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Titel: Alltag in der russischen Provinz – eine Deutsche mit familiären Verbindungen an die Wolga berichtet

Datum: 25. Oktober 2025 um 13:00 Uhr
Rubrik: Interviews, Länderberichte
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Tamara Helck kommt aus Düsseldorf. Sie ist Deutsche, aber sie gehört zu den Menschen, die familiäre Beziehungen nach Russland haben. Ihr Vater ist Russe, ihre Mutter Ukrainerin. In folgendem Interview berichtet sie über die Integration ihrer Eltern in Westdeutschland nach 1945 und ihre Reise in die russische Provinz im August dieses Jahres. In Udmurtien an der Wolga, 1.200 Kilometer östlich von Moskau, besuchte sie im 900-Seelen-Dorf Babino Verwandte und im südrussischen Orenburg Freunde. Der Bericht von Tamara Helck kann Wissenslücken füllen, denn die deutschen Mainstream-Medien berichten kaum über den Alltag in der russischen Provinz. Das Interview führte Ulrich Heyden (Moskau).

Ulrich Heyden: Wie fühlten Sie sich, als Ihr Flugzeug über russisches Territorium flog? Welche Erinnerungen und welche Erwartungen hatten Sie?

Tamara Helck: Ich bin jedes Mal positiv aufgeregt, wenn ich nach Russland fahre, wo ich meine Wurzeln habe. Ich bin das erste Mal als zwölfjähriges Mädchen – Mitte der 1960er-Jahre – in der Sowjetunion bei meiner Großmutter nebst großer Verwandtschaft mütterlicherseits gewesen und von da an regelmäßig immer wieder hingefahren.

Tamara Helck und Ulrich Heyden vor dem Botkin-Krankenhaus in Moskau August 2025 / Foto Tamara Helck

Meine Mutter stammt aus der Gegend von Saporoschje (Ukraine). Dort habe ich mehrfach meine Sommerferien verbracht. Als 16-Jährige habe ich in dem Pionierlager „Molodaja Gwardia“ (Junge Garde) in Odessa meine Ferien verbracht.

Jeder Reporter aus dem Westen wäre vermutlich vor Neid erblasst, wenn er mitbekommen hätte, wie ich bei meinen Besuchen später in Russland beim Melken der Kühe in einer Kolchose zugeschaut habe oder in einem Kombinat durch die Waschkaue gelaufen bin.

Ich habe mit großem Interesse den Prozess in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfolgt. Ich hatte große Hoffnung, dass es keine Feindschaft mehr zwischen dem Westen und Osten gibt. Diese Hoffnung erfüllte sich leider nicht.

Aber zurück zu eingangs gestellter Frage: Jede meiner fast jährlich stattfindenden Reisen nach Russland ist völlig unterschiedlich. Ich entdecke jedes Mal Neues und Unerwartetes, obwohl ich der Meinung bin, das Land bereits gut zu kennen. Ich erlebe durchweg freundliche und wohlmeinende Menschen, deren Leben in Bezug auf ihr Familienleben, ihre Wünsche und Hoffnungen sich nicht viel von dem in Deutschland unterscheidet. Ich wünsche mir deshalb von Herzen, dass die Deutschen und Russen nach dieser aktuell stattfindenden Phase der Feindschaft doch wieder zueinanderfinden. Wir sollten doch ein Volk der guten Nachbarn sein. Ich glaube, dass hatte Willy Brandt so gesagt.

Warum haben Sie dieses Mal Russland besucht?

Ich habe mit meiner Tochter, die mich dieses Jahr begleitet hat, in Moskau Freunde besucht. Danach sind wir in der Gegend von Ischewsk in der Nähe des Ural gewesen, um unsere Verwandten zu besuchen. Sie leben in einem 900-Seelen-Dorf namens Babino. Von dort stammt mein Vater, der im Zweiten Weltkrieg als Politkommissar der Sowjetarmee in Kriegsgefangenschaft geraten ist und deshalb in Deutschland bleiben musste.

Von Babino sind wir in vierstündiger Fahrt weiter mit dem Auto nach Ufa gefahren und nach drei Tagen dann weiter nach Orenburg. Dort leben ebenfalls gute Freunde von mir. Von Orenburg ging es dann zurück über Antalya (Türkei) nach Deutschland.

Wann waren Sie das letzte Mal in Russland? Wie oft fahren Sie?

Vor der diesjährigen Reise bin ich im letzten Jahr in Russland gewesen. Ich hatte mich auf das Abenteuer eingelassen, mit dem Auto nach Kaliningrad zu fahren. Das würde ich nicht wieder tun, weil es an der polnisch-russischen Grenze zu langen Wartezeiten kam und offenbar auch weiterhin kommt, was an der extrem schleppenden Abfertigung der polnischen Grenzbeamten liegt. Auf der Hinreise hat es 14 Stunden gedauert, bis man nach Russland einreisen konnte, und zurück haben wir sogar 25 Stunden auf eine Abfertigung seitens der Polen warten müssen.

Sie waren in Moskau, Ischewsk am Ural, in Ufa und Orenburg. Das ist in Südrussland. Wie unterscheiden sich diese Regionen, wenn man sie als Tourist bereist? Wie unterscheiden sich Stadt und Land?

Es ist ein großer Unterschied, ob man in Russland in einer Großstadt wie Moskau oder St. Petersburg lebt oder in einer Kleinstadt bzw. sogar einem Dorf. Ich nenne ein Beispiel: Auf der Fahrt vom Moskauer Flughafen zur Wohnung meiner Freunde spätabends haben diese aus dem Taxi heraus noch warmes Essen bestellt. Dieses wurde pünktlich zu unserer Ankunft geliefert. Die Lieferung erfolgt häufig per Roboter, die man in Moskau wie selbstverständlich herumfahren sieht. Auch bestellte Ware soll so rasch und pünktlich beim Besteller ankommen.

Ganz anders leben die Menschen im Dorf, wie ich es z.B. bei meinen Cousinen in dem 900-Seelen-Dorf Babino erleben konnte. Sie sind noch größtenteils Selbstversorger. Fast jeder hält Hühner, zieht eigenes Obst und Gemüse. Angeln ist in Russland offenbar Volkssport, genauso wie das Sammeln von Beeren und Pilzen.

Während in Moskau Roboter auf den Bürgersteigen herumfahren und Waren oder Essen ausliefern, sich die Menschen in Diskotheken, Theatern oder Restaurants vergnügen, lebt man in den Dörfern eher beschaulich. Die Hühner müssen versorgt werden, Obst und Gemüse gewässert oder geerntet und eingemacht werden. In der Freizeit geht man mit der Familie und Freunden Pilze sammeln, angeln oder auf eine Wanderung in der schier grenzenlosen Weite des Landes.

Was überraschte Sie auf dieser Reise?

Mich hat überrascht, dass man im öffentlichen Leben fast nichts vom Krieg in der Ukraine mitbekommt. Die Restaurants sind voller Menschen, die Märkte und Geschäfte haben eine riesige Warenvielfalt wie eh und je. Nur die großen Plakate, die zum Dienst in der Armee einladen, deuten darauf hin, dass Russland sich im Krieg befindet.

Hatten Sie das Gefühl, dass sich Russland entwickelt oder dass die Wirtschaft aufgrund von Sanktionen und Krieg stagniert?

Ich denke, dass es der Wahrheit entspricht, dass die Sanktionen in Russland zu einem Innovationsschub geführt haben. Und: Trotz des Krieges in der Ukraine geht die Regierung in diesem Jahr von einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent aus. Das ist alles andere als Stagnation. Russland hat seine weggefallenen Handelspartner ersetzt durch Staaten wie China, Staaten der arabischen Welt und das, was man den Globalen Süden nennt. Das ist die rein volkswirtschaftliche Betrachtung.

Wenn man als Tourist mit offenen Augen durch das Land fährt, so fallen die Sauberkeit auf und der Wunsch, die Umgebung zu schmücken. Die vielen blühenden Blumenrabatten auf den Straßen und in gepflegten Parkanlagen sind eine Augenweide.

Tamara Helck in Russland mit Freunden – August 2025 / © Tamara Helck

Wie beurteilen Sie die soziale Lage der Russen, die Einkommen, die Preise für den täglichen Bedarf, die Infrastruktur und die Dienstleistungen?

Ich habe für eine gründliche Beantwortung dieser Frage keine aktuellen Zahlen für das Land. Deshalb kann ich nur die Eindrücke von meiner Reise wiedergeben. Es gibt sicherlich große Unterschiede zwischen Städten und dem weiten Land. Die „soziale Lage“ kann ich nur danach beurteilen, wie die Menschen gekleidet sind und wie meine Freunde in den großen Städten leben und meine Verwandten in ihrem Dorf. Nach meiner Beurteilung hungert niemand.

Die Löhne und Gehälter unterliegen ebenfalls großen Schwankungen zwischen Stadt und Land. Der Mann meiner Cousine verdient ungefähr 800 Euro im Monat. Er ist Traktorist in einem landwirtschaftlichen Betrieb, der sich früher Kolchose nannte. Das ist nicht viel, dafür kostet ein Liter Benzin vergleichsweise nur ca. 50 Cent, ein Kilogramm Kartoffeln habe ich im Supermarkt für 30 Cent gesehen, Für Strom und Gas zahlt mein Cousin umgerechnet um die 10 Euro im Monat. Die Zugfahrt zwischen Orenburg und Moskau kostet ca. 50 Euro. Das ist eine Strecke von ca. 1.500 Kilometer und dauert 21 Stunden.

Zur Infrastruktur kann ich sagen, dass ich ein intaktes Straßen- und Autobahnnetz zwischen den großen Städten erlebt habe, neue und elektrifizierte Bahntrassen über Hunderte von Kilometern. In den alten Mietshäusern aus der Sowjetzeit, Chruschtschowkas genannt, möchten die Menschen zunehmend nicht mehr leben. Am Beispiel Orenburg kann ich sagen, dass völlig neue Wohnviertel entstehen, mit einer funktionierenden Infrastruktur. In dem 900-Seelen-Dorf meiner Verwandten ist kürzlich eine moderne Krankenstation errichtet worden, und in der mittelgroßen Stadt Wotkinsk, im Landkreis Ishewsk mit ca. 90.000 Einwohnern, gibt es eine moderne neue Mehrzwecksporthalle.

Wo und wie begegnete Ihnen der Krieg in der Ukraine? Sprachen Sie mit Soldaten auf Heimaturlaub, Verletzten, Angehörigen von Soldaten?

Wie ich schon eingangs gesagt habe, merkt man den Krieg nicht tatsächlich. Ich habe ein normales Leben erlebt, wie immer. Lediglich auf den großen Plakaten, die man immer wieder sieht, werden Männer aufgefordert, sich freiwillig für den Kriegsdienst zu melden. Ich hatte keine Gelegenheit, mit Soldaten zu sprechen. Allerdings habe ich bei einer Gelegenheit auf dem Friedhof in „meinem“ Dorf am Grab eines gefallenen Soldaten erzählt bekommen, dass der Bruder der Gefallenen sich nunmehr ebenfalls freiwillig gemeldet hat, er wolle ihn rächen. Die armen Eltern, habe ich gedacht, hoffentlich kommt er gesund nach Hause zurück.

Ist die Stimmung so, dass man noch Jahre weiter Krieg führen kann, oder ist die Stimmung so, dass der Krieg so schnell wie möglich aufhören muss?

Natürlich habe ich auch vereinzelt mit Menschen gesprochen, die diesen Krieg als einen Fehler seitens Russlands sehen. Aber die überwiegende Mehrheit wünscht sich ein rasches Kriegsende, zumal der Tod junger Soldaten großes Mitleid hervorruft. Gleichzeitig habe ich Stimmen gehört, die sinngemäß sagen, dass der Krieg zu Ende geführt werden müsse, weil es sonst kein Russland mehr geben würde. Sie sprechen von den Begehrlichkeiten des Westens nach den riesigen Bodenschätzen des Landes.

Gab es neue Anschaffungen, welche aufgrund des Solds möglich waren?

Diese Frage kann ich nur vom Hörensagen beantworten. Die Antwort lautete, dass es etliche Soldaten gibt, die der Meinung sind, dass der hohe Sold ihnen ermöglicht, größere Anschaffungen zu finanzieren, z.B. eine Eigentumswohnung.

© Tamara Helck

Wie wirkt sich der Krieg auf Kinder und Jugendliche aus?

Die Kinder und Jugendlichen, die ich kenne, interessieren sich nicht für den Krieg. Er findet für sie nur im Fernsehen statt. Ich denke, dass die Eltern ihre Sorgen von den Kindern fernhalten. Was anderes ist es natürlich, wenn im nahen Freundes- und Verwandtenkreis jemand umgekommen oder verletzt worden ist. Glücklicherweise ist in meiner Umgebung so ein Fall noch nicht aufgetreten.

Spürten Sie, dass sich in Russland ein neues Nationalgefühl entwickelt, dass sich das Land politisch konsolidiert und dass der Staatsführer Hoffnung spendet?

Ich habe den Eindruck, dass man in Russland ein, sagen wir mal, gesundes Nationalbewusstsein hat. Es richtet sich nicht gegen andere Nationalitäten. Natürlich sieht man, dass die Staatsführung bestrebt ist, ein noch stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. Dies gelingt ihr nach meinem Eindruck. Die Menschen sind überwiegend zufrieden mit ihrem Land, ihrem Leben und ihrer Regierung.

Was hält die sehr unterschiedlichen Regionen zusammen in einem Staat? Wie reden die Menschen über Moskau, wo es alles gibt, und den „reichen“ Westen?

Die Moskauer sind nach meiner Beobachtung froh, dass sie dort leben, weil die Stadt ihnen viel bietet. Die Menschen in der Provinz sehen diesen Vorteil auch, sagen aber, dass ihnen Moskau zu laut und zu stressig ist, dass sie froh sind, wenn sie nach einem Besuch dort wieder in ihre Provinz zurückkehren können. Was den Westen angeht, so würden sie diesen schon gerne wieder bereisen – so, wie sie es vor dem Krieg getan haben. Es bleibt zu hoffen, dass die Beschränkungen bald wieder aufgehoben werden, der Krieg beendet wird.

Ich habe als Journalist seit 2022 das Problem, offene Gespräche über den Krieg und Alltagsprobleme zu führen. Es gibt eine bestimmte Angst, dass man missverstanden oder verpetzt wird.

Mein Glück ist, dass ich meine Freunde schon viele Jahre kenne. Es hat sich ein Vertrauensverhältnis gebildet. Deshalb sprechen sie mir gegenüber offen ihre Meinung aus. Das gilt natürlich insbesondere für meine Verwandten. Es ist mehr als verständlich, dass gegenüber einem Journalisten aus dem inzwischen feindlichen Ausland das Herz nicht auf der Zunge liegt.

© Tamara Helck

Wenn Sie Menschen in Deutschland von Ihren Eindrücken und Erlebnissen erzählen, stoßen sie auf Interesse, Desinteresse, Ablehnung oder Unglauben?

Es ist unterschiedlich. Ich wurde gelegentlich gefragt, ob man überhaupt nach Russland reisen könne und ob man ein Visum bekommen könne. Wenn ich dann erzähle, dass wir unser elektronisches Visum nach drei Tagen erhalten haben, ist das Erstaunen groß. Häufig folgt dann eine interessierte Frage nach der anderen. Ich habe aber auch schon erlebt, dass ein betretenes Schweigen folgt. Es ist wohl das Unverständnis, wie man in heutigen Zeiten überhaupt nach Russland reisen kann. Wenn ich nicht auf Ablehnung stoße, erzähle ich gerne von meinen positiven Eindrücken. Ich betrachte dies als das Bilden einer Gegenöffentlichkeit.

Was sind die größten Vorurteile der Menschen in Deutschland über Russland?

Ich glaube, dass die größten Vorurteile auf purem Unwissen basieren, nämlich, dass die Russen noch „hinter dem Mond“ leben, grob sind, Wodka „saufen“ und mit ihnen „nicht gut Kirschen essen“ sei. Eine Bekannte war mal sehr erstaunt, als ich ihr erzählte, dass man per Direktflug von jeder Großstadt in Deutschland in ca. vier Stunden in Moskau sein könne. Das war natürlich noch in der Zeit, als es freien Flug- und sonstigen Verkehr zwischen Russland und westlichen Ländern gab. Ihre Antwort zeigte mir, dass für sie der Eindruck bestand, dass Russland ein ganz weit entferntes Land war. Sehr schade eigentlich. Offenbar ist New York näher in der Empfindung, und zwar nicht nur in der Entfernung.

Gibt es bei den Vorurteilen und dem Nichtwissen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen, Deutschen und Migranten/Flüchtlingen?

Nach meinem Eindruck tut sich mittlerweile ein großer Unterschied zwischen den Menschen in den neuen Bundesländern und denen in der alten Bundesrepublik auf. In der DDR hatte man häufig freundschaftlichen Kontakt zu sowjetischen Soldaten, in der Schule wurde die russische Sprache gelehrt und man bereiste gegenseitig Russland bzw. die DDR. Das nannte man Völkerverständigung, und die hat dazu geführt, dass die derzeitige negative Berichterstattung über Russland im Osten Deutschlands zu Widerspruch führt, während im Westen aus purer Unwissenheit diese leider auf fruchtbaren Boden fällt. Wie Migranten und Flüchtlinge denken, das ist mir nicht bekannt.

Sie wurden in Deutschland geboren, aber Sie haben Eltern aus der Ukraine und Russland. Was bedeutete das für Ihr Leben als deutsche Staatsbürgerin?

Glücklicherweise habe ich nie irgendwie Nachteile erlebt, vielleicht weil ich blond und hellhäutig bin und Deutsch, neben Russisch, meine Muttersprache ist. Meine Eltern haben aber in Deutschland nie eine zweite Heimat gefunden. Insbesondere mein Vater hat stets darauf geachtet, mir seine Heimat nahezubringen, hat mich als Schulkind damit „getriezt“, russische Grammatik und Literatur zu lernen. Heute bin ich ihm natürlich dankbar dafür. Ich erlebe, welchen Schatz mir mein Elternhaus mitgegeben hat.

Wie integrierten sich ihre Eltern nach 1945 in Westdeutschland?

Meine Eltern haben sich nur teilweise in der Bundesrepublik Deutschland integriert. Sie bewegten sich vorwiegend in Kreisen der Menschen, die ebenfalls aus der Sowjetunion kriegsbedingt hier gestrandet waren. Aber es gab vereinzelt auch nette Kontakte, die aus Kollegenkreisen oder der Nachbarschaft entstanden. Aber als richtig integriert würde ich meine Eltern nicht bezeichnen. Sie unterhielten über Jahrzehnte regelmäßigen Briefkontakt zu ihren Verwandten in der Sowjetunion. Mein Vater hörte viel einen sowjetischen Radiosender, den man über Langwelle empfangen konnte. Mir klingt noch heute die Ankündigung des Programms im Ohr: „goworit Moskwa“, auf Deutsch: „Hier spricht Moskau“.

Wollten die westlichen Besatzungsmächte in Westdeutschland die gestrandeten Sowjetbürger nicht eigentlich alle abschieben?

Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs war von den Siegermächten vorgesehen gewesen, dass die vielen gestrandeten Menschen aus ganz Europa wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Das gelang auch gut. Meine Mutter hätte problemlos in die Sowjetunion zurückkehren können. Sie hatte allerdings schon kurz nach Beendigung des Krieges meinen Vater kennengelernt und blieb seinetwegen hier. Bei meinem Vater lag der Fall anders. Er hatte in der sowjetischen Armee die Funktion eines politischen Kommissars. Laut einem Befehl Stalins betrachtete man die in Kriegsgefangenschaft geratenen eigenen Soldaten als Verräter. Sie hatten nach der geltenden Auffassung nicht gut genug gekämpft, sonst wären sie nicht in deutsche Hände gefallen. Deshalb wurden solche zurückgekehrten Militärangehörigen entweder direkt nach ihrer Rückkehr erschossen oder für Jahrzehnte nach Sibirien verbannt.

Den westlichen Alliierten war diese Vorgehensweise bekannt, weshalb sie Personen wie meinem Vater Papiere ausstellten, auf denen ein Geburtsort außerhalb der Sowjetunion eingetragen wurde. Im Fall meines Vaters war dies Rowno in Polen.

Wie lernten ihre Eltern Deutsch?

Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg keine Sprachkurse, so wie sie heute Flüchtlingen angeboten werden. Die Menschen lernten mit der Zeit die deutsche Sprache in ihrem Alltag. So ist es auch bei meinen Eltern gewesen. Ich erinnere mich allerdings daran, dass ich, als ich aus dem Kindesalter herausgewachsen war, zunehmend dazu herangezogen wurde, ihnen zum Beispiel bei Behördenkorrespondenz zu helfen. Wahrscheinlich musste ich genau solche Aufgaben übernehmen, wie es heute die Kinder von Arbeitsmigranten tun.

Wie haben ihre Eltern in Westdeutschland Geld verdient?

Nach dem Krieg war es glücklicherweise kein Problem gewesen, sich beruflich zu integrieren. Meine Mutter arbeitete sehr schnell in einem städtischen Kindergarten, ohne dass sie dies zu Hause gelernt hatte. Schließlich ist sie als 16-Jährige von deutschen Wehrmachtssoldaten als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine von der Straße weg verschleppt worden. Sie und ihresgleichen wurden in einem Güterwaggon in einer zweiwöchigen Fahrt nach Deutschland gebracht – im Fall meiner Mutter nach Salzgitter in ein Munitionswerk.

Mein Vater arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Arbeiter in einer Erdölraffinerie in Hannover.

Sind ihre Eltern jemals in die Sowjetunion oder in einen der Nachfolgestaaten gefahren?

Mein Vater ist aus den genannten Gründen nie in die Sowjetunion gefahren. Er wäre sofort verhaftet worden, denn Stalins „Kommissarbefehl“ war noch viele Jahre in Kraft, bis er aufgehoben wurde. Später dann fühlte sich mein Vater gesundheitlich nicht mehr in der Lage, den emotionalen Stress so einer Reise zu verkraften. Meine Mutter besuchte jedoch mehrmals ihre Mutter und Geschwister in der Ukraine. Fast immer begleitete ich sie dabei. Bei unserer ersten Reise in den Sechzigerjahren war so eine private Reise aus der Bundesrepublik in die Sowjetunion eine Sensation. Deshalb bekamen meine Eltern auch Besuch vom deutschen Verfassungsschutz, der über die Korrespondenz meiner Eltern mit der sowjetischen Botschaft in Bonn genauestens Bescheid wusste. Sie machten auch kein Geheimnis daraus, dass sie den gesamten Briefwechsel abgefangen hatten. Er lag während des Gesprächs meiner Eltern mit dem Verfassungsschutzbeamten vor ihnen auf dem Küchentisch.

Fühlen Sie sich in Russland heimisch?

Ich fühle mich sehr zu Russland hingezogen und merke ganz klar, dass ich dort meine Wurzeln habe. Glücklicherweise haben meine Eltern mit mir zu Hause stets Russisch gesprochen, weshalb ich komplett zweisprachig aufgewachsen bin. Das hilft mir, mich in Russland ohne jegliche Sprachbarrieren zu bewegen. Darüber bin ich sehr froh. Ich habe sozusagen zwei Heimaten in meinem Herzen.

Haben sie nach Ihrer Russland-Reise in diesem Jahr neue Pläne geschmiedet?

Russland ist so groß und es ist ein so schönes Land zum Bereisen. Ich bin noch nie in Sibirien gewesen, noch nie auf der Halbinsel Kamtschatka im russischen Fernen Osten. Dort hinzufahren habe ich mir für die nahe Zukunft fest vorgenommen.


Zur Person

Tamara Helck ist gelernte Bankkauffrau. Sie wurde in den 1950er-Jahren in Hannover geboren. Seit 15 Jahren arbeitet sie für Kliniken im Raum Düsseldorf bei der Betreuung russischsprachiger Patienten aus Russland und der Ukraine.

Als junge Frau war sie aktiv bei den Jungsozialisten. Sie lebte mehrere Jahre in Paris, Mexiko und Brasilien. Nach der Rückkehr Mitgliedschaft in der Partei Die Linke, zeitweise friedenspolitische Sprecherin im Landesvorstand NRW. Heute leitet sie den Gesprächskreis der NachDenkSeiten in Düsseldorf.

Titelbild: Tamara Helck in Russland mit Freunden – August 2015 / © Tamara Helck


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