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Titel: Ursula Engelen Kefer: Rüttgers Vorstoß, die Dauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer bis auf 24 Monate zu verlängern, ist reiner Populismus.

Datum: 7. November 2006 um 17:11 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Generationenkonflikt
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Anstelle populistischer Effekthascherei sollte alles getan werden, das Vertrauen der Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung wieder herzustellen, die Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer zu verbessern und die ungerechte Behandlung älterer Arbeitsloser zu beseitigen. Letzteres darf jedoch nicht auf dem Rücken der Jüngeren abgeladen werden, die angesichts von Strukturwandel und einer falschen Wirtschaftspolitik gleichfalls nicht für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden können. Ein Beitrag der ehemaligen Verwaltungsratsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit und früheren DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.

Rüttgers Bohren in der Gerechtigkeitswunde

Von Ursula Engelen-Kefer

Das Erstarken rechtsradikaler Parteien – wie zuletzt der Einzug der NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern – und die Zunahme der „Partei“ der Nichtwähler sollte für die Politik ein deutliches Alarmzeichen sein. Die Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten über die als ungerecht empfundenen Reformen – so zeigen letzte Umfragen – führt zu wachsenden Zweifeln am Funktionieren unserer Demokratie und schürt Zukunftsängste bei Alt und Jung.
Die etwas bessere Wirtschaftskonjunktur mit höheren Steuereinnahmen, leichten Zuwächsen bei der Beschäftigung und einem Rückgang bei der Arbeitslosigkeit sollten zu einer nüchternen Analyse genutzt werden, um die Reformpolitik vom „Kopf auf die Füße“ zu stellen. An Stelle Arbeitnehmer, Arbeitlose, Kranke und Rentner immer mehr zur Ader zu lassen, müssen unumgängliche Anpassungslasten zumindest gerecht in der Gesellschaft verteilt werden. Gerade eine Große Koalition sollte mit ihrer Zweidrittelmehrheit dazu die notwendige Kraft haben und auch einsetzen können.
Für viele Arbeitnehmer sind die widersprüchlichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen schwer nachvollziehbar: die Gewinne der DAX-Unternehmen steigen, die Steuern sprudeln, bei der Bundesagentur für Arbeit gibt es aller Voraussicht nach einen zweistelligen Milliarden-Überschuss. Und im Kontrast dazu ist die Übergangsfrist bei der Verkürzung des Bezuges von ALG I für ältere Arbeitnehmer ausgelaufen. In Zukunft werden Arbeitnehmer bis zum Alter von 55 Jahren bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zu Hartz IV-Empfängern und die über 55-jährigen stehen nach 18 Monaten vor diesem schmerzhaften sozialen Absturz.
In der Vergangenheit wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für über 45-Jährige stufenweise bis auf 32 Monate erhöht. Danach gab es für diese Altersgruppe einen Anspruch auf zeitlich unbegrenzte Arbeitslosenhilfe. Diejenigen, die lange Jahre gearbeitet und Beiträge geleistet sowie ordentlich ihre Steuern bezahlt hatten, wurden somit vielfach vor dem für sie schmachvollen Gang zum Sozialamt bewahrt.
Nun gibt es das berechtigte Argument, dass die lange Bezugsdauer von ALGI und die unbegrenzte Leistung der ehemaligen Arbeitslosenhilfe der „Verjüngungspolitik“ in den Unternehmen zu Lasten der Sozialversicherung Vorschub leistete. Die im europäischen und internationalen Vergleich außerordentlich niedrige Erwerbsbeteiligung der über 50-Jährigen und noch mehr der über 55-jährigen Arbeitnehmer – gerade einmal ein Drittel – sowie der hohe Anteil der Älteren an der Arbeitslosigkeit – über ein Viertel – sind handfeste Hinweise auf das immer frühere Herausdrängen Älterer aus dem Erwerbsleben. Hier müsste daher zuallererst angesetzt und die Wirtschaft zu einem sozial und ökonomisch verantwortlichen Umgang mit älter werdenden Arbeitnehmern veranlasst werden. Werden die Daumenschrauben allerdings – wie das jetzt geschieht – in erster Linie bei den älteren Arbeitnehmern selbst angezogen – durch die drastische Verkürzung der Bezugsdauer von ALG I und durch den Zwang in die vielfach entwürdigende Hartz IV-Situation, also den Abstieg in die Sozialhilfe, macht man die Opfer der „Verjüngungspolitik“ auch noch zu gedemütigten Tätern.
Jedem Politiker, der dies noch nie getan hat, ist anzuraten, sich einmal im Jobcenter Berlin-Neuk ölln in die Schlange der ALG II-Empfänger aus unterschiedlichsten sozialen Milieus und verschiedenster Erwerbsbiografien einzureihen. Auch die Lektüre der anonymen „Amtsbriefe“ – mit denen ohne Ansehen des Einzelfalls die Aufgabe der Wohnung erzwungen wird – würde manchen die Augen öffnen.
Wie muss sich zum Beispiel ein ehemaliger Maschinenschlosser fühlen, der 35 Jahren hart „malochte“ und ordentlich seine Steuern und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlte, der dann wegen Betriebsaufgabe den Job verlor, und trotz hunderten von Bewerbungen –weil zu alt – nicht mehr eingestellt wurde?
Hier ist die CDU in NRW ohne Zweifel bei vielen Arbeitnehmern, die „ihr Leben lang die Knochen hingehalten haben“, in eine immer noch schmerzende Gerechtigkeitswunde gestoßen. Sie hat den Nerv vieler Arbeitnehmer und Arbeitslosen getroffen, wenn sie jetzt vorschlägt, die Dauer des Arbeitslosengeldes I für diejenigen bis auf 24 Monate zu verlängern, die mehr als 15 Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
Natürlich wäre ein solcher Vorschlag glaubwürdiger, wenn Ministerpräsident Rüttgers auch sagen würde, wie hoch die zusätzlichen finanziellen Belastungen für die Arbeitslosenversicherung wären, und vor allem wer sie finanzieren soll. Dabei werden die zusätzlichen Kosten der Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I sowie der erweiterten Anrechnung des Schonvermögens auf über eine Mrd. Euro geschätzt.
Dieser Sinneswandel der CDU ist höchst erstaunlich, denn gerade aus ihren Reihen kamen zu Zeiten von Rot-Grün immer wieder die schärfsten Kürzungsforderungen beim ALG I und die lautesten Drohgebärden gegenüber Arbeitslosen.
Zudem war es vor allem CDU-Unterhändler Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen, im Vermittlungsausschuss zu Hartz IV zu „ verdanken“, dass zusätzliche Verschärfungen für ALG II-Empfänger durchgesetzt wurden.
Vor diesem Hintergrund kommt es nicht überraschend, dass sich nach Rüttgers Vorstoß sogleich Freunde in der Schwesterpartei CSU meldeten und Aufkommensneutralität für jede Änderung beim ALG I-Bezug anmahnte. Dies heißt im Klartext nichts anderes, als dass die verlängerten ALG I-Leistungen für Ältere zu geringeren Leistungen für Jüngere führen würden. Dies würde die Existenzängste jüngerer Arbeitnehmer und ihrer Familien verstärken und den Generationenkonflikt verschärfen. .
Wenn Rüttgers es mit seinem plötzlich entdeckten sozialen Gewissen für die Arbeitslosen wirklich ernst meinte, müsste er noch viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen leisten. Bislang ist sein Vorschlag für die verunsicherten Arbeitnehmer und die Arbeitslosen ein „Danaergeschenk“, weil es Hoffnungen weckt und die Spaltung zwischen Jüngeren und Älteren vertiefen könnte. Das im Zusammenhang mit dem kommenden CDU Parteitag soziale Pathos könnte in einer weiteren Enttäuschung für die Menschen enden.
In Anbetracht der verbesserten Finanzlage von Bundesregierung – und vor allem auch der Bundesagentur für Arbeit- sind im Interesse der Arbeitnehmer und der Glaubwürdigkeit der Politik genauso wenig populistische Geschenke wie die schroffe Zurückweisung einer Verlängerung des ALG I-Bezuges für ältere Arbeitnehmer zu rechtfertigen.
Bei so einschneidenden Veränderungen – wie sie durch Hartz IV herbeigeführt wurden – ist es wahrlich keine Schande, wenn sich die Politik zu notwendigen Korrekturen entschließen würde. Dazu gehört in jedem Fall die Verlängerung des ALG I- Bezuges für ältere langjährig Beschäftigte, allerdings ohne eine Verschlechterung der Leistungen für die Jüngeren. Auch ein dreißigjähriger Arbeitnehmer muss in unserem grundgesetzlich verankerten Sozialstaat das Recht haben, im Fall der Arbeitslosigkeit die Existenz für sich und seine Familie zu sichern. Will die Politik tatsächlich die Existenzsorgen jüngerer Arbeitnehmer und ihrer Familien verschärfen?
Zur Finanzierung brauchten noch nicht einmal die Überschüsse bei der BA in Anspruch genommen werden. Ein stufenweises Abschmelzen des fragwürdigen Aussteuerungsbetrages von 4 bis 5 Mrd. Euro – 10 000 Euro pro Arbeitslosen, der nicht nach 12 Monaten vermittelt werden konnte – könnte hierzu ebenfalls finanziellen Spielraum bieten. Damit würden diese Mittel wieder denjenigen zugute kommen, die sie aufgebracht haben und wegen ihrer altersbedingt länger andauernden Arbeitslosigkeit am nötigsten brauchen. Völlig absurd wäre es, wenn der Aussteuerungsbetrag auch noch auf 14 000 Euro angehoben werden sollte, wie es offensichtlich von einigen „Haushältern“ in Regierung und in den Fraktionen des Bundestags vorgesehen war.
Vorschläge, für langjährig Beschäftigte und versicherte Arbeitslose den Aufstockungsbetrag beim Übergang vom ALG I auf ALG II zu erhöhen, wäre nur die zweitbeste Lösung. Dies würde die finanzielle Not ein wenig lindern können, jedoch nichts an dem oft entwürdigenden „tiefen Fall“ auf den Hartz IV-Sozialhilfestatus verhindern.

Wenn die Politik jetzt vor dem Hintergrund der hohen Überschüsse der BA (über 10 Mrd. Euro) die Beiträge zur BA nicht, wie bisher geplant um 2 Prozent, sondern um 2,3 Prozent absenken will, geht sie überdies ein hohes Risiko ein. Da nur ein Prozent der Beitragssenkung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeglichen werden soll, muss die BA die Absenkung von 1,3 Prozent selbst finanzieren. Hierbei handelt es sich um den stolzen Betrag von ebenfalls etwa 10 Mrd. Euro. Überschüsse in dieser Größenordnung lassen sich aber in den weiteren Jahren nur dann erzielen, wenn das derzeitige Wirtschaftswachstum über Jahre anhielte – eine Annahme, die schon für das nächste Jahr nach den meisten Konjunkturprognosen in Frage gestellt wird.

Darüber hinaus ist nach dem „Preis“ für die hohen Einsparungen bei der BA zu fragen: Ein Teil ist sicherlich den wirksamen Organisationsreformen zur Verbesserung der Arbeitsvermittlung zuzurechnen und sollte auch fortgeführt werden. Eine offene Flanke bleibt jedoch auch für die ALG I-Empfänger die bislang unbefriedigende Eingliederung der benachteiligten Personengruppen – Geringqualifizierte, Behinderte und wiederum vor allem die Älteren. Hier gibt es ohne Zweifel Nachholbedarf mit finanziellen Anforderungen. Der politischen Glaubwürdigkeit würde es dienen, wenn diese für viele Arbeitslose schmerzliche Lücke bei der beruflichen Eingliederung geschlossen werden könnte. Umgekehrt würde die Politik und die BA noch mehr Schaden leiden, wenn in den nächsten Jahren weitere finanzielle Löcher aufgerissen und die arbeitsmarktpolitischen Leistungen zusammengestrichen würden.

Verlässlichkeit und Beständigkeit sind auch bei Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik am ehesten geeignet, weitere Verunsicherung vieler Arbeitnehmer zu verhindern. Notwenig ist, anstelle populistischer Effekthascherei alles dafür zu tun, die Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer zu verbessern und die ungerechte Behandlung älterer Arbeitsloser zu beseitigen. Dies darf jedoch nicht auf dem Rücken der Jüngeren abgeladen werden, die angesichts von Strukturwandel und Abbau von Arbeitsplätzen gleichfalls nicht für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden können.


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