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Titel: „Die Regierung darf ihr Zensursystem nicht an NGOs auslagern“

Datum: 27. November 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Interviews, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Strategien der Meinungsmache
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In der vergangenen Woche hat die gemeinnützige Initiative liber-net ihren neuen BerichtDas Zensurnetzwerk: Regulierung und Repression im heutigen Deutschland“ über die deutliche Ausweitung staatlicher und privatwirtschaftlicher Eingriffe in die digitale Informationsfreiheit in Deutschland in den letzten Jahren veröffentlicht und bei Veranstaltungen in Brüssel und Berlin vorgestellt. In einem Bericht und einer ausführlichen Datenbank dokumentiert sie, wie in den vergangenen Jahren ein immer dichteres Geflecht aus Organisationen, Projekten, Maßnahmen und technischen Instrumenten zur Abwehr sogenannter Desinformation und Hassrede entstanden ist. Strukturelle Veränderungen, die im Ergebnis laut liber-net den öffentlichen Debattenraum in Deutschland zunehmend verengt haben. Zu dem Bericht und seinen Erkenntnissen über die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland hat Maike Gosch mit dem Geschäftsführer von liber-net, Andrew Lowenthal, ein ausführliches Gespräch geführt.

Hinweis in eigener Sache: Die Autorin hat im Sommer 2025 an Recherchen und Übersetzungen für den genannten Bericht und die Datenbank mitgewirkt. NDS-Redakteur Florian Warweg hat die Veranstaltung in Berlin moderiert.

Laut liber-net beläuft sich die staatliche Förderung für sogenannte Inhaltskontrollen oder -moderationen in Deutschland zwischen 2016 und 2025 auf rund 105,6 Mio. Euro. Der Bericht und die Datenbank legen dar, dass in Deutschland mehr als 330 staatliche Stellen, NGOs, wissenschaftliche Zentren, Thinktanks, Stiftungen und Netzwerke an der sogenannten Inhaltskontrolle beteiligt sind. Zudem dokumentiert liber-net über 420 öffentliche und private Zuschüsse und Fördermittel, die für diese Art von Inhaltskontrollen vergeben wurden. Liber-net warnt davor, dass dieses gesamte Netzwerk zunehmend ein Klima erzeugt, das die freie Meinungsäußerung bedroht. Aber wie lässt sich die Wahrung der Meinungsfreiheit mit legitimen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Netz vereinbaren? Hierzu sprechen wir mit Andrew Lowenthal im Interview:

Maike Gosch: Liebe Andrew Lowenthal, warum haben Sie und liber-net sich – nach den Untersuchungen zu den Twitter-Files, an denen Sie ja auch beteiligt waren, und der Westminster-Erklärung zur Meinungsfreiheit – dazu entschlossen, die Organisationen, Projekte und Förderungen zu Inhaltskontrolle im Internet in Deutschland zu untersuchen?

Andrew Lowenthal: Unser Bericht beschäftigt sich mit den Organisationen, der Ideologie und den Ursprüngen des deutschen Systems digitaler Inhaltskontrollen. Wir haben ihn erstellt, weil wir uns große Sorgen um den Zustand der Meinungsfreiheit im Westen machen und die Vermutung hatten, dass Deutschland eines der Länder ist, in dem die Meinungsfreiheit besonders bedroht ist. Wegen Deutschlands Rolle als industrieller Motor Europas und als größtes und mächtigstes Land im Block hat alles, was in Deutschland passiert, Auswirkungen auf den Rest Europas und darüber hinaus auf den Westen insgesamt.

Da der Bericht und die Datenbank versuchen, Finanzierungen und auch die Personen hinter dem von Ihnen als „Zensurnetzwerk“ bezeichneten Geflecht nachzuverfolgen, können Sie unseren Leserinnen und Lesern etwas über Ihre eigene Organisation liber-net sagen? Wer steckt dahinter, wer finanziert Sie?

Liber-net ist eine in den USA registrierte gemeinnützige Organisation nach Paragraph 501c3. Unser Schwerpunkt liegt auf dem, was wir digitale Bürgerrechte nennen, besonders auf Fragen von Meinungsfreiheit und Zensur. Wir haben eine Reihe von Unterstützern aus dem gesamten politischen Spektrum, die alle ein großes Interesse an Fragen der Meinungsfreiheit haben. Unser größter Geldgeber ist Mark Gorton, der das MAHA Institute leitet, eine Initiative, die die Gesundheits- und Wissenschaftspolitik in den USA verändern möchte.

Welche Methode haben Sie in diesem Projekt angewandt und wie sollten der Bericht und insbesondere die Datenbank aus Ihrer Sicht genutzt werden?

Wir haben im Grunde nach allen Organisationen gesucht, die in irgendeiner Form mit dem zu tun haben, was wir Inhaltskontrollen nennen, besonders Projekte, die sich der Bekämpfung von Desinformation oder Hassrede widmen. Diese haben wir in einer großen Tabelle erfasst. Dann haben wir Datenbanken nach Fördergeldern durchsucht und dafür eine eigene Datenbank erstellt. Insgesamt haben wir fast 330 Organisationen gefunden, einschließlich Ministerien. Ich erwähne das, weil ich online oft lese, dass die Regierung hierbei nicht beteiligt sei, aber sie gehört auf jeden Fall dazu. Außerdem haben wir mehr als 420 Förderungen dokumentiert.

Dann haben wir die Organisationen nach Kriterien bewertet und ihnen je nach Gefährdungspotenzial für die Meinungsfreiheit zwischen eins und fünf rote Flaggen gegeben, um herauszufinden, wer die problematischsten Akteure sind. Fünf Flaggen gab es für Organisationen, die Inhalte unmittelbar entfernen oder melden oder sich hierfür einsetzen. Eine Flagge stand beispielsweise für kleinere Bildungsinitiativen, die sich nur mit dem Thema Desinformation beschäftigen, aber nicht aktiv Inhalte entfernen lassen. Der Punkt war, das Gesamtbild sichtbar zu machen und zu zeigen, wie groß dieses Feld ist.

Die Idee einer Datenbank statt einzelner Geschichten über einzelne NGOs oder Ministerien entstand, weil es einfach zu viele waren. Wir hoffen, dass wir hiermit eine Grundlage gelegt haben und dass Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivisten die Datenbank nun nutzen, um weiter und tiefer zu recherchieren.

Was hat Sie und Ihr Team am meisten überrascht, als Sie in die Recherche eingestiegen sind?

Dass die Zahl der Organisationen, die wir fanden, einfach immer weiter wuchs. Ursprünglich habe ich mit etwa hundert gerechnet, nicht mit mehr als dreihundert, und ich bin sicher, dass wir noch einige weitere gefunden hätten, wenn wir weitergesucht hätten.

Ein weiterer Punkt ist die sehr offene Zusammenarbeit dieser Organisationen mit der Regierung. In den USA hat der erste Verfassungszusatz dazu geführt, dass die Regierung viele ihrer Beziehungen zu Faktencheckern und Anti-Desinformation-Akteuren verbergen musste, weil aus rechtlichen Gründen nicht erkennbar sein durfte, dass sie „über die Bande“ durch dritte Organisationen Inhalte entfernen ließ. Genau das ist aber passiert.

In Deutschland gibt es zwar auch Schutzmechanismen für Meinungsfreiheit, aber deutlich schwächere als den ersten Zusatzartikel, deshalb erfolgen diese Kooperationen hier sehr offen. Die Regierung ist erstaunlich transparent bei der Finanzierung, und in progressiven zivilgesellschaftlichen Gruppen scheint es kaum jemanden zu stören, dass so viele von ihnen im Grunde Regierungsauftragnehmer sind.

Und dann auch die völlige Ironiefreiheit und die mangelnde Selbstreflexion vieler Projekte. Ein Projekt nannte sich zum Beispiel „Machine against the Rage“ (Maschine gegen Wut), ohne jegliches Bewusstsein dafür, was das eigentlich impliziert.

Was sind Ihre drei wichtigsten Erkenntnisse aus der Recherche über die Verhältnisse in Deutschland?

Erstens, dass viele dieser Anti-Desinformation- und Anti-Hassrede-Projekte im Kern politische Projekte sind, die den „Schutz der Wahrheit“ oder das „Stoppen von Hass“ als Werkzeuge nutzen, um politische Gegner zu bekämpfen.

Zweitens, wie viele NGOs eigentlich quasi staatliche Organisationen sind, also Regierungs-NGOs, und keineswegs unabhängig, obwohl sie genau das behaupten (Anm. d. Übersetzerin: NGO steht für Non Governmental Organisation, also: Nichtregierungsorganisation).

Drittens, wie weit sich die Zivilgesellschaft von ihrem ursprünglichen Auftrag entfernt hat, nämlich Macht zu kontrollieren, und stattdessen mit den Mächtigen zusammenarbeitet, um die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bürger zu überwachen.

Es gibt in diesem Bereich natürlich gutwillige und böswillige Akteure. Wo würden Sie diese Unterscheidung treffen?

Das ist schwierig, denn viele glauben, dass sie etwas Gutes tun, wenn sie das Internet von „falschem Denken“ säubern. Oft sind gerade die leidenschaftlichsten Zensoren davon überzeugt und bemerken nicht, dass ihr Handeln zutiefst politisch ist. Deshalb ist gut oder böse nicht immer die sinnvollste Unterscheidung, weil man schwer in die Köpfe der Leute schauen kann. Wir bewerten daher nach Handlungen. Versuchen sie, wahre oder zumindest debattierbare Inhalte zu entfernen? Haben sie ein Weltbild, in dem Wahrheit etwas ist, das nur eine kleine Elite bestimmen kann, und der Rest der Bevölkerung muss gehorchen? Oder glauben sie, dass wir der Wahrheit näherkommen, indem wir miteinander sprechen, diskutieren und uns austauschen?

Können Sie nachvollziehen, warum staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen und auch Teile der Öffentlichkeit diese Form der „Moderation“ für notwendig halten? Was ist das Narrativ, das diesen immensen Aufwand und die vielen Millionen Euro rechtfertigt? Und wie würden Sie ihnen nach Sichtung Ihrer Daten antworten?

Es gibt viele Inhalte im Netz, die nicht stimmen, und es gibt auch viele unfreundliche oder unangenehme Menschen. Ich glaube aber, dass diese Bedrohung übertrieben dargestellt wurde und politische Akteure die Gesellschaft in eine Art moralische Panik getrieben haben, um Zustimmung zu diesen Eingriffen in die Meinungsfreiheit zu bekommen. Außerdem wird für dieses Problem immer nur eine Lösung angeboten: Unterdrückung. Dabei gäbe es mit moderner Technik viel mehr Möglichkeiten, wie wir uns in diesem digitalen Sumpf orientieren könnten.

Meine Antwort an sie wäre: Auch ihr könntet eines Tages auf der falschen Seite von „Desinformation“ oder „Hassrede“ stehen. Ich glaube, das ist vielen eher linksgerichteten Menschen im Gaza-Krieg klar geworden. Plötzlich richtete sich das System, das zuvor vor allem Corona-Kritiker und „Verschwörungstheoretiker“ traf, gegen sie selbst.

Wie unterscheidet sich die Lage in Deutschland von der Entwicklung in den USA? Wo sind die Bedingungen für die Meinungsfreiheit schlechter?

Das System unter Biden ähnelte sehr stark dem, das heute in Deutschland existiert. Während Trump viele Anti-Desinformation-Projekte abgeschafft hat, bringt er natürlich neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit mit sich, aber seine Eingriffe sind eher offen sichtbar. Das System unter Biden und das aktive System in Deutschland sind hingegen im Hintergrund tätig und weniger transparent. Ich würde sagen, die Lage ist in Deutschland schlechter, weil man hier eine ganze Infrastruktur dafür aufgebaut hat. Die Trump-Regierung hat im Vergleich dazu keinerlei komplexes System geschaffen.

Wie haben Sie den Bericht vorgestellt und wie waren die Reaktionen?

Wir haben ihn am 19. November in Brüssel vorgestellt, gemeinsam mit Thomas Geisel (BSW), Mitglied des Europäischen Parlaments. Ulrike Guérot und Aya Velazquez haben ebenfalls gesprochen. Am Freitag, dem 21. November, fand eine zweite Vorstellung in Berlin statt, die sehr gut besucht war. Die Reaktionen waren deutlich größer als erwartet. Viele Medien haben darüber berichtet und zeitweise war der Bericht sogar auf X im Trend. Ich habe den Eindruck, dass sehr viele Menschen über dieses Thema sprechen wollen. Wenn wir dazu einen Beitrag leisten konnten, freue ich mich sehr darüber.

Es gab natürlich auch Gegenwind und Kritik am Bericht, vor allem nachdem AfD-Politiker und ihnen nahestehende Menschen die Ergebnisse verbreitet haben. Es gab sogar den Vorwurf, Ihre Arbeit werde von Russland finanziert. Ist der Bericht ein parteiisches politisches Projekt? Und wo stehen Sie und liber-net selbst hierbei?

Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen online Anschuldigungen ohne jeden Beleg in den Raum stellen. Nein, wir werden nicht von Russland finanziert.

Wir sind nur parteiisch für Meinungsfreiheit. Und auch wenn die Linke (Anm. d. Übersetzerin: Die politische Richtung, nicht die Partei) in den vergangenen zehn Jahren ziemlich durchgedreht ist, würde ich mich selbst weiterhin der Linken zuordnen, zumindest der Version von vor zehn Jahren. Jede und jeder hat eine eigene Sicht. Unsere ist einfach die klassische Position für Meinungsfreiheit, die in liberalen und progressiven Kreisen früher völlig unstrittig war.

Was empfehlen Sie angesichts Ihrer Erkenntnisse? Was sollte aus Ihrer Sicht getan werden, um die Lage für Meinungsfreiheit in Deutschland zu verbessern?

Erstens, die Zivilgesellschaft muss wieder klar vom Staat getrennt werden. Die Regierung darf ihr Zensursystem nicht an NGOs auslagern, und NGOs dürfen nicht zu Regierungsauftragnehmern werden, besonders nicht im politischen Bereich – es geht hier nicht um die Finanzierung von Suppenküchen.

Zweitens sollten Technologieunternehmen es Nutzern viel leichter machen, selbst zu steuern, was sie sehen wollen, sodass Inhalte nicht immer gleich vollständig entfernt werden müssen.

Drittens sollten Wissenschaft und NGOs ihre gesamten erkenntnistheoretischen Grundannahmen überdenken, die dem Anti-Desinformation-System zugrunde liegen, und zu Modellen übergehen, die Dialog und offene und freie Erkenntnisgewinnung begünstigen. Zumal die gegenwärtigen Modelle nicht einmal funktionieren: Denn sie reduzieren die Polarisierung der Gesellschaft ja gerade nicht, sondern verschärfen sie massiv.

Wie geht Ihre Arbeit nach dieser Veröffentlichung weiter, was sind die nächsten Schritte?

Wir wollen Journalistinnen und Journalisten, politische Entscheidungsträger und Verfechter der freien Rede ermutigen, den Bericht und die Datenbank zu nutzen, weiter zu recherchieren und die Debatte darüber weiter zu führen. Die Reaktionen der vergangenen Woche zeigen, dass das Thema für viele Menschen in Deutschland enorm wichtig ist, wie es auch sein sollte. Wir hoffen, dass wir einen kleinen Beitrag dazu leisten konnten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Titelbild: liber-net / Vorstellung des Berichts in Brüssel, November 2025


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