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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: „Die haben keine Ahnung von dem, was journalistisches Handwerk eigentlich bedeutet“
Datum: 11. November 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Interviews, Medien und Medienanalyse, Medienkritik
Verantwortlich: Redaktion
Woher wissen wir als Mediennutzer überhaupt, was es heißt, wenn Medien von „vor Ort“ berichten? Was heißt es, wenn eine Auslandskorrespondentin über den Iran berichtet – aber in der Türkei sitzt? Der Journalist und Autor Emran Feroz fokussiert in seinem neuen Buch „Wir wollen leben! Von Afghanistan bis Gaza – ein Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg“ auf die Entwicklungen in Gaza, aber auch in anderen Krisengebieten. Dabei hinterfragt er auch das, was den Mediennutzern in Deutschland als „Auslandsberichterstattung“ vorgesetzt wird. Im NachDenkSeiten-Interview sagt der Spiegel-Bestsellerautor, kritische Berichterstatter würden schnell als „Hamas-Versteher“ oder „Putin-Apologet“ abgestempelt werden. „Ich habe meist den Eindruck, dass echte Expertise unerwünscht sei. Stattdessen braucht man Pseudoexperten, die einfach nur nachplappern, was manche gerade hören wollen, um etwa Stimmung zu machen oder irgendwelche neuen Bombardements zu rechtfertigen“, so Feroz. Von Marcus Klöckner.
„Ich habe vor allem Hoffnung in meinen Berufsstand, den Journalismus, verloren.“
Dieser Satz findet sich im Vorwort Ihres neuen Buches. Was ist der Grund dafür?
Es ist vor allem weiterhin die Situation in Gaza, die mich pessimistisch stimmt. In den letzten zwei Jahren wurde während des dort laufenden Genozids deutlich, dass weite Teile der deutschen sowie deutschsprachigen Medienlandschaft, aber auch viele renommierte internationale Medien der dortigen Situation nicht gerecht werden konnten. Sie wurden zu Stenografen der israelischen Armee sowie der Regierung Netanjahus. Sie entmenschlichten palästinensische Frauen, Kinder und auch Männer. Vieles davon hat mit einem narzisstisch-eurozentristischen Weltbild zu tun, doch in vielen Fällen wurden auch einfach klar: Die haben keine Ahnung von dem, was journalistisches Handwerk eigentlich bedeutet.
Gehört das Messen mit zweierlei Maß im Journalismus nicht längst so zur gelebten Praxis, wie es auch in der Politik anzutreffen ist? „Wir“, also: die „Guten“, machen einfach immer das Richtige. Völkerrechtswidrige Angriffskriege, Regime-Change-Operationen vonseiten der Guten: Für viele Journalisten überhaupt gar kein Problem.
Ja, das stimmt. Vor allem der „War on Terror“ der letzten zwanzig Jahre machte dies deutlich. Deshalb kam es auch zu vielen Fehleinschätzungen. Aber ganz aktuell müssen wir wieder auf Gaza und die Ukraine blicken: Tote Journalisten in der Ukraine führen immer wieder zu großen Empörungswellen in westlichen Redaktionen. Doch der größte Massenmord an Journalisten fand in den letzten zwei Jahren in Gaza statt und der Täter war nicht Putin, sondern das Netanjahu-Regime. Es gibt bis heute kaum Solidarität mit diesen getöteten Journalisten, die meist gezielt ermordet wurden. Stattdessen wirft man viele von ihnen weiterhin ohne jegliche Beweise mit der Hamas in einem Topf und beschuldigt sie, bewaffnete Kämpfer gewesen zu sein. Diese Empathielosigkeit, die wieder einmal besonders stark in den deutschen Redaktionen zu spüren war und weiterhin ist, macht mich manchmal fassungslos.
In großen Medien wird oft der Eindruck erweckt, die Auslandskorrespondenten, die über einen Krieg im Nahen Osten usw. berichteten, seien auch direkt vor Ort. Wie sieht die Realität aus?
Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass viele in Büros sitzen – weit weg vom eigentlichen Geschehen. Da sitzt dann jemand in Istanbul und erklärt dir, was im Iran passiert. Oder es ist jemand in Amman, Tel Aviv oder Neu-Delhi und erklärt dem Publikum dann, was im Gazastreifen oder in Kabul passiert. Ich empfinde das manchmal als ziemlich dreist. Wie würden sich denn hierzulande die Menschen fühlen, wenn jemand, der in London oder Paris sitzt, plötzlich über die Lage in Deutschland spricht?
Aber auch hier hat man vor allem in Sachen Gaza wieder eine gute Ausrede parat: Wir müssen das tun, weil die israelische Armee niemanden in Gaza reinlässt. Ja, das stimmt. Dann sollte man vielleicht einmal mehr Druck machen, damit man hinein kann, anstatt die Propaganda der Armee zu verbreiten. Und damit meine ich wirklich die Medien in Deutschland im Kollektiv. Aber so etwas passiert einfach nicht. Stattdessen schafft man es sogar, getötete Mitarbeiter nach deren Ermordung zu diffamieren und sich von ihnen und ihren Studios zu „distanzieren“.
Genau das hat das ZDF in dieser Woche getan, nachdem ein externer palästinensischer Mitarbeiter durch einen Luftangriff in Gaza getötet wurde. Es heißt nun, dass der Mann Hamas-Mitglied gewesen sei. Wieso? Die israelische Armee hätte es mit Dokumenten bewiesen. Jene Armee, die seit zwei Jahren gezielt Jagd auf Journalisten macht und für ihre Lügen bekannt ist. Das weiß mittlerweile so ziemlich jeder internationale Akteur, der vor Ort präsent ist. Die Armee hat bekannte Journalisten, die nichts mit der Hamas zu tun hatten, getötet. Sie leugnet bis heute das Aushungern der Bevölkerung, obwohl jeder weiß, dass Gegenteiliges der Fall war. Es gibt noch viele zahlreiche Punkte, die man nennen könnte.
Doch ich frage mich, was das überhaupt in diesem Deutschland, das in vielerlei Hinsicht einfach ignorant und provinziell geworden ist, noch bringt. Alle Quellen, die Gegenteiliges behaupten, lassen sich meist kurz und knapp auf Netanjahu und Trump herunterbrechen. Man tut hier so, als ob man diese beiden Männer (allen voran Trump) besonders schlimm finde, aber das ist mitnichten der Fall. Das Narrativ dieser beiden Extremisten und Psychopathen ist in den deutschsprachigen Medien in Sachen Nahost und Gaza dominant. Dazu gibt es mittlerweile auch empirische Studien, die das belegen.
Aber das Problem geht noch weiter. Selbst wenn ein Auslandskorrespondent tatsächlich direkt „vor Ort“ ist und das vonseiten des Senders auch noch ausdrücklich betont wird: Was bedeutet das tatsächlich?
Das Problem ist ja vor allem, dass den Medienkonsumenten selten bis gar nicht erklärt wird, was „vor Ort“ eigentlich bedeutet, sondern dies meist einfach in der Live-Schalte zu lesen ist. Man kennt das ja, wenn man liest „aus Bagdad“, „aus Tel Aviv“ oder „aus Kabul“. Um bei Kabul, das ich sehr gut kenne, zu bleiben: Dort hieß „vor Ort“ meist „aus der Green Zone“. So wurde jener Bereich genannt, der von den US-Truppen und ihren NATO-Verbündeten abgesichert worden war. Das waren dann vor allem zwei Stadtteile in Kabul – und die waren nicht einmal repräsentativ für die Hauptstadt, geschweige denn für das ganze Land.
Dann gab es noch jene, die „embedded“ mit den Truppen unterwegs waren. Das war zum Beispiel auch bei Korrespondenten des ÖRR der Fall, die sich mit der Bundeswehr bewegten. In vielen dieser Situationen wurde kaum mit Einheimischen gesprochen. Es gab stets Kontrolle und Überwachung und auch eine herablassende Behandlung, wie ich bis heute von afghanischen Ortskräften und Helfern der Bundeswehr höre, zuletzt etwa nach einer Lesung in Frankfurt.
Natürlich gibt es auch viele mutige und kritische Journalisten, die sich oft eigenständig in Gefahr begeben und letzten Endes auch in der Lage sind, die Realitäten vor Ort reflektiert darzustellen. Aber diese Menschen sieht man meist wenig. Es sind oft die etwas schrillen, vermeintlich allwissenden „Experten“, die regelmäßig hofiert werden und zu Wort kommen. Und die haben, wenn sie mal überhaupt vor Ort waren, meist mehr Zeit in ihren sicheren Hotelzimmern oder in der jeweiligen „Expat-Bubble“ verbracht als auf den eigentlichen Straßen des Landes.
Sie selbst waren oder sind oft im Ausland. Wie ist es dann bei Ihnen? Sind Sie auch „embedded“?
Nein, ich war noch nie mit irgendwelchen Soldaten unterwegs. Mir geht es immer darum, unter den einfachen Menschen zu sein. Ich reise wie sie, esse wie sie, spreche wie sie. Letzteres bedeutet übrigens nicht, dass man immer die lokalen Sprachen beherrschen muss. Vielmehr geht es darum, einen authentischen Einblick zu gewinnen – und ich denke, dass das nur so geht. Mit Zeit, Aufwand und auch Risiken. Umso mehr wundert es mich, wenn privilegierte Berichterstatter, die nichts davon tun, auf besonders „exklusiv“ machen. Gestern fiel mir auf, dass Kathrin Eigendorf sich gerade in Afghanistan befindet …
Aktuell ist immer mal wieder ein Vorwurf zu hören, wenn es um Personen geht, die im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine nicht bedingungslos der westlichen Erzählung folgen, sondern perspektivieren und auch der russischen Sicht Raum verschaffen. Der Vorwurf lautet: Diese Leute würden weder Russisch noch Ukrainisch sprechen. Nun gehen Sie in Ihrem Buch auf eine ZDF-Korrespondentin ein, die – wie Sie schreiben – „gleich mehrere Teile der Welt abdeckt“, nämlich: Iran, Afghanistan, Israel, Palästina, die Ukraine Irak. Sie schreiben: „Wir sprechen hier von Persisch, Paschtu, Hebräisch, Arabisch, Russisch, Ukrainisch.“ Da sind dann aber plötzlich keine Vorwürfe zu hören, es fehle an den Sprachkenntnissen. Sind wir damit wieder bei dem „double standard“?
Gut, dass Sie Eigendorf nun selbst erwähnen. Ich denke, man sollte ruhig Namen nennen dürfen. Es geht hier immerhin um konstruktive Kritik und Medienkonsumenten sollten auch wissen, womit sie es zu tun haben und was gegebenenfalls alles falsch läuft.
Natürlich ist es ein Problem, dass viele dieser Journalisten auch kein Russisch oder Ukrainisch können. Wissen Sie, wer das gut kann? Ein guter Freund von mir, ein Afghane, der dort lange gelebt hat. Er würde wahrscheinlich bessere Stücke produzieren als viele, die sich mit der Ukraine einen Namen gemacht haben. Ich kenne einen englischsprachigen Journalisten, der mit Google Translate und ohne jegliches Vorwissen 2022 in die Ukraine stürzte. Mittlerweile ist er sehr bekannt und gilt als „Experte“, doch seine damalige Inszenierung nervte auch viele Ukrainer. Das gilt auch für andere Regionen.
Schauen Sie sich doch mal an, was Eigendorf gerade aus Afghanistan abliefert. Das sieht man alles auf Instagram und ich frage mich wirklich, was das überhaupt noch mit Journalismus zu tun hat. Es gibt mittlerweile auch schon viel Kritik, aber die hilft nicht, denn die Hierarchien sind nicht so leicht zu überwinden. Diese Leute bekommen dennoch ihre Plätze in den Talkshows, in den Feuilletons usw. Sie dominieren mit ihrer Inszenierung und ihrem Nichtwissen den Diskurs.
Wie nehmen Sie die Auslandsberichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender wahr?
Es gibt auch einige tolle Kollegen, die wichtige Arbeit leisten und ausgeglichen berichten. Aber die werden dann diffamiert. Das betrifft etwa vor allem jene, die aus Nahost berichten, aber auch den ein oder anderen aus der Ukraine. Da steckt viel System dahinter. Es gibt viele Dogmen. Man wird dann gleich als Hamas-Versteher oder Putin-Apologet abgestempelt. Ich habe meist den Eindruck, dass echte Expertise unerwünscht sei. Stattdessen braucht man Pseudoexperten, die einfach nur nachplappern, was manche gerade hören wollen, um etwa Stimmung zu machen oder irgendwelche neuen Bombardements zu rechtfertigen. Im Großen und Ganzen lässt sich mit Blick auf die letzten zwanzig Jahre allerdings sagen: Der ÖRR holt einen gewiss nicht ab, wenn man über die Lage der Welt informiert sein will. Deshalb wachsen auch so viele andere Medien und deshalb wird auch vieles aus dem Ausland konsumiert.
Patrik Baab und Flo Osrainik gehören zu jenen deutschen Journalisten, die die „andere“ Seite im Ukraine-Krieg besucht haben. Baab war daraufhin Vorwürfen ausgesetzt, nach dem Motto: Wie kann ein Journalist es wagen, zum „Feind“ zu gehen? Warum hat der „Journalismus“ unserer Zeit ein Problem mit Objektivität? Warum können manche Journalisten es nicht ertragen, dass Kollegen von ihnen von offiziellen Narrativen abweichen, beim Feindbilddenken nicht mitmachen und keine Probleme damit haben, mit allen Seiten eines Konflikts zu reden?
Ich denke, da gibt es viele Dogmen und vor allem Eurozentrismus. Das ist vor allem ein deutsches Problem. Warum? Weil die meisten Journalisten hierzulande einen ähnlichen bildungsbürgerlichen Hintergrund haben und aus den hiesigen Journalismus-Schulen kommen, wo allesamt dieselben Dozenten mit den ebenso gleichen Hintergründen unterrichten. Man hat hier eine krasse Blase geschaffen, die viele Realitäten einfach nicht abbilden kann und will – und zwar in jeder Hinsicht.
Auf internationaler Ebene ist das anders und zum Glück dreht sich die Welt nicht um Deutschland. Das wurde in den letzten zwei Jahren immer deutlicher. Und die Welt dreht sich übrigens auch nicht um Europa. Schockierend ist dennoch, wie wenig „objektiv“ jene sind, die dies von anderen stets einfordern. Auch das sieht man in Gaza oder in Afghanistan und anderswo.
Was bedeutet das, worüber wir sprechen, nun für von Kriegen betroffene Länder und Menschen? Aber auch: Was bedeutet es für die westlichen Bevölkerungen? Was bedeutet es für das Realitätsverständnis der Menschen hier, wenn der Journalismus immer wieder Verrat an seinen eigenen Werten betreibt?
Abstumpfung ist sehr omnipräsent. Außerdem nehmen immer weniger Menschen die etablierten Medien überhaupt noch ernst, vor allem junge. Und dann wundert man sich, dass plötzlich alle irgendwelchen Extremisten jeglicher Couleur auf TikTok und Co. hinterherjagen. Das ist in der Tat bedauerlich. Aber es würde nicht passieren, wenn jene Medien, die teils mit Millionen subventioniert werden, ihre Arbeit richtig machen würden.
Was meinen Sie: Würde man in Deutschland unter eifrigen Nutzern der Medien eine Umfrage machen und fragen, wer Noor Jaan kennt, wie würde da das Ergebnis ausfallen?
Warum sollte jemand hier Noor Jaan, der durch den Luftangriff von Kunduz im Jahr 2009 entstellt wurde, kennen? Es ist bedauerlich, dass die meisten Menschen im Land so wenig über die Opfer dieses deutschen Kriegsverbrechens, befehligt durch den damaligen Oberst Klein, wissen. Klein wurde 2012 zum General befördert, während seine Opfer vergessen und verdrängt wurden. Dementsprechend würde auch das Ergebnis einer solchen Umfrage ausfallen.
Wir kommen immer wieder auf ein Messen mit zweierlei Maß zurück. Aus Ihrer Perspektive, Ihren Erfahrungen: Was können Sie Mediennutzern raten, die nicht der Propaganda und der Manipulation auf den Leim gehen wollen?
Es gibt mittlerweile viele kluge Journalisten, die sich von dem Ganzen entkoppelt haben und ihr eigenes Ding machen, auf Deutsch, aber vor allem auch auf Englisch. Man sollte deren Kanäle abonnieren und ihre unabhängige Arbeit fördern. Etablierte Medien sollten weiterhin konsumiert werden – allerdings immer mit gerechtfertigter Skepsis. In den letzten Jahren sind einfach viel zu viele „Fehler“ passiert. Doch wer wirklich informiert sein will und nicht permanent der dauerhaften Entmenschlichung schwarzer oder brauner Menschenleben ausgeliefert sein will, muss sich leider von den meisten deutschen Medien verabschieden.
Lesetipp
Emran Feroz: Wir wollen leben!: Von Afghanistan bis Gaza – ein Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg, Westend, 13. Oktober 2025, 96 Seiten, 12 Euro
Titelbild: © Westend Verlag/Privat
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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