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Titel: Die Zeitbombe von 1991: Wladislaw Below über das Scheitern Europas und die systemischen Ursachen des Krieges

Datum: 27. Dezember 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews
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Der Moskauer Europa-Experte Wladislaw Below sieht den unvollendeten Zerfall der Sowjetunion als historische „Zeitbombe“ und „größte Tragödie“. Das zählt für ihn zu den systemischen Ursachen des aktuellen Konflikts. Im Interview erklärt er, warum Angela Merkels Aussage zu den Minsker Abkommen das Vertrauen Russlands in den Westen fundamental zerstört hat und welche neuen Garantiemächte – wie China oder die Türkei – nun nötig wären, um künftige Friedensverträge glaubwürdig abzusichern. Below formuliert radikale Forderungen für eine neue Sicherheitsarchitektur, die auf einem atom- und raketenfreien Europa basiert, während er die einzige Hoffnung auf eine Entspannung in einer „Bewegung von unten“ in Deutschland sieht. Wladislaw Below ist stellvertretender Direktor für wissenschaftliche Arbeit am Institut für Europa der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter des Zentrums für Germanistik. Von Éva Péli

Éva Péli: Herr Below, lassen Sie uns über die tieferliegenden, systemischen Ursachen des Krieges in der Ukraine sprechen. Wie könnte eine zukünftige Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen, die die Interessen aller berücksichtigt? Wie schätzen Sie die historische Verantwortung für diesen Konflikt ein?

Wladislaw Below: Aus meiner Sicht wird der Krieg gegen Russland geführt. Ich bin überzeugt, dass Präsident Wladimir Putin dazu gezwungen wurde. Russland war nicht darauf vorbereitet; es ist durch Provokationen in eine Falle geraten. Der Konflikt war aus meiner Sicht vermeidbar. Die Russland-Expertin Gabriele Krone-Schmalz zitierte in einer Rede sinngemäß den Philosophen Montesquieu: Schuld an einem Konflikt hat derjenige, der ihn unvermeidbar gemacht hat.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht erst im Februar 2022. Es gibt genügend Beweise, dass er schon im Frühjahr 2014 mit der vom damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ausgerufenen Anti-Terror-Operation begann. Er ließ schwere Artillerie gegen das eigene Volk einsetzen. Auch Butscha 2022 war ein Verbrechen, eine Inszenierung, und ich denke, es muss ein Tribunal geben. Als ersten Kandidaten für ein Tribunal, analog zu Nürnberg, schlage ich Poroschenko vor. Der Bürgerkrieg wurde durch die Minsker Abkommen nur eingefroren. Angela Merkel sagte im Dezember 2022, dass diese Abkommen der Ukraine Zeit geben sollten, um stark genug für einen Krieg gegen Russland zu werden.

Nach dieser Aussage über die Minsker Abkommen stellt sich die Frage: Wie sehen Sie die Vertrauenswürdigkeit westlicher Garantien und Verhandlungszusagen heute? Was müsste geschehen, damit Moskau einem neuen Friedensvertrag überhaupt noch Glauben schenkt?

Diese Aussage von Frau Merkel hat das Vertrauen in den Westen fundamental zerstört. Wir haben gelernt: Garantien aus Berlin oder Paris, die von Washington nicht mitgetragen werden, sind wertlos. Wenn die Minsker Abkommen, die durch UN-Sicherheitsratsresolutionen untermauert waren, nur ein Manöver waren, um Zeit zu gewinnen, dann ist die Vertrauensbasis für neue Verträge extrem niedrig.

Ein Friedensvertrag müsste durch neue Garantiemächte abgesichert werden – ich denke hier an China oder die Türkei –, die nicht direkt in den Konflikt involviert sind und deren Unterschrift Gewicht hat. Nur so kann die notwendige, neue Glaubwürdigkeit geschaffen werden.

Sie sehen den Kern des Problems im Erbe des Zerfalls der Sowjetunion, den Sie als „größte Tragödie“ bezeichnen.

Was meine deutschen Kollegen nicht gerne hören. Sie sagen: „Herr Below, vergessen Sie alles, was 1991 in der Sowjetunion passiert ist. Vergessen Sie, was in der Ukraine in den 90er-Jahren passiert ist, vergessen Sie, was in den Nullerjahren passiert ist. Das Wichtigste ist, was jetzt passiert.“ Damit bin ich nicht einverstanden.

Der Konflikt wird nur verständlich, wenn wir uns von diesem Mantra lösen, alles vor 1991 zu vergessen. Es gibt in solchen Spannungsfeldern keine Verjährung. Der Ukraine-Konflikt hat nichts mit Lebensraum oder Territorien zu tun, sondern mit der noch nicht zu Ende gekommenen Geschichte des Zerfalls der Sowjetunion – der größten Tragödie aus Sicht der europäischen Sicherheit. Die Geschichte rächt sich, es war eine Zeitbombe.

Der Konflikt wird nur verständlich, wenn wir die Gebietsverschiebungen der Sowjetzeit betrachten. Die Übertragung des industriellen, russisch geprägten Donbass an die Ukraine in den 20er-Jahren diente dazu, die ukrainische Kommunistische Partei mit einer starken Arbeiterklasse zu stärken, da die Ukraine primär landwirtschaftlich geprägt war. Ähnliches geschah in Nordkasachstan.

Dies betrifft auch die Altlasten des Zerfalls wie Abchasien, Karabach, Südossetien und Transnistrien – das sind alles Minen oder Zeitbomben, die noch darauf warten, entschärft zu werden. Die Lösung für die europäische Sicherheit wäre die Beseitigung all dieser Altlasten aus dem Zerfall der Sowjetunion.

Wenn der Zerfall die Ursache ist, wie sollte die Sicherheitsarchitektur dann neu aufgestellt werden? Das „Gemeinsame Haus Europa“, eine Idee, die ja auch mit Michail Gorbatschow verbunden war, scheint eine Ruine zu sein.

Wir sitzen hier im Europa-Institut in der Mitte von Moskau, das ist auf Initiative von Gorbatschow gegründet worden. Dieses „Gemeinsame Haus Europa“ war ein nicht fertiger Bau, dann wurde es eine Ruine, und jetzt ist es fast verschwunden. Doch das Fundament des Gedankens bleibt. Aber diese Idee führte damals zu Nachteilen für die Sicherheit der Sowjetunion.

Bundeskanzler Helmut Kohl war in den Zerfall involviert. Als Gorbatschow ihn um zwölf Milliarden D-Mark Kredit bat – Kredit, egal in welcher Form, um Versorgungsprobleme und die wachsende Unzufriedenheit in der Sowjetunion zu lindern –, sagte Kohl etwa: „Mischa, du bist ein guter Freund, aber ich kann nichts machen.“ Das war eine Lüge. Sie hätten die Vorräte der Nationalen Volksarmee (NVA), die ohnehin vernichtet wurden, liefern können.

Die Idee lebte Anfang der 2000er-Jahre mit Romano Prodi und Wladimir Putin wieder auf. Prodi sprach von Wladiwostok bis Lissabon. 2010 sagte Putin, man solle einen industriellen Standort Europa schaffen. Man hat die Idee mit der Begründung verworfen, Russland könne ja kein Bestandteil der Europäischen Gemeinschaft sein – was Putin auch nie gewünscht hatte, und so war es auch nicht gemeint. Das war ein Missverständnis, ein Übersetzungsfehler.

Welche Rolle spielt die NATO in dieser Architektur, und welche konkreten Forderungen stellen Sie?

Dazu wurde eigentlich schon alles im Jahr 1990 gesagt. Die NATO ist keine rein politische, sondern eine militärpolitische Organisation. Sie stationiert Raketen entlang der russischen Grenze. Das wäre vergleichbar mit einer Stationierung solcher Raketen auf Kuba. Deshalb muss die Gefahr für Russland beseitigt werden. Die Ukraine sollte – und da hatte Merkel recht – ebenso wie Georgien und Moldau kein NATO-Mitglied werden.

Wir sollten ein raketenfreies Territorium und einen atomfreien Raum in Europa anstreben. Das wäre möglicherweise genau die Architektur, die Dmitri Medwedew und Putin bereits im Juni 2008 angestrebt haben. Die Europäische Sicherheit ist nicht teilbar und muss für beide Seiten akzeptabel sein. Für mich wäre die Mindestanforderung ein atomfreies und raketenfreies Gebiet, einschließlich der Beseitigung der unsinnigen Vorstellung einer Drohnen-Schutzzone.

Der Westen sieht die strategische Partnerschaft Russlands mit China kritisch. Ist der Wegfall des „Hauses Europa“ gleichbedeutend mit einer endgültigen Hinwendung Russlands zu Asien, oder bleibt der Fokus auf der europäischen Kultur, wie Sie andeuten?

Das ist eine gute Frage. Wir haben im Westen Sergej Karaganow, der sagt, wir sollen uns von Europa abwenden. Das ist eine provokante These. In dieser Hinsicht stimme ich Karaganow zu – er ist ein Provokateur, aber man muss in der Politik ein Provokateur sein, um zitiert zu werden und eine Diskussion anzustoßen.

Aber Russland ist ein eurasischer Staat. Die strategische Hinwendung zu China ist ein pragmatischer Schritt, um die globale Isolation zu durchbrechen. Dennoch bleibt der kulturelle Fokus auf Europa. Putin liest Puschkin und fordert Macron auf, weiterzulesen. Russland ist kulturell ein europäischer Staat. Die Vision geht heute bis zur Beringstraße und darüber hinaus. Russland ist dafür verantwortlich, dass der europäische Kulturstandort an Alaska grenzt.

Blicken wir auf die Zukunft. Wie realistisch ist eine Verbesserung der Beziehungen in dieser angespannten Lage? Welche Kräfte sehen Sie auf deutscher Seite, die sich für Frieden engagieren?

Wenn wir von deutsch-russischen Beziehungen sprechen: Keine Chancen. Ich sehe Kanzler Merz mit Kanistern voller Benzin dastehen. Krieg ist ein Feuer, das jeden Tag Hunderte von Menschenleben kostet. Die Position Berlins ist: noch mehr Bomben, noch mehr militärische Unterstützung. Das heißt, noch mehr Benzin in das Feuer gießen – mit 140 Milliarden Euro. Ich verstehe die Welt nicht mehr.

Die stärkste oppositionelle Partei ist die Alternative für Deutschland (AfD). Sie ist meiner Meinung nach nicht pro-russisch, aber sie ist für den Frieden. Die haben sehr viele Vertreter der Partei von Polizei und Bundeswehr, und die verstehen, was ein Krieg ist, und welche Gefahr besteht, wenn ein Krieg tatsächlich in Europa kommt. Solange Björn Höcke – der derzeit für ein Jahr abgetaucht ist – nicht öffentlich erklärt, dass er mit seinen früheren rechten Positionen unrecht hatte, solange habe ich Vorbehalte. Aber wenn er diesen Fehler eingesteht und seine Positionen revidiert, dann würde ich sagen, hat die Partei eine Chance.

Sie sehen die Chancen „in der Bewegung von unten“. Wie konkret äußert sich die Arbeit der Zivilgesellschaft, der Wissenschaftler und der Think Tanks, wenn der offizielle NATO-Russland-Rat stillgelegt ist? Gibt es informelle Kanäle?

Die Chancen liegen in der Bewegung von unten, weil die Politik von oben blockiert ist. Wir haben in Kaliningrad eine große Konferenz durchgeführt. Wir planen die Gruppe Wirtschaft des Petersburger Dialogs mit den deutschen Teilnehmern. Die Gruppe Zivilgesellschaft, die Gruppe Religion – alle sind aktiv. Diese Kanäle sind informell und unterliegen dem Druck des Verfassungsschutzes, aber sie existieren.

Moskau signalisiert immer: Wir sind bereit. Putin sagte beim Waldai-Treffen dieses Jahr im Oktober klar: „Aber wir bleiben bereit.“ Dieses Signal wird in Berlin ungern wahrgenommen. Das Interessante ist: Wir haben praktisch keine Lieferungen kritisch wichtiger Materialien oder Düngemittel eingestellt. Wir liefern alles, was wir geliefert haben.

Wer sind die Vordenker und Akteure, die diesen Prozess von unten vorantreiben können?

Wo gibt es die Willy Brandts oder Helmut Schmidts? Wo gibt’s Egon Bahrs? Ich sehe sie nicht. Wen können Sie jetzt als Denker in Deutschland nennen? Es gibt Aktivisten, aber keine Vordenker. Die Macht der etablierten Medien ist riesig. Ich kritisiere, dass es falsch war, den NATO-Russland-Rat stillzulegen, da er dafür gegründet wurde, Probleme zu besprechen. Doch egal, ob wir sprechen oder nicht, wir kommunizieren immer. Und ich hoffe, dass in dieser Kommunikation die Wahrheit doch einen Weg findet, indem wir den Hintergrund – und nicht nur aktuelle Welttrends – beleuchten.

Vielen Dank für diesen tiefen Einblick in die historischen und strategischen Überlegungen in Moskau.

Titelbild: Tilo Gräser


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