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Titel: „Nie gab es mehr Erwerbstätige“ – Propaganda mit Zahlen

Datum: 4. Januar 2013 um 9:17 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Strategien der Meinungsmache
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So viele Erwerbstätige wie noch nie“, „Nie gab es mehr Erwerbstätige“. So oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen.
Im Jahr 2012 waren durchschnittlich rund 41,5 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig, das waren 416 000 Personen oder 1,0 % mehr als ein Jahr zuvor. Nach ersten vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) erreichte die Zahl der Erwerbstätigen damit im sechsten Jahr in Folge einen neuen Höchststand. Seit 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen um insgesamt 2,66 Millionen Personen (+ 6,8 %) gestiegen, so meldete gestern das Statistische Bundesamt. Unser Leser G.K. analysiert diese Erfolgsmeldung. Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) hat darüber hinaus noch eine von den Medien weit verbreitete Falschmeldung entdeckt.

Das organisatorisch dem Bundesinnenministerium unterstellte Statistische Bundesamt scheint sich bei der Auswahl des Betrachtungszeitraumes von propagandistischen Motiven leiten zu lassen. Denn das von ihm gewählte Vergleichsjahr 2005 entspricht “zufällig” jenem Jahr, welches sowohl die höchste offiziell ausgewiesene Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung als auch einen sehr niedrigen Beschäftigungsstand aufwies. Der Verweis auf das Vergleichsjahr 2005 kann wohl nur dem durchsichtigen Ziel dienen, die nach der Jahrtausendwende durchgeführten “Arbeitsmarktreformen” gegenüber der Bevölkerung als “Erfolg” darzustellen.

Das Statistische Bundesamt vermeidet allerdings Aussagen zur Entwicklung der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung. Auf Basis einer Prognose des der Bundesagentur für Arbeit zugeordneten Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom März 2012 [PDF – 639 KB] (diese wies eine Gesamtbeschäftigung 2012 in Höhe von 41,6 Mio aus; der nun vom Statistischen Bundesamt gemeldete Wert beläuft sich auf 41,55 Mio.) entwickelten sich die Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung (inkl. Minijobs) der Arbeitnehmer im Zeitraum 2005 bis 2012 wie folgt:

  • Vollzeitbeschäftigung: + 983 Tsd. bzw. +4,2 Prozent
  • Teilzeitbeschäftigung: +1.430 Tsd. bzw. +12,7 Prozent.

Die zumeist schlecht bezahlten Teilzeit- und Minijobs legten sowohl absolut als auch prozentual deutlich stärker zu als die Vollzeitstellen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Anstieg der Vollzeitstellen zu einem erheblichen Teil auf schlecht bezahlte Leiharbeitsjobs zurückzuführen ist.

Quelle: DGB

Zugleich ist der Anteil der Arbeitnehmer, die zumeist aus finanziellen Gründen (Stichworte: Prekarisierung der Arbeit / miserable Reallohnentwicklung in Deutschland) zusätzlich in einem Nebenjob arbeiten (müssen), seit 2005 um 891 Tsd. bzw. um 43,2 Prozent angestiegen (diese Nebenjobs sind in den obigen Daten zur Voll- und Teilzeitbeschäftigung bereits mit enthalten).

Die ab der Jahrtausendwende bis zum Jahre 2005 anhaltende miserable Entwicklung des hiesigen Bruttoinlandsprodukts sowie der Arbeitslosen- und Beschäftigungsdaten waren das Resultat der durch Reallohnsenkung und Sozialabbau bewusst herbeigeführten Schwächung des deutschen Binnenmarktes zwecks Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft gegenüber dem Ausland. Ab dem Jahre 2006 überwogen die Effekte aus der massiven Steigerung des Außenhandelsüberschusses (Differenz der Exporte zu den Importen) jene aus der nach wie vor anhaltenden Binnenmarktschwäche. Zugleich hat jedoch das von Deutschland ausgehende Lohn- und Sozialdumping maßgeblich zu jenen ökonomischen Schieflagen innerhalb der Eurozone beigetragen, die heute unter dem Namen “Eurokrise” firmieren.

Der Vergleich mit den vom Statistischen Bundesamt für das Jahr 1991 (dem ersten vergleichbaren Jahr nach der Wiedervereinigung) ausgewiesenen Beschäftigungsdaten zeigt bei der Arbeitnehmerbeschäftigung massive Verschiebungen zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung:

  • Vollzeitbeschäftigung
    • 2012 24,3 Millionen
    • 1991 29,2 Millionen
    • Veränderung: -4,9 Mio. bzw. -16,6%
  • Teilzeitbeschäftigung (inkl. Minijobs)
    • 2012 12,7 Millionen
    • 1991 4,7 Millionen
    • Veränderung: +7,9 Mio. bzw. +167,7%

Der Anstieg der Arbeitnehmerbeschäftigung gegenüber dem Jahre 1991 um ca. 3 Millionen ist somit das Resultat einer Stückelung ehemaliger Vollzeitstellen in Teilzeit- und Minijobs. Zudem ist berücksichtigen, dass die heutige Teilzeitbeschäftigung einen deutlich höheren Anteil an Minijobs aufweist.

Auch zum Vergleichsjahr 1991 hat sich die Anzahl der Leiharbeitsjobs deutlich erhöht. Außerdem hat sich der Anteil der zeitlich befristeten Arbeitsverträge gegenüber dem Jahre 1991 erheblich ausgeweitet.

Wird in Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes oder in Medienberichten von der Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gesprochen, dann ist darüber hinaus zu bedenken, dass diese – im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten – nicht nahezu ausschließlich gut bezahlte Vollzeitstellen umfasst, sondern auch zumeist schlecht bezahlte Teilzeitjobs (ohne Minijobs) sowie Leiharbeitsjobs.

Fazit: Für Beschönigungen der Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland besteht auch vor dem Hintergrund der seit Ende der 90er Jahre miserablen Lohnentwicklung, der drastischen Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie der vom deutschen Lohn- und Sozialdumping ausgehenden Negativeffekte auf die übrigen Staaten der Eurozone keinerlei Anlass. Das vom Statistischen Bundesamt in der obigen Pressemitteilung gewählte Vergleichsjahr 2005 dient dem durchsichtigen Ziel, die nach der Jahrtausendwende durchgeführten “Arbeitsmarktreformen” gegenüber der Bevölkerung in ein günstiges Licht zu rücken.

Siehe zur Propaganda mit Statistik weiter:

37 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte? dpa setzt qualifizierte Pressearbeit fort
Am 2. Januar 2013 präsentierte das Statistische Bundesamt (destatis) die ersten vorläufigen Ergebnisse zur Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2012. In der Pressemitteilung Nr. 001 heißt es u.a.:

„Von der positiven Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt profitierten insbesondere die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, deren Anzahl – wie schon in den Jahren 2010 und 2011 – auch im Jahr 2012 überproportional gestiegen ist. Insgesamt wuchs die Zahl der Arbeitnehmer mit Wohnort in Deutschland im Jahresdurchschnitt 2012 um 410 000 Personen (+ 1,1 %) auf rund 37,0 Millionen.“

Und welche Meldung machen dpa und, von dpa unkritisch abschreibend, SPIEGEL , FAZ, STERN, Weser-Kurier5 und viele andere daraus?

„Am stärksten wuchs erneut die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die mit rund 37 Millionen auch weiterhin die größte Gruppe stellen.“

Aus 37 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden 37 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Tatsächlich aber sind längst nicht alle „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Dies sollte sich auch in den Nachrichtenagenturen und „Qualitäts- Medien“ herumgesprochen haben.
Die bisher veröffentlichten, zum Teil hochrechneten vorläufigen Daten der dafür zuständigen Statistik der Bundesagentur für Arbeit lassen für 2012 einen jahresdurchschnittlichen Bestand von etwa 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort Bundesrepublik Deutschland bzw. knapp unter 29 Millionen mit Wohnort Bundesrepublik Deutschland erwarten (einschließlich der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Freistellungsphase der Altersteilzeit im Blockmodell).
Zwischen der Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Erwerbstätigenrechnung des Statistischen Bundesamtes und der von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit ermittelten Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten besteht zur Zeit eine rechnerische „Lücke“ von 8 Millionen, zum großen Teil „gefüllt“ durch ausschließlich geringfügig Beschäftigte, Beamtinnen und Beamte, aber auch Ein-Euro-Jobberinnen und -Jobber und Praktikantinnen und Praktikanten.
Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) [PDF – 75.1 KB]


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