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Titel: Buchrezension „Das Goldene Tor von Kiew“ – Eine fiktionale Auseinandersetzung mit der Zeitenwende

Datum: 11. Oktober 2025 um 14:00 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, Rezensionen
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Sachbücher zum Ukraine-Konflikt gibt es mittlerweile reichlich, auch solche, die ihn aus einer anderen Perspektive betrachten als die Schreiberzunft des Mainstreams. Mangelware sind hingegen literarische Auseinandersetzungen. Zuletzt hatte Raymond Unger mit „KAI“ einen fiktionalen Versuch unternommen, allerdings den Ukraine-Krieg als eines von vielen Themen der Gegenwart verarbeitet. Wie er tritt nun auch Alexander Rahr mit einem Thriller hervor, mit einem, der dem Konflikt zwischen Moskau und Kiew mehr Raum einräumt. Eine Rezension von Eugen Zentner.

Vordergründig werden die geschichtlichen und geopolitischen Zusammenhänge, nicht die Gräuel des Kriegsalltags. Es gibt keine Szenen an der Front, keine tragischen Momente in den Schützengräben, keinen Drill in den Kasernen, keinen Lebenskampf im Lazarett. Der Autor führt weder die Leser aufs Schlachtfeld noch die Figuren. Letzteren kommt überwiegend die Aufgabe zu, über den Ukraine-Konflikt und dessen geopolitischen Kontext zu sprechen. Und obwohl die Figuren pausenlos reden und reden, hat man dennoch das Gefühl, den Autor zu hören, einen führenden deutschen Russlandexperten, der seine Sicht auf den Konflikt bereits in unterschiedlichen Medien und mehreren Sachbüchern kundgetan hat.

In „Das Goldene Tor von Kiew“ streut er sein Wissen unter ein illustres Personal, zu dem nicht nur Russlands Präsident Wladimir Putin und der US-Unternehmer Elon Musk gehören, sondern beispielsweise auch ein deutscher Journalist, eine Art medialer Killer, der im Correctiv-Stil unliebsame Politiker, Bewegungen oder Parteien mit gesteuerten Pressekampagnen diskreditiert und vernichtet. Gefüttert wird er von einer CIA-Amazone, einer Informationskriegerin, die für Desinformation, Propaganda und die Steuerung von Narrativen zuständig ist. An ihrer Seite steht eine Kollegin mit Schwerpunkt auf Regime-Change-Operationen und Grenzwissenschaften.

Als eigentlicher Protagonist tritt jedoch der Berliner Politologe Georgi Vetrov auf. Er erhält in Lissabon den Forschungsauftrag, über den Ukraine-Krieg zu schreiben, und begegnet in der portugiesischen Hauptstadt einem alten Bekannten, einem russischen General, der ihm sein Ticket für eine Schiffsreise über den Atlantik überlässt. Wie diese beiden Gentlemen unterhält sich der Großteil des restlichen Personals ständig über Ukraine-Krieg, Geopolitik oder eine Revolution im Sinne der Bewegung „Moderne Liberale“. Und wenn sie es nicht tun, dann der Erzähler, er sogar mehr als die Figuren. Ihre Dialoge werden größtenteils wiedergegeben, genauer: deren Inhalt. Show, don’t tell – dieser Grundsatz literarischen Erzählens wird leider zu häufig unterlaufen. Es wird nicht gezeigt, sondern lediglich mitgeteilt, wodurch die Figuren ohne Kontur, ja ohne einen eigenen Charakter bleiben und der Roman über weite Strecken wie ein Sach- oder Geschichtsbuch anmutet.

Die Informationsdichte ist enorm, sodass selbst gebildete Leser neues Wissen erlangen dürften. Neben der eigentlichen Handlung unternimmt Rahr historische Exkurse, die bis zur Kiewer Rus zurückführen. Dabei gelingt es ihm, anhand von mehreren Motiven Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, insbesondere im Verhältnis zwischen Russland und Europa. Zwischendurch wird minutiös der Verlauf des Ukraine-Konflikts nachgezeichnet, mit Deutungen, Analysen oder Reflexionen dieser Art:

Ein Umdenken wurde zwingend notwendig, um aus der Dominanz überzogener Wertevorstellungen eine echte Verständigung mit der globalen Vielfalt zu entwickeln, die in all ihren Facetten respektiert und mit Respekt behandelt würde. Nur durch diesen Prozess der Reflexion kann es gelingen, einer wachsenden Kluft zwischen den Herrschaftseliten und der Bevölkerung entgegenzuwirken. Am Ende wird das Überdenken dieser Perspektiven nicht nur für die europäische Identität vonnöten sein, sondern auch für die globale Zukunft.“

Der kritische Ton ist unüberhörbar. Er zieht sich durch die Lektüre und gewinnt besonders dann an Lautstärke, wenn es um die Rolle Europas geht. Die Einflüsse der neuen US-Administration werden mitverarbeitet, weshalb die Vereinigten Staaten aufgrund Trumps anfänglicher Friedensbemühungen etwas besser wegkommen, obgleich ihre Hegemoniestellung und geopolitischen Interessen nie in Zweifel stehen. Dabei kommen auch Fragen nach der Autonomie Deutschlands auf. Niemand könne vorhersagen, wie die Bundesrepublik sich „in Zukunft gegenüber Amerika verhalten würde“, lautet der Kommentar des auktorialen Erzählers, „vor allem wenn die USA damit begännen, die Bodenschätze der Ukraine zu kolonisieren, wieder ohne die Europäer zu beteiligen“.

Nicht weniger interessant sind eingeflochtene Spekulationen, etwa darüber, was passiert, wenn Putins Präsidentschaft endet. „Die Spatzen pfiffen es von den Dächern“, werden die Gedanken des Protagonisten Vetrov wiedergegeben, der sich als Politologe vom General den Verlauf des Ukraine-Konflikts erklären lassen muss, über derlei Vorgänge aber gut informiert zu sein scheint. Oder es spricht wieder einmal der übergeordnete, allwissende Erzähler. Das ist an manchen Stellen des Romans leider nicht immer klar. Berichtet wird jedenfalls, dass Putin „seit geraumer Zeit an der Errichtung von Parallelstrukturen zu Regierung, Gouverneuren und Sicherheitsapparaten“ arbeite. „Würde er das Präsidialamt einmal verlassen, könnte er das riesige Land über seine Parallelinstitutionen aus einem mächtigen Staatsrat weiterregieren.“

Eine spannende These, die im fiktionalen Gewand eine umso größere Aura des Geheimnisvollen bekommt. Gleiches gilt für die UFO-Forschung, bei der Russland und die USA zusammenarbeiten, um gewappnet sein, wenn ein gemeinsamer Feind die Erde betritt. Geradezu profan hören sich dagegen Ausführungen zu den verschiedenen Stadien eines Konflikts zwischen Staaten an – oder zur Militarisierung der Ukraine durch den Westen sowie zum Aufstieg Chinas, „das immer mehr Marinebasen aufbaut – nicht nur im Südchinesischen Meer, sondern auch in Lateinamerika“.

Innerhalb der Handlung kommt es schließlich zu einem einschneidenden Ereignis, das mit jener Schiffsreise in Zusammenhang steht. Der Protagonist Vetrov erhält ein brisantes Dokument, das in der Ukraine den Weg für Frieden ebnen könnte. Er muss es nur in die richtigen Hände übergeben. Je länger der Roman aber fortschreitet, desto klarer wird, dass in Zukunft neue Konflikte warten. Rahrs Buch ist eine Auseinandersetzung mit der Zeitenwende, ausgehend von der heutigen Krisensituation, die den Ukraine-Krieg genauso umfasst wie Massenmigration und technische Entwicklung. Präsidenten könnten künftig durch eine KI ersetzt, Individualität abgeschafft, das Schicksal von Demokratien besiegelt werden. Der Roman wirft brisante Fragen auf, Fragen nach der Zukunft des Westens oder nach der Aushöhlung politischer Systeme.

Der eigentliche Thrill entsteht am Ende, wenn eine Gruppe von Zukunftsforschern ihre Gedanken darüber ausbreitet, wie die Welt von morgen aussehen könnte. „Die Integration der KI-Technologie veränderte die menschliche Zivilisation wie niemals zuvor“, heißt es an einer Stelle. „Kriege wurden von seelenlosen KI-Kommandozentralen geführt, Roboter- und Drohnenarmeen bekämpften sich auf den Schlachtfeldern, Kriege entwickelten sich zu unendlichen Materialschlachten.“ Es ist zu hoffen, dass diese Szenarien reine Fiktion bleiben.

Alexander Rahr: Das Goldene Tor von Kiew. Berlin 2025, Verlag Das Neue Berlin (Eulenspiegel Verlagsgruppe), gebundene Ausgabe, 432 Seiten, ISBN 978-3360027719, 30 Euro.


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