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Titel: Silvester im „Niemandsland“

Datum: 31. Dezember 2025 um 15:00 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Militäreinsätze/Kriege
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30. Dezember 1945, endlich im Westen. Das Lager besteht aus einem Verwaltungsgebäude, ehemaligen Wehrmachtskasernen, mehreren Baracken und großen Garagenblocks, in denen zuvor Militärfahrzeuge untergebracht waren. Dort ist Stroh aufgeschüttet. Eine Nachkriegs-Geschichte von Wolfgang Bittner.

„Besser als gar nichts“, sagt die Mutter aufatmend. „Das hätten wir erst mal geschafft, wir sind in der britischen Besatzungszone. Das Weitere ist nicht mehr so schlimm, das kriegen wir auch noch hin.“

Sie und Tante Franziska sind froh, dass sie diesen Teil der Reise, der an die norddeutsche Küste fortgesetzt werden soll, wohlbehalten mit den Kindern hinter sich gebracht haben. Sie suchen sich einen freien Platz und breiten auf dem Stroh ihre Decken aus. Todmüde legen sich alle vier schlafen. Das Jahr, in dem bis Mai noch Krieg war, geht dem Ende zu, ein trauriges Weihnachten in einem verwanzten Bunker nahe Berlin liegt hinter ihnen.

Am Silvesterabend zünden einige Vertriebene auf einem Platz neben dem Hangar ein Feuer an. Sie haben leere Munitionskisten als Sitzgelegenheiten aufgestellt, und bald ist eine kleine Schar um das Feuer versammelt und wärmt sich. Die Mutter und Tante Franziska setzen sich dazu, auch das Kind und Edmund dürfen dabei sein. Es ist bitterkalt, eine schneefreie, sternklare Nacht. Die meisten schauen, in Decken gehüllt, still in die Flammen, aber hier und da entwickeln sich allmählich Gespräche über das Woher und Wohin. Das Kind hustet immer noch, aber nicht mehr so stark wie vorher. Es kuschelt sich in seine Decke und freut sich an den Feuerzungen, die in den kalten Himmel lodern und ein Meer von Funken versprühen.

Ein kriegsversehrter Soldat, der offensichtlich einsam ist, gesellt sich zu den Frauen. Er zieht aus einer Umhängetasche ein Päckchen Kekse und eine Flasche: „Echter Wodka, hab’ ich extra für heute Abend aufgespart.“ Er nimmt einen Schluck und gibt die Flasche der Mutter, die zögert. „Ich weiß gar nicht, ob ich Schnaps noch vertrage“, meint sie. „Es ist lange her, dass ich so etwas getrunken habe.“

„Nur zu“, ermutigt sie der Soldat. Es entspannt. Wir sind alle noch viel zu verkrampft. Er verteilt die Kekse, von denen die Kinder nicht genug kriegen können. Jemand hat ein Akkordeon aufgetrieben und spielt – zuerst leise, dann beflügelt, kraftvoll, beschwingt – volkstümliche Weisen, Lieder über die Liebe und die Heimat. Allmählich kommt so etwas wie Stimmung auf.

Als die Melodie des Schlesierlieds erklingt, summen und singen einige mit: „Kehr ich einst zur Heimat wieder, früh am Morgen, wenn die Sonn’ aufgeht. Schau ich dann ins Tal hernieder, wo vor einer Tür ein Mädchen steht …“ Edmund kennt das Lied von seinen Ausflügen mit dem Jungvolk, singt aus voller Kehle: „Mein Schlesierland, mein Heimatland … wir sehn uns wieder, mein Schlesierland, wir sehn uns wieder am Oderstrand …“ Der Soldat singt: „Liebes Mädchen, lass das Weinen sein, wenn die Rosen wieder blühen, ja dann kehr ich wieder bei dir ein.“ Er hat eine schöne Tenorstimme.

Eine Weile herrscht Stille. Der Soldat sagt: „Das haben wir oft gesungen, die Kameraden und ich. Aber ich kehr nicht nach Schlesien heim, ich komme aus der Gegend von Mainz, wir sind Weinbauern.“ Er zeigt auf sein hochgeschlagenes, mit einer Sicherheitsnadel befestigtes Hosenbein: „Mal sehen, vielleicht bekomme ich eine gute Prothese, mit der ich in den Weinberg steigen kann.“

„Bestimmt“, sagt die Mutter, und Tante Franziska nickt ihm zu: „Das wünsche ich Ihnen.“ Jetzt lacht der Soldat. „Wenn ich noch beide Beine hätte, würde ich um einen Tanz bitten. Ich heiße übrigens Lothar.“ Er schaut in die Flammen und erzählt: „Ich war bei den Panzern, unsere Division – oder was davon übrig geblieben war – hatte den Befehl, vor Berlin die Russen aufzuhalten. Völliger Blödsinn, Wahnsinn. Aber wir glaubten immer noch, unser Vaterland verteidigen zu müssen. ‚Führer, befiehl, wir folgen dir!‘ Na ja, unser Panzer bekam einen Volltreffer, zwei Kameraden sind verbrannt.“ Er schiebt den linken Ärmel seines Mantels hoch, und eine große Brandnarbe kommt zum Vorschein.

„Ich war schon raus“, fährt er fort, „da hat es mich doch noch am Bein erwischt. War zuerst gar nicht so schlimm, wurde von den Kameraden gleich abgebunden. Aber bis ich zum Verbandsplatz kam, verging ein halber Tag, wir lagen unter Feuer, und ins Feldlazarett kam ich erst zwei Tage später. Habe Wundbrand bekommen, der Arzt fackelte nicht lange.“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist, wie es ist. Ich bin am Leben, jetzt heißt es, vorwärts zu schauen.“

Kurz vor Mitternacht wird es laut, und der Krach steigert sich noch. Die Briten schießen in die Luft, obwohl das eigentlich verboten ist, und Signalfarben erhellen die Nacht. 1945 geht in das Jahr 1946 über. „Prost Neujahr!“, heißt es. „Ein gesegnetes neues Jahr! Ein frohes und gesundes neues Jahr!“

Die beiden Frauen umarmen sich. „Es kann nur besser werden“, sagt die Mutter. „Lass uns für meinen Ernst, für unsere Eltern und die Schwiegereltern beten.“ Einen Moment herrscht Schweigen in der Runde. Alle denken an ihre Lieben, die sie vermissen, und wie es weitergehen wird. „Wir sind davongekommen“, sagt eine Frau. „Neues Spiel, neues Glück!“

Der Soldat pflichtet ihr bei: „Machen wir das Beste daraus!“ Die Mutter nimmt ihm die Wodkaflasche aus der Hand, prostet ihm zu und trinkt. Dann reicht sie die Flasche weiter an Tante Franziska, die mächtig zulangt. Edmund will auch Schnaps trinken und regt sich auf, als ihm das verweigert wird. Zur Beruhigung zaubert Lothar für ihn und das Kind aus der Umhängetasche eine Stange Lakritz. Das ist schön süß, da schweigt Edmund auf der Stelle. Bevor Tante Franziska mit den beiden Kindern zum Schlafen in die Garagenhalle zurückgeht, flüstert sie: „Ist er nicht nett?“

„Wen meinst du?“, fragt die Mutter irritiert.

„Na, diesen Lothar natürlich.“

Jemand wirft noch einmal Holz in das Feuer, das hoch auflodert. Die Umsitzenden genießen die Wärme und das Beisammensein. Ihre Gespräche sind verstummt, jeder hängt seinen Gedanken nach und schaut in die züngelnden Flammen, bis die letzten Holzscheite verglimmen. Die Mutter bedankt sich bei dem Soldaten für den Wodka. Beim Aufstehen schwankt sie ein wenig. Als sie in der Halle zu ihrem Strohlager kommt, liegen Tante Franziska und die Kinder schon in ihre Decken gehüllt in tiefem Schlaf.

(Aus: Wolfgang Bittner, „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, Roman, zeitgeist Verlag 2019)


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