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Titel: Aus Verzweiflung erbrüteter Sprengstoff

Datum: 10. Oktober 2012 um 10:10 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Bundesagentur für Arbeit, Innere Sicherheit, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Anmerkungen und Fragen zur Messerattacke im Jobcenter von Neuss.
Man müsste den Neusser Fall zum Gegenstand einer gründlichen Recherche machen. Wir könnten, sollten und müssten aus ihm lernen. Wo sind die Repräsentanten einer engagierten Literatur, die sich eines solchen Geschehens annehmen?
Es geht nicht darum, den Täter zu exkulpieren. Eine Tat verstehbar werden zu lassen, ist etwas anderes, als sie und den Täter zu entschuldigen.
Schon ist davon die Rede, es sollten Barrieren zwischen Mitarbeitern und Kunden errichtet sowie Fluchtwege ausgebaut werden. Auch der Einsatz von qualifiziertem Sicherheitspersonal in “sensiblen” Verwaltungsbereichen wird diskutiert.
Eine Gesellschaft, der es ernst wäre mit dem Gedanken der Prävention, würde jenseits der und unabhängig von den Zwängen und Begrenzungen der juristischen Wahrheitsfindung umgehend ein interdisziplinäres Forschungsprojekt auf den Weg bringen, dessen Aufgabe es wäre, all das auszuleuchten, was vom Gericht als „nicht zur Sache gehörig“ erklärt und außer Acht gelassen wird. Es hätte den gesellschaftlichen Hintergründen und psycho-sozialen Bedingungen der Möglichkeit dieser Tat rückhaltlos auf den Grund zu gehen. Von Götz Eisenberg [*]

Ein Arbeiter wurde vor Gericht gefragt, ob er die weltliche oder die kirchliche Form des Eides benutzen wolle. Er antwortete: „Ich bin arbeitslos.“ – „Dies war nicht nur Zerstreutheit“, sagte Herr K. „Durch diese Antwort gab er zu erkennen, dass er sich in einer Lage befand, wo solche Fragen, ja vielleicht das ganze Gerichtsverfahren als solches, keinen Sinn mehr haben.“

Bertolt Brecht

Am Morgen des 26. September 2012 betrat der 52 Jahre alte Ahmed S. das Jobcenter in Neuss. Der aus Marokko stammende Mann bezog dort seit einiger Zeit Hartz IV. Obwohl er keinen Termin vereinbart hatte, begab er sich ohne Umschweife in das Büro seiner Beraterin. Als er es verließ, lag die Frau, von Messerstichen tödlich getroffen, am Boden. Der Notarzt wurde gerufen, aber der Frau konnte nicht mehr geholfen werden. Sie erlag im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen. Sie hinterlässt ihren Ehemann und einen zweijährigen Sohn. Die Polizei vermutet inzwischen, dass die Beraterin eher zufällig Opfer der Messerattacke wurde. Der Mann habe kurz vor der Tat eine Datenschutzerklärung für das Jobcenter unterschrieben und nun den Verdacht gehegt, dass Missbrauch mit seinen Daten getrieben werden könnte. Ein Fernsehbeitrag habe seinen Argwohn geweckt und er habe wegen dieser Befürchtungen nächtelang nicht schlafen können. Deswegen wollte er sich am Tattag eigentlich den Mitarbeiter vorknöpfen, bei dem er die Erklärung unterschrieben hatte. Da er diesen nicht antraf, betrat er das Büro der Mitarbeiterin Irene N.

Arbeitsämter heißen seit einigen Jahren Jobcenter, ihre Klienten Kunden. Das soll etwas freundlicher klingen, ändert aber nichts daran, dass Jobcenter für viele Arbeitslose Orte der Demütigung, Kränkung und Beschämung sind. Die semantischen Waschstraßen, durch die wir in letzter Zeit unangenehme soziale Phänomene laufen lassen, spülen sie äußerlich rein und polieren die Oberfläche auf, hinter der die Lage der Betroffenen selbst unverändert fortbesteht. Die alten Begriffe waren ehrlicher, indem sie den Gewaltgehalt der dahinter stehenden sozialen Phänomene aufbewahrten und auch zum Ausdruck brachten. In Jobcentern wird das Scheitern verwaltet, hier werden Menschen, die vielfach unter großen lebensgeschichtlichen Entbehrungen Qualifikationen erworben haben, die irgendwann nicht mehr nachgefragt werden, zu Nummern und Fällen verdinglicht und zu Objekten irgendwelcher Maßnahmen gemacht.

Es geht ja, wenn Arbeit verloren geht, viel mehr verloren als Arbeit. Ein Mensch büßt seine Würde ein, er wird ent-gesellschaftet und droht, wenn ihn keine sozialen und emotionalen Netze auffangen, aus der Welt zu fallen. Der Arbeitslose stirbt einen sozialen Tod. So darf es uns eigentlich nicht wundern, dass es in Einrichtungen wie diesen immer häufiger zu unschönen Szenen, verbalen Attacken und Beschimpfungen und sogar zu gewalttätigen Angriffen auf Angestellte kommt. Vor allem seit im Zuge der nach Herrn Hartz benannten Reformen nicht mehr vorrangig gefördert, sondern gefordert wird, ist das Klima spürbar rauer geworden. Die Süddeutsche Zeitung erinnert am 28. September 2012 daran, dass allein im vergangenen Jahr drei schwere Gewalttaten in Jobcentern bekannt wurden. So hat ein Mann in Berlin das Büro eines Sachbearbeiters mit einer Axt kurz und klein geschlagen.

Grausamkeit, heißt es bei Nietzsche, ist die Rache des verletzten Stolzes. In unsere heutige Sprache übersetzt heißt das: Der menschliche Narzissmus kann zu einer hochbrisanten, destruktiven Kraft werden, vor allem dann, wenn wir ihn ignorieren. Das Bedürfnis nach Reparatur eines durch erlittene Kränkungen beschädigten Selbstwertgefühls ist mitunter so drängend, dass archaische Racheimpulse und eine Wut freigesetzt werden, die den eigenen Untergang in Kauf nehmen. Gegen eine drohende narzisstische Katastrophe scheint Kampf mit allen Mitteln geboten.

Motive und Hintergründe von Taten wie die von Neuss werden sich uns nur dann annähernd erschließen, wenn wir die Rückschläge des niedergedrückten Lebens und des verletzten Stolzes in unsere Überlegungen einbeziehen. Wie verzweifelt muss ein Mann und Vater von drei Kindern gewesen sein, dass er sich zu einer solchen schrecklichen Tat entschloss? Die Sorge wegen des möglichen Datenmissbrauchs mutet übersteigert, vielleicht sogar paranoid an. Aber in Zeiten tiefgehender lebensgeschichtlicher Krisen fällt es oft schwer, den Kopf über der Wasseroberfläche der Realität zu behalten und man ist anfällig für Wahrnehmungsverzerrungen und übersichtliche Freund-Feind-Verhältnisse. Welcher Dialog hat sich zwischen der Beraterin und dem Mann abgespielt? An der Grenze der Kulturen und Mentalitäten ist das Gelände vermint und voller Fallstricke. Die Nerven liegen blank und die Chance, missverstanden zu werden und dadurch eine ungeahnte Eskalation der Gewalt heraufzubeschwören, ist groß. Was hat letzten Endes seine Wut von der Leine gelassen? Wie lang trug er das oder die Messer schon bei sich? Wie stand es angesichts des dramatischen Niedergangs des einstigen Bauern um seine Selbstachtung und Würde? Schämte er sich vor seinen Kindern? Wie hat er das Scheitern seiner Ehe und die Trennung von seiner Frau verkraftet? „Ehre“, „Stolz“ und „Schande“ sind in muslimischen Ländern Kategorien von einer Bedeutung, die sich uns Westeuropäern nur schwer erschließt. Hass und Selbsthass sind oft wie zu einem Zopf verflochten und können sich als Mord, Selbstmord oder auch beidem zusammen, als erweiterter Suizid entäußern. Wenn die Klinge des ersten Messers nicht abgebrochen wäre, für wen war das zweite Messer ursprünglich gedacht? Wie oft hat der Mann schon seinen Strick geölt und auf dem Dachboden über einen Balken geworfen? Es werden meist mehrere Menschen getötet, wenn ein Mensch umgebracht wird. Wer war noch oder eigentlich gemeint? Es kommt vor, dass jemand, ohne es zu beabsichtigen und ohne es zu ahnen, eine weit zurückliegende Kränkung aktiviert und dadurch zum Double eines anderen wird, der einmal eine Schlüsselfigur in einer als traumatisch erlebten Szene gewesen ist. Gerade bei scheinbar motivlosen Taten stößt man bei näherem Hinsehen auf solche Energieverschiebungen und affektiven Fehlschlüsse, die zu Erregungen am falschen Ort und gegen versetzte Objekte führen. Wie ein Verstärker schließen sich uralte Kränkungserfahrungen und Traumatisierungen an aktuelle Unlust- und Kränkungserfahrungen an. Das Opfer steht mitunter symbolisch für die Summe der erlittenen Kränkungen und lebensgeschichtlich akkumulierten Enttäuschungen.

Das sind alles bloß Spekulationen, Fragen und vage Möglichkeiten. Man müsste den Neusser Fall zum Gegenstand einer gründlichen Recherche machen. Wir könnten, sollten und müssten aus ihm lernen. Wo sind denn die Repräsentanten einer engagierten Literatur, die sich eines solchen Geschehens annehmen, die Hintergründe ausleuchten, die Motive des Mannes fassbar machen – wie es beispielsweise Alfred Döblin, Thomas Brasch oder Georg Büchner in seinem Dramenfragment Woyzeck getan haben? Was trieb den Perückenmacher Johann Christian Woyzeck am 3. Juli 1821 dazu, die Witwe Woost zu erstechen? Büchner liest über ein Jahrzehnt später über den Fall in einer medizinischen Zeitschrift und gibt sich mit den dort präsentierten Erklärungen nicht zufrieden. Der Mann wurde von einem zu Rate gezogenen Gutachter trotz massiver Hinweise auf eine wahnhafte Entwicklung für schuldfähig erklärt und 1824 auf dem Leipziger Marktplatz hingerichtet. Wenn er wirklich in den Bann eines Wahns geraten war, der ihn die Tat begehen ließ, was hat Woyzeck in den Wahnsinn getrieben? Erzeugen nicht soziale Umstände das, was man Umnachtung nennt? Auch wenn einer paranoid ist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter ihm her sein können, hat viel später irgendjemand in der Sprache des 20. Jahrhunderts gesagt. Die Frage der sozialen Verursachung solcher Taten wird gestellt, die gesellschaftliche Lage des Täters ins Kalkül einbezogen. Es entstehen aus einer Mischung von Realität und Fiktion die Fragmente eines bis heute faszinierenden und erhellenden Theaterstücks. „Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, schreit Woyzeck heraus. Büchner lehrt uns zu fragen: Wie wird ein Mensch zum Straftäter? Was war aus ihm geworden, ehe er zum Straftäter wurde? Was ist der Straftäter noch, außer Straftäter? Und dann auch: Was wird aus einem Straftäter nach seiner Verurteilung? Fragen, die man gewöhnlich nicht stellt, weil sie die Exklusion des Straftäters aufheben, ihn innerhalb des Menschlichen situieren und als uns Ähnlichen kenntlich machen.

Joke Frerichs hat am 28. Februar 2008 auf den NachDenkSeiten ein aktuelles Beispiel für eine solche Recherche geliefert, als er unter dem Titel Tod auf dem Hochsitz versuchte, die Geschichte eines 58 Jahre alten Mannes zu rekonstruieren, der sich, nachdem er seine Arbeit verloren hatte, auf einem Hochsitz zu Tode gehungert hatte.

Eine Gesellschaft, der es ernst wäre mit dem Gedanken der Prävention, würde jenseits der und unabhängig von den Zwängen und Begrenzungen der juristischen Wahrheitsfindung umgehend ein interdisziplinäres Forschungsprojekt auf den Weg bringen, dessen Aufgabe es wäre, all das auszuleuchten, was vom Gericht als „nicht zur Sache gehörig“ erklärt und außer Acht gelassen wird. Es hätte den gesellschaftlichen Hintergründen und psycho-sozialen Bedingungen der Möglichkeit dieser Tat rückhaltlos auf den Grund zu gehen. Ernsthaft betriebene Prävention muss, wie schon Franz von Liszt wusste, eine soziale sein und dürfte sich nicht in polizeilichen und technischen Maßnahmen erschöpfen. Schon ist davon die Rede, es sollten Barrieren zwischen Mitarbeitern und Kunden errichtet sowie Fluchtwege ausgebaut werden. Auch der Einsatz von qualifiziertem Sicherheitspersonal in “sensiblen” Verwaltungsbereichen wird diskutiert.

Einem solchen Forschungsprojekt müsste die Freiheit eingeräumt werden, an die Wunden zu rühren, die die bestehende Gesellschaft und die in ihr herrschende Form der Produktion und Reproduktion des Lebens den Menschen zufügt. Eine gründliche Erforschung des Neusser Falls wird die Zwischenglieder ans Licht befördern, die aus einem Arbeitslosen einen Mörder oder Totschläger werden ließen und über die ich einstweilen nur Vermutungen anstellen und im Konjunktiv sprechen kann. Die Resultate, die ein solches Forschungsprojekt zeitigen würde, müssten in die Form eines gesellschaftlichen Lehrstücks gebracht werden, das man im wahrsten Sinn des Wortes unters Volk bringen und das von ihm verstanden werden könnte.

Um einem verbreitetem und immer wieder vorgebrachtem Missverständnis vorzubeugen, sei darauf hingewiesen: Es geht nicht darum, Ahmed S. zu exkulpieren. Eine Tat verstehbar werden zu lassen, ist etwas anderes, als sie und den Täter zu entschuldigen. Ahmed S. hat die Tat begangen und wird die Verantwortung dafür übernehmen müssen. Es sei denn, er hätte im Zustand eines Wahns gehandelt, also im Bann eines von ihm nicht beherrschbaren Zwangs, der ihm keine Möglichkeit ließ, sich anders zu entscheiden. Dennoch sollte, wer immer sich ein soziales Gewissen durch die eisigen neoliberalen Zeitläufte hindurch gerettet hat, sich hüten, den Tätern das individuell und ausschließlich als Schuld anzurechnen, was ihnen von außen zustößt und das ohne kompakt falsche gesellschaftliche Verhältnisse nicht möglich wäre. Nochmal anders formuliert: Die gesellschaftlichen Verhältnisse für sich genommen tun nichts, aber ohne sie wären Taten wie diese nicht möglich. Wir sollten uns auch und gerade anlässlich eines solchen Falles Gedanken darüber machen, ob es nicht höchste Zeit wird, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, die den einzelnen weniger Wunden zufügen und ihnen weniger Bosheit und Gemeinheit einpressen, die sich dann häufig gegen versetzte Objekte, die als Sündenböcke fungieren, wenden.

Wir sollten also den Blick in die Abgründe unserer Gegenwart wagen. Das wäre gleichzeitig auch die beste Form der Prävention für Mitarbeiter von Jobcentern, Sozialämtern und anderen Institutionen, die man noch so häufig in Deeskalationstechniken schulen kann, solange sie die Dynamik des gekränkten Stolzes nicht verstehen und nicht begreifen, was sie Menschen – meist ohne es zu wollen und zu wissen – qua Amt und der Logik bürokratischen Handelns antun. Das einzige Mittel gegen die bürokratische Kälte der Reduktion von Menschen auf Fälle, mit denen unter allen Umständen soundso zu verfahren ist, ist Mitgefühl, das immer Sensibilität für besondere Umstände voraussetzt. Es gibt Institutionen, die gleichsam Stolz-Vernichtungs-Maschinen sind und deswegen immer dicht an der Kränkungswut siedeln. In ihnen wird aus Verzweiflung erbrüteter Sprengstoff gelagert, und manchmal genügt eine kleine Reibung oder Erschütterung, um ihn scharf zu machen und eine Explosion auszulösen. Das Unkontrollierbare ist stets gegenwärtig und lauert dicht unter der Oberfläche angepassten Verhaltens. „Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es oft noch lang“, hat Alexander Kluge in einem seiner Filme gesagt, bis eines Tages ein für sich genommen läppisches Ereignis, eine harmlos aussehende Kränkung das Fass zum Überlaufen bringt. Der Status von Gerichtsvollziehern scheint noch prekärer. Ich erinnere an den Fall in Karlsruhe, wo im Juli 2012 ein von Zwangsräumung bedrohter 53-jähriger Mann den Gerichtsvollzieher, zwei seiner Begleiter und seine Lebensgefährtin umgebracht und sich dann selbst erschossen hat. Das Paar hatte die Hausumlage für die Eigentumswohnung nicht mehr bezahlen können und ihre Wohnung war deswegen zwangsversteigert worden. Als der neue Eigentümer mit dem Gerichtsvollzieher anrückte, bat der Mann die Leute in die Wohnung, holte dann eine Pistole herbei und erschoss zunächst die Männer und seine Frau und schließlich sich selbst. Die Ermittler sprachen von einer Hinrichtung. In der hessischen Kleinstadt Wetzlar eröffnete im Mai 2002 ein 80-jähriger Mann das Feuer auf den Gerichtsvollzieher und Möbelpacker, die auf richterliche Anordnung seine Wohnung räumen sollten. Er verletzte niemand, zog sich in die Wohnung zurück, wo er sich selbst erschoss. Er habe durch die angedrohte Räumung „sein Gesicht verloren“, hatte er zuvor seinem Rechtsanwalt gesagt.

Nicht immer sind es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institution, die zu Opfern werden. Im Mai 2011 hat eine Polizistin in einem Frankfurter Jobcenter eine 39-jährige Frau erschossen, die dort randaliert und ihren Kollegen mit einem Messer attackiert hatte. Die Süddeutsche Zeitung hat am 14. Juli 2012 unter der Überschrift Tod im Amt [PDF – 210 KB] über die Hintergründe dieser Tat berichtet.

Wenn meine These von den Institutionen, in denen der aus psycho-sozialer Verzweiflung stammende Sprengstoff zwischengelagert wird, richtig ist, muss man sich wundern, dass es nicht häufiger zu solchen Taten kommt. Das kann nur an immer noch wirksamen verinnerlichten Hemmungen liegen und daran, dass die meisten Arbeitslosen gelernt haben, sich selbst die Schuld an ihrer Malaise zuzuweisen. Die Sozialisation im Rahmen herkömmlicher Familien führt zur Ausbildung einer “inneren Selbstzwangapparatur” (Norbert Elias), die dafür sorgt, dass die Menschen sich in ihr oft trostloses Schicksal fügen und eher ein Leben in stiller Verzweiflung führen als sich aufzulehnen. Sie haben, wie Heinrich Heine bemerkte, den Stock, mit dem man sie geschlagen hat, verschluckt und wenden die Aggressionen, die das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben in ihnen hervorruft, gegen die eigene Person. Ihre Wut wird in der Watte verinnerlichten Hemmungen stumpf. Auch wenn hierzulande der Modus der Reprivatisierung sozialer Konflikte noch vorherrscht, heißt das keineswegs, dass das in Zukunft so bleiben wird. Vieles deutet darauf hin, dass angesichts der rapiden Erosion der Familie und der durch sie gewährleisteten Sozialisation der nachwachsenden Generationen das Zeitalter der Verinnerlichung der Aggression seinem Ende entgegengeht. Die vom Neoliberalismus propagierte Flexibilisierung tut ein Übriges. Der flexible Mensch (Richard Sennett) soll sich von Traditionen lösen, sein Fähnchen nach dem Marktwind hängen, Bindungen kappen und alte Hemmungen ablegen – damit er allseits kompatibel und zu allem fähig wird. So ist denn auch. Da können Eltern, Erzieher und Lehrer Aggressionshemmungen aufbauen so viel sie wollen, sie werden von den Medien, der Freizeitindustrie und den Verhaltensimperativen der Konsumgesellschaft postwendend wieder zerstört. Wenn die Verwandlung von „Fremdzwängen in verinnerlichte Selbstzwänge“ nicht mehr mit ausreichender Zuverlässigkeit stattfindet, obendrein immer mehr Menschen sozial desintegriert sind und wachsende Teile der jungen Generationen ohne jede Perspektive bleiben, ist damit zu rechnen, dass es in Zukunft vermehrt zu unkontrollierten Trieb- und Impulsdurchbrüchen kommt, die im Extremfall die Form der raptusartigen Aggressionsentladung und des Amoklaufs annehmen können. Die sogenannten Riots in englischen Großstädten haben uns letztes Jahr einen Vorgeschmack dessen geliefert, was auch auf uns zukommen könnte.


[«1] Götz Eisenberg (* 1951), Sozialwissenschaftler und Publizist, arbeitet als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Neben intensiver, auch kultureller Arbeit mit den Gefangenen schreibt er Essays, die in “Der Freitag”, der Zeitschrift “psychosozial”, der „Frankfurter Rundschau“, im Online-Magazin „Auswege“ und auf den „NachDenkSeiten“ erscheinen. Als einer der ersten Autoren in Deutschland wandte er sich dem Thema „Amok“ zu und veröffentlichte zu diesem Thema zuletzt 2010 im Münchner Pattloch-Verlag den Band “Damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind”.


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