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Titel: Christoph Butterwegge: Neoliberalismus und Standortnationalismus – eine Gefahr für die Demokratie

Datum: 11. August 2006 um 16:13 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wettbewerbsfähigkeit
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Die tiefe Sinnkrise des Sozialen besteht darin, dass es – quer durch die etablierten Parteien und fast alle gesellschaftlichen Lager – primär als Belastung der Volkswirtschaft und potenzielle Gefährdung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten gesehen, aber nicht mehr als eigenständiger Faktor begriffen wird, der mit über die Demokratie, die Humanität und Lebensqualität einer Gesellschaft entscheidet. Das neoliberale Konzept verlangt, jeden Glauben an die autonome Gestaltungsmacht der Wirtschafts- und Sozialpolitik fahren zu lassen. Ökonomismus, Fatalismus und tiefe Resignation hinsichtlich einer Verbesserung des gesellschaftlichen Status quo gehören zu seinen zwangsläufigen Folgen.

Anmerkungen zu dem Beitrag von Christoph Butterwegge von Wolfgang Lieb:

Ich teile die These von der Tendenz zur Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche.

Auch die Tendenz, die Gesellschaft nicht mehr aus der Sicht von unterschiedlichen Gruppen mit teilweise widersprüchlichen Interessen zu betrachten, sondern ein überwölbendes Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, ist unverkennbar: „Wir“ müssen den Gürtel enger schnallen, so heißt es doch ständig, auch die Debatte über die sog. „Leitkultur“, die Kampagne „Du bist Deutschland“ oder die Patriotismusdebatte angestachelt durch die Fußball-WM sind Belege für eine aufkeimende Gemeinschaftsideologie, die Einzel- oder Gruppeninteressen (vor allem von durch Eigentums- Vermögens- und Machtverhältnissen strukturell Benachteiligten) einem vorgegebenen angeblichen Gemeinschaftsinteresse unterordnen möchte. Ob „Kulturalisierung des Sozialen“ dafür ein passender Begriff ist, sei dahingestellt.

Richtig ist auch, dass durch die zunehmende Politisierung etwa der Demographie oder der Geburtenraten, biologische (und nicht mehr soziale oder demokratische) Sachzwänge in die Gesellschaftspolitik eingeführt werden. Besonders die Dramatisierung der Kinderlosigkeit von Akademikerinnen, aber auch das neu eingeführte Elterngeld – bei dem die gesellschaftlich und dementsprechend einkommensmäßig „höher“ Gestellten für die Geburt von Kindern einen größeren Bonus erhalten und die Armen durch die Abschaffung des zweijährigen Erziehungsgeldes einen deutlichen Nachteil erfahren – zeigen deutliche Tendenzen zu einem bevölkerungspolitischen Denken im Sinne einer ethnischen „Veredelung“ oder „Eliteförderung“. Auch die vielfach geschürte Angst, vor einem Bevölkerungsrückgang, ja sogar vor einem „Aussterben der Deutschen“ lässt Anleihen aus bislang tabuisierten nationalistischen oder gar „rassistischen“ Ideologien erkennen. Die Biologisierung des gesellschaftspolitischen (sozialen) Denkens ist jedenfalls wieder zu einem wichtigen und weit verbreiteten Thema der Zukunftsgestaltung geworden.

Der „Standortwettbewerb“, also die nationale Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Volkswirtschaften oder gegenüber „Zwängen der Globalisierung“ führte gewiss zu einem „Standortnationalismus“. „Wir Deutsche“ müssen uns in diesem Wettbewerb gegenüber anderen durch die Aktivierung der „deutschen Tugenden“ (Fleiß, Opferbereitschaft, Erfindergeist) wieder durchsetzen. Das ist schon eine über einen angeblich ökonomischen Sachzwang wieder auflebende Ethnisierung des politischen Denkens.
Herzog: „Ich habe den Ruck vor allem vom Volk verlangt“

In der Analyse teile ich also die Thesen von Christoph Butterwegge weitgehend.
Unter seinen Alternativen zum Standortnationalismus sehe ich auch, dass der „Innen-Außen“-Gegensatz“ oder auch die ständig thematisierte Generationengerechtigkeit – zumindest weitgehend – eine Ablenkungsdebatte von der zunehmenden Verteilungsungleichheit oder von der Frage nach der aktuellen Verteilungsungerechtigkeit ist, und dass der Gegensatz zwischen „Oben und Unten“ für die politische Auseinandersetzung viel entscheidender ist und wieder stärker in die Debatte eingeführt werden müsste.
Und natürlich müsste die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, wieder in den Vordergrund gerückt werden und nötig wäre sicherlich eine Vergewisserung über die Bedeutung des wohlfahrtstaatlichen Fundaments für eine lebendige Demokratie mit mündigen Bürgern und einer echten Teilhabe am Gemeinwesen und an der politischen Gestaltung.

Für fraglich halte ich aber, ob „der Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen“ (allein) für den Erhalt des „Sozialstaates“ zielführend sein kann. Damit würde man sich auf den Weg des Kurierens an den Symptomen einlassen. Vielleicht könnte man sogar die Symptomatik des finanziellen Ausblutens der Sicherungssysteme des Sozialstaates stärker lindern, als über die Steuerfinanzierung oder der Spirale nach unten mit immer weiteren Leistungskürzungen. Aber an die Ursachen für die „Krisenerscheinungen“ käme man damit nicht heran.
Christoph Butterwegge kritisiert zu Recht die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, aber er vernachlässigt, dass es eben nicht nur die „eine“ Ökonomie gibt. Wir leiden unter einem bestimmten, dogmatisch verengten marktradikalen und nur auf die Investitionen und die Angebotsbedingungen schielenden ökonomischen Markt- und Wettbewerbsdenken mit der dazu notwendigen Ellbogenmentalität. Mit einer anderen, einer alternativen Wirtschaftspolitik, die für Beschäftigung, Wachstum und wieder für „Wohlstand für alle“ sorgte, könnte auch einer Politik und einem gesellschaftlichen Bewusstsein wieder eine Bahn geebnet werden, in der dem Sozialen, dem Solidarischen, dem Kulturellen und dem Demokratischen in unserer Gesellschaft wieder der ihnen zustehende Raum geschaffen werden könnte.


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