei der Steuererhöhungen in die nächsten Landtags- und Bundestagswahlen gehen.

KEINE ÜBERWINDUNG DER ZWEI KLASSEN MEDIZIN

Weggefallen ist ebenfalls die Begründung für einen Gesundheitsfonds, dass die Private Krankenversicherung in einen krankheitsorientierten Risikostrukturausgleich einbezogen wird.
Dieser wichtige Reformschritt zur Überwindung der Zweiklassen-Medizin unterhalb oder oberhalb der künstlichen Beitragsbemessungsgrenze ist leider wieder einmal unter den Tisch gefallen. Damit wird die einseitige „Rosinenpickerei“ der „Günstigen – weil billigen Risiken“ zugunsten der Privaten Krankenversicherung und zu Lasten der großen gesetzlichen Versorgerkassen weitergehen.

Die beschlossene Ausdehnung der Übergangszeiten beim Übergang von der gesetzlichen in die private Versicherung (von derzeit einem auf künftig drei Jahre nach Überschreiten der Beitragsbemessungsgrenze) sind allerdings ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch kaum ausreichend. Dies gilt auch für den Kontrahierungszwang für die Privaten Versicherungen, das Angebot eines bezahlbaren Standardtarifs und die Übertragbarkeit von Altersrückstellungen.

Ungeklärte Fragen bestehen bei der organisatorischen und inhaltlichen Ausgestaltung eines derartigen Gesundheitsfonds.

Offensichtlich besteht bei den Koalitionären die Erkenntnis, dass ein zentraler Fonds bei 72 Millionen Versicherten ein nicht zu verantwortendes „bürokratisches Abenteuer“ wäre, das selbst die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen von Hartz IV in den Schatten stellen würde. Ungewiss ist, wie eine dezentrale Organisation aussehen und wie der Risikostrukturausgleich durchgeführt werden soll.

KRANKHEITSBEDINGTER RISIKOSTRUKTURAUSGLEICH MUSS KOMMEN

Es wäre ein wesentlicher Schritt nach vorne, wenn es wirklich gelingt, einen Risikostrukturausgleich einzuführen, der nicht wie bisher nur Alter und Einkommen berücksichtigt, sondern auch die unterschiedlichen Krankheitsrisiken einbezieht.

Hierbei ist nicht nur noch erhebliche politische Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern es müssen auch die dazu notwendigen wissenschaftlichen und praktischen Vorarbeiten vorangetrieben werden.

Gelingt gerade der Ausgleich der krankeitsbedingten Risiken nicht oder nicht vollständig, werden Krankenkassen mit den hohen Krankheitsrisiken die ebenfalls im Koalitionspacket vorgesehenen Zuschläge als einkommensbezogene Beiträge oder kleine Kopfpauschale einführen müssen, wenn diese auch bei einem Prozent der Einkommen gedeckelt werden sollen. Belastet werden damit wieder einmal einseitig die Arbeitnehmer.

Es muss skeptisch stimmen, wenn geplant ist: Sollten die Beiträge weniger als 95 Prozent der Ausgaben des Gesundheitsfonds ausmachen, muss der Gesetzgeber handeln, sei es durch Erhöhung der Beiträge oder der Steuerzuschüsse. In jedem Fall ist die Gefahr einer weiteren Aushöhlung der paritätischen Beitragsfinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesem Gesundheitskompromiss angelegt.

Die Arbeitnehmer müssen nicht nur die aus dem letzten Gesundheitsstrukturgesetz resultierenden 0.9 Prozent Beitragserhöhung aufbringen, sondern darüber hinaus noch weitere Beiträge oder eine Kopfpauschale, wenn die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen. Dies ist dann der Fall, wenn es keinen hinreichenden Risikostrukturausgleich unter Einschluss der Krankheitsrisiken gibt.

Es muss daher ein wesentliches Anliegen im Rahmen dieser neuen Reform sein, den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich möglichst realitätsnah auszugestalten.

Ungeklärt ist auch die Frage, wie viele Beschäftigte in den gesetzlichen Krankenkassen von dem Aufbau eines solchen Gesundheitsfonds betroffen wären. Etwa 40 000 Beschäftigte der Krankenkassen sind im Zusammenhang mit dem Beitrageinzug tätig. Der lapidare Satz im Eckpunktepapier, wonach für ausreichende Übergangslösungen zu sorgen sei, dürfte auf die betroffenen Arbeitnehmer wenig beruhigend wirken.

STRUKTURVERBESSERUNG IN MINI -SCHRITTEN

Wie aus den Eckpunkten und den umfangreichen Anhängen deutlich wird, haben sich die Koalitionsarbeitsgruppen in einem langen Beratungsmarathon mit den Ausgabenstrukturen der gesetzlichen Krankenkassen befasst. Hierbei wurden auch eine Fülle detaillierter Vorschläge zur Begrenzung der Ausgaben vorgelegt :durch bessere Integration einzelner Leistungsbereiche, mehr Transparenz und Ausgabenbegrenzung bei Arznei- Heil- und Hilfsmitteln, Beschränkung der Krankenhauskosten, Bildung von Gemeinschaftspraxen und Gesundheitszentren, Transparenz bei Arztrechnungen, mehr Leistungsgerechtigkeit bei der Ärztehonorierung, regionaler und fachlicher Ausgleich der Ärzteversorgung, um nur einige wichtige Verbesserungsvorschläge zu nennen.

Auch die Institutionen sollen sich dem Anpassungszwang stellen: Die Fusionen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen sollen erleichtert werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen, die maßgeblich für die mangelnde Transparenz von Kosten und Leistungen der ärztlichen Versorgung die Verantwortung tragen, werden allerdings nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Enthalten sind im Eckpunktepapier zwar zahlreiche Ansatzpunkte für notwendige Strukturverbesserungen: Die damit möglichen Kostenreduzierungen werden allerdings nur mit bescheidenen 2 bis 3 Mrd. Euro im Jahr eingeplant. Bei einem geschätzten Volumen der so genannten Effizienzspielräume von 20 Mrd. Euro kann sich jeder ausrechnen, wie viele Jahre es dauern würde, bis die angestrebten Strukturverbesserungen im Gesundheitswesen in vollem Umfang umgesetzt werden.

Angesichts der finanziellen Dramatik mit einem voraussichtlichen Gesamtdefizit bei den gesetzlichen Krankenkassen von 19 Mrd. Euro im Jahre 2009 hätten hier wesentlich größere Reformschritte bei den Strukturverbesserungen gewagt werden müssen. Nur dann kann die Grosse Koalition den dringend erforderlichen Durchbruch erzielen, den bisher keine der Kleinen Koalitionen mit unterschiedlicher Parteienkonstellation geschafft hat.

Dass vor diesem Hintergrund auch die seit 2005 regierende Große Koalition unter zunehmenden Handlungszwang an der Gesundheitsfront geriet, liegt auf der Hand. Allerdings hatten sich die Koalitionäre noch nicht in den Koalitionsvereinbarungen auf einen gemeinsamen Weg verständigen können. Zu groß waren die ideologischen Gräben zwischen der im Bundestagswahlkampf propagierten Kopfpauschale von Angela Merkel und der Bürgerversicherung der SPD.

So kam den Koalitionären die mediale Ablenkung der Bürger während der Fußball-Weltmeisterschaft sehr gelegen, um just am Tag vor dem Halbfinale – Deutschland gegen Italien – der staunenden Öffentlichkeit den neuen Gesundheitskompromiss zu präsentieren.

Es wäre sicher besser gewesen: Die Grosse Koalition hätte sorgfältiger über die inhaltlichen, finanziellen und politischen Folgen ihrer Eckpunkte zur Gesundheitsreform nachgedacht. Aber dazu ist es nie zu spät. Die Bürger in Deutschland – und das zeigen die jüngsten Meinungsumfragen – werden dies von ihren Politikern mit unmissverständlicher Deutlichkeit einfordern.

EIN BLICK ZURÜCK AUF DIE BAUSTELLE GESUNDHEITSREFORM

Um den jüngsten Reformanlauf in die richtige Perspektive zu setzen, kann ein „Blick zurück“ hilfreich sein: „ Gesprungen als Tiger – gelandet als Bettvorleger“ hieß es bei der Gesundheitsstrukturreform von Horst Seehofer in den 1990er Jahren. Seehofer hatte aus dem Mammut-Ministerium für Arbeit und Soziales von Norbert Blüm das ausgegliederte Gesundheitsressort übernommen und einen ehrgeizigen Reformkatalog auf die politische Agenda gesetzt. Bereits damals ging es nach der Organisationsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um dringend erforderliche Strukturreformen. Unter Fachleuten bestand weitgehende Einigkeit: Dass es erhebliche Potentiale gab zur Verbesserung der Qualität der gesundheitlichen Versorgung und zur Reduzierung unnötiger Ausgaben. Diese galt es nur zu heben – als ob es sich um noch verborgene Schätze handelte.

Leider bleibt das Geheimnis um diese Rationalisierungsschätze im deutschen Gesundheitswesen bis heute ungelüftet. Stattdessen haben die Unwirtschaftlichkeiten des Systems neue Dimensionen erreicht. Sie werden heute von Fachleuten auf rund 20 Mrd. Euro geschätzt.
Das damalige Gesundheitsstrukturgesetz von Horst Seehofer wirkte sich – wie die einschlägigen Vorgängergesetze – vor allem in der Erhöhung von Zuzahlungen der Patienten aus. Die Lobbyisten des Gesundheitswesens in der damaligen schwarz-gelben Regierungskoalition – mit der FDP als Schutzpatron – konnten sich auf der ganzen Linie durchsetzen.

Zu einem neuen Reformanlauf kam es, nachdem Rot-Grün 1998 die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Nach dem Großprojekt der „Riesterschen Rentenreform“ rückte bald schon eine neue Gesundheitsstrukturreform ins Visier der rot-grünen Reformer. Über Jahre hinweg wurden hierfür Vorarbeiten in Expertenzirkeln geleistet, bei denen niemanden von Rang und Namen in der Gesundheitsszene außen vor gelassen werden wollte.

Die Gesundheitsministerin der rot-grünen Koalition – Ulla Schmidt – startete mit einem mutigen Gesetzentwurf, der zahlreiche heftig umstrittene Reformbereiche umfasste – von der integrierten ambulanten und stationären Versorgung über die breite Förderung von Gesundheitszentren, die klare Stärkung des Hausarztmodells, eigenständige Verträge der gesetzlichen Krankenkassen mit den Fachärzten bis zur wirksamen Begrenzung der Ausgaben im Arzneimittelbereich, z.B. durch Positivlisten.

Herausgekommen ist nach der „denkwürdigen schönsten Nacht“ vom 21. Juni 2003 – als Ulla Schmidt und Horst Seehofer, damals Verhandlungsführer der Union, mit der „ größten Sozialreform seit der Wiedervereinigung“ vor die Presse traten – ein Gesetz mit teilweise bösen Überraschungen: etwa die Einführung einer Praxisgebühr von 10 Euro im Quartal sowie eine weitere Erhöhung der Zuzahlungen für Medikamente und Krankenhausaufenthalt. Weiter ausgehöhlt wurde gleichzeitig die paritätische Finanzierung der Beiträge: Die Arbeitnehmer wurden mit einem zusätzlichen Beitrag von 0,9 Prozent in die Pflicht genommen. Zusätzlich wurden die Zusatzrenten der Arbeitnehmer mit vollen Beiträgen belegt. Dadurch wurden die Arbeitnehmer mit über 10 Mrd. Euro im Jahr zusätzlich belastet. Im Vergleich dazu nahmen sich die Einsparungen bei den Leistungsanbietern – Pharmakonzerne, Apotheken, Ärzte und Krankenhäuser – mit insgesamt 2 Mrd. Euro äußerst bescheiden aus.

Deutschlands mächtige Lobby des Gesundheitswesen hatte sich wieder einmal weitgehend durchgesetzt: von den umfassenden Strukturreformen im ursprünglichen Gesetzentwurf von Ulla Schmidt blieben nur zaghafte Ansätze übrig. Die negativen Konsequenzen für die Versicherten – überdurchnittlich steigende Ausgaben vor allem bei Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln – ließen nicht lange auf sich warten.

Anmerkung der Herausgeber:

Wir teilen ausdrücklich die Meinung der Autorin, dass nach 16 Jahren deutscher Einheit endlich die Konsequenzen aus deren falschen Finanzierung gezogen und die Sozialkassen endlich entlastet werden müssten.

Wir geben Ursula Engelen-Kefer auch Recht, dass die Einnahmebasis auch der gesetzlichen Krankenversicherung durch den dramatischen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgehöhlt wird und dass dies keinesfalls eine schicksalhafte Auswirkung der Globalisierung, sondern vielmehr hausgemachte Ergebnisse der so genannten Arbeitsmarktreformen Hartz I – Hartz IV sind.

Wir sind wie sie der Meinung: Ohne mehr Beitragszahler, d.h. ohne mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bleibt die Finanzierung der Gesundheit prekär. Deshalb liegt unseres Erachtens auch der wichtigste Schlüssel zu Sanierung der Gesundheitskassen in einer aktiven Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Solange hier keine Wende in Sicht ist, muss jedes finanzielle Verschiebemanöver immer wieder neu nachgebessert werden. Dass man offenbar leider nicht daran denkt, an dem Grundübel anzusetzen, zeigt sich etwa darin, dass schon heute für 2009 mit einem voraussichtlichen Gesamtdefizit der gesetzlichen Krankenkassen von 19 Milliarden Euro gerechnet wird.

Solange das Dogma der Senkung der Lohnnebenkosten aufrechterhalten bleibt, ist auch in Zukunft mit einer weiteren Verlagerung der Kosten auf die Arbeitnehmer zu rechnen, egal, ob über eine zusätzliche Beitragsfinanzierung oder über eine Kopfpauschale.

Wir halten einen Übergang zur Steuerfinanzierung der Gesundheitskosten, mit Ausnahme versicherungsfremder Leistungen oder ggf. für eine beitragsfreie Mitversicherung von Kindern, für keinen erfolgversprechenden Lösungsweg. Schon gar nicht, wenn man Unternehmenssteuern weiter senkt und Lohn- und Einkommensteuern zur Finanzierung der Defizite immer weiter erhöht. Einmal abgesehen davon, dass die Lohn- und Einkommensteuern wie die Beiträge zur Krankenversicherung gleichfalls wieder im Wesentlichen von den mittleren Lohnempfängern aufgebracht werden, halten wir Steuererhöhungen für die Masse der Menschen in der aktuellen konjunkturpolitischen Situation mit ihrer notleidenden Binnennachfrage für kontraproduktiv.

Wir plädieren auch für die Zukunft für eine paritätische Beitragsfinanzierung, weil auch die Arbeitgeber in der Kostenverantwortung für die Gesundheitssysteme bleiben müssen.

Selbst wenn eine Steuerfinanzierung auf den ersten Blick gerechter erscheinen mag, weil sie auch andere als die Lohneinkommen mit heranzieht, halten wir das bisherige Abgabensystem für vorzugswürdig, weil es dem Einzahler einen direkten Anspruch auf die geleisteten Abgaben gegenüber einer Selbstverwaltungskörperschaft verleiht und weil die Beiträge zweckgebunden sind. Bei einer Steuerfinanzierung wäre beides – Zweckgebundenheit und Anspruch – nicht mehr gegeben und wir erleben, sowohl bei der Rente als auch beim Arbeitslosengeld, auf welche Rutsche man gerät, wenn die Steuerzuwendungen jährlich der politischen Disponibilität des Haushaltsgesetzgebers ausgesetzt sind – zumal wenn der bisherige fiskalische Konsolidierungskurs beibehalten wird.
Der Verweis auf das skandinavische Beispiel einer Steuerfinanzierung von sozialen Sicherungssystemen zieht nicht, denn dort herrscht eine völlig andere Rechtstradition, dort verleihen soziale Rechte einen Rechtsanspruch.

Das bisherige System der paritätischen Finanzierung garantiert somit ein erheblich höheres Maß an Sicherheit und Planbarkeit – übrigens für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.


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