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Titel: Mythos Standortschwäche

Datum: 3. Januar 2005 um 20:47 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Von Michael Schlecht, Chefvolkswirt ver.di Bundesvorstand Berlin.

Im Jahr 2004 machten viele Unternehmen Schlagzeilen. Häufig negative. Mit der Gefahr von Konkursen. Sicher: Managementfehler spielten und spielen ein wichtige Rolle. Aber die besondere Dramatik, die Bedrohung von zigtausenden Arbeitsplätzen entsteht erst durch die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Politik, Unternehmer und Medien behaupten, dass die Steuern und Löhne zu hoch seien. Deshalb sei es kein Wunder, dass immer mehr Unternehmen straucheln. Folglich müssten die Arbeitskosten gesenkt werden. Nur so könne die deutsche Standortschwäche bekämpft werden.
Die alltägliche Erfahrung scheint diese Schlussfolgerung nahe zu legen. Man sieht ja – auch in vielen nicht so prominenten Fällen –, dass mit der Senkung der Arbeitskosten Arbeitsplätze gerettet werden können. So ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass viele Beschäftigte und auch Gewerkschaftsfunktionäre verunsichert sind.
Der Alltagserfahrung steht der Tatbestand gegenüber, dass Deutschland Exportweltmeister ist. Ein Zehntel aller weltweit exportierten Güter kommt aus Deutschland. Wir liegen damit noch vor den USA. Nachdem 2002 und 2003 der Exportüberschuss jeweils über 90 Milliarden Euro lag, wird 2004 ein neuer Rekord aufgestellt werden.

Laufen die Arbeitsplätze weg?

Verlagerung von Produktionsstätten als Form der internationalen Arbeitsteilung ist keine neue Entwicklung. Man erinnere sich nur an die Textilindustrie und die Produktion von Radio- und Fernsehgeräten in den 70er Jahren. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ist zum Problem geworden, weil nicht gleichzeitig durch Wachstum und Strukturwandel neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Kein Wunder. Die Binnennachfrage ist durch zu niedrige Lohnerhöhungen in den letzten Jahren zu schwach. Seit drei Jahren kein Anstieg beim privaten Konsum. Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Auch der Staat hat durch immer tiefere Schnitte bei den Ausgaben die Nachfrage stranguliert.

Achillesferse schwache Binnennachfrage

Wäre die binnenwirtschaftliche Dynamik nicht am Boden, wäre die Arbeitslosigkeit nicht so hoch, würden hinreichend Ersatzarbeitsplätze entstehen, dann wäre die Drohung des Arbeitsplatzverlustes nicht so brisant, dann wäre es zum Beispiel im Fall Siemens nicht möglich gewesen eine Kostensenkung um 30 Prozent durchzusetzen – mit der Existenzangst von 2000 Beschäftigten und ihren Familien.
Nach Schätzungen werden jährlich bis zu 50.000 Arbeitsplätze in Deutschland durch Produktionsverlagerung vernichtet. Allein die ein bisschen verbesserte wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2000 hat dagegen ein Plus von 700.000 Erwerbstätigen gebracht. Mit einer starken Binnennachfrage aufgrund höherer Löhne und offensiver Zukunftsinvestitionen des Staates könnte ein ähnlicher Schub ausgelöst werden. Jobverlagerungen verlören bei einem Aufschwung ihre soziale Brisanz.

EU Osterweiterung

Eine besondere Drohkulisse ist die EU-Osterweiterung. Wie sollen wir mithalten bei den viel niedrigeren Lohnkosten im Osten? Doch statt „nackte“ Lohnkosten zu vergleichen müssen die unterschiedlichen Produktivitäten berücksichtigt werden. In Deutschland wird im Schnitt fast das Vierfache wie in Polen verdient, gut 33.000 Euro im Jahr. Viel zu viel? Nein, denn dafür wird auch ein höherer Wert produziert. Der liegt mit knapp 56.000 Euro jährlich sogar mehr als vier Mal höher als in Polen. Ursache ist die höhere Produktivität. Je 100 Euro Arbeitnehmereinkommen werden in Polen Güter und Dienstleistungen im Wert von 145 Euro produziert. In Deutschland sind es 168 Euro. Damit liegt Deutschland noch vor Großbritannien, Frankreich und den USA.

Wirtschaftspolitischer Kurswechsel

Es macht keinen Sinn, sich auf einen Dumpingwettbewerb einzulassen. Am Ende gibt es nur Verlierer. Die Verteidigung von bedrohten Arbeitsplätze ist notwendig. Häufig gelingt dies nur durch Eingehen auf die unternehmerischen Erpressungen, was aus Sicht der Einzelnen verständlich ist. Aber für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist das falsch. Deshalb ist die Durchsetzung einer Wirtschaftspolitik, die wieder massiv neue Arbeitsplätze schafft und damit auch den Druck auf die Belegschaften reduziert von herausragender Bedeutung. Die Politik der Agenda 2010, Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkungen führen in die Irre. Gerade in Anbetracht der Defensive in vielen Betrieben hat die staatliche Finanzpolitik eine Schlüsselstellung. Der Staat muss mehr investieren, unter anderem in die Bildung, in Energieeinsparung und eine bessere Umwelt. Über eine halbe Million zusätzliche Arbeitsplätze können so geschaffen werden. Mit einem 40-Milliarden-Euro-Zukunftsinvestitionsprogramm! Als Einstieg brauchen wir ein 20-Milliarden-Sofortprogramm. Finanziert werden muss dies, indem Reiche und Superreiche wieder einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.
Mit Investitionen in Bildung und Infrastruktur werden Arbeitsplätze geschaffen und die hohe Wettbewerbsfähigkeit gesichert. Mit einer halben Million neuer Arbeitsplätze schwindet die Brisanz von 50.000 Arbeitsplätzen, die im Zuge der internationalen Arbeitsteilung jedes Jahr aus Deutschland verlagert werden. Die Beschäftigten hätten nämlich gute Chancen schnell wieder einen neuen Job zu finden.

Michael Schlecht ist Chefvolkswirt ver.di Bundesvorstand Berlin. Weitere Informationen unter www.wipo.verdi.de. Zu dem Thema „Standortschwäche“ ist eine Broschüre erschienen, die unter [email protected] bezogen werden kann.


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