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Titel: „Die Mär vom großen Sozialabbau“

Datum: 9. Januar 2006 um 17:11 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich:

Von Professorin Helga Spindler.

Der Autor der FAZ Carsten Germis meint, der große Sozialabbau durch Hartz IV sei ein Märchen.
Er meint, den sozial Schwachen in Deutschland ginge es heute besser als vorher.

  1. Sein erstes Argument: Statt der ursprünglich geplanten 14,6 Mrd. Euro koste das Ganze etwa 25,6 Milliarden Euro, das sei eine der größten wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungen seit langem. Die hätten wir in der Tat – wenn nicht die geplanten 14,6 Mrd. Euro ein Märchen in einem märchenhaften Haushaltsplan gewesen wären.
    Ende 2004 wurden aber alleine für die Arbeitslosenhilfe knapp 19 Mrd. Euro gezahlt, für die Sozialhilfe knapp 10 Mrd. und für Wohngeld, das auch überwiegend diesen Beziehern zugute kam, ca. 4,5 Mrd. Euro. Ausgaben für Fördermaßnahmen wie ABM, Fortbildung etc. noch nicht gerechnet. Hier ist nicht umverteilt worden, sondern eine Planungsgröße um den Betrag zu niedrig angesetzt worden, um den sich die Ausgaben jetzt scheinbar erhöht haben.
  2. Sein zweites Argument: Vor allem für ehemalige Sozialhilfeempfänger habe sich die Lage verbessert. Es gäbe jetzt statt der einmaliger Leistungen, die früher beantragt werden mussten, regelmäßig mehr in die Haushaltskasse und zwar 345 € statt der 296 € im Jahr 2004. Auch das klingt nur überzeugend – wenn man nicht weiß, wie hoch vorher die einmaligen Leistungen in der Sozialhilfe waren, welche Bedarfe vom Regelsatz in der Sozialhilfe abgedeckt wurden oder wovon Sozialhilfebezieher noch befreit waren, z.B. von Zuzahlungen zu Gesundheitsleistungen.
    Wer sich daran noch erinnert, weiß allerdings, dass mit der vordergründigen Anhebung des Regelsatzes gegenüber den bisherigen Gesamtsozialhilfeleistungen raffiniert gekürzt worden ist.
    Die wenigen, die sich damit beschäftigen, haben deshalb 2004, als mit der Regelsatzverordnung diese neuen Regelsätze ermittelt worden sind, begründet protestiert (Stellungnahmen von DPWV Gesamtverband 30.1.2004, Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialhilfeinitiativen 2.2.2004, Diakonischem Werk 30.1.2004 und DGB-Bundesvorstand 28.1.2004. Stellungnahme von Wissenschaftlern : Das sozialkulturelle Existenzminimum in der Abwärtsspirale). Aber kaum eine der großen Zeitungen, auch nicht die FAZ, fand das einer Meldung wert.

    Ein alleinerziehender, sozialhilfebeziehender Vater, der angeblich zu den besonders Begünstigten gehört und es wissen muss , hat vorgerechnet: nach der Reform blieben ihm nicht mehr , sondern knapp 103 € weniger pro Monat in der Haushaltskasse, einschließlich der vor der Reform den Sozialhilfebeziehern gewährten zusätzlichen Vergünstigungen, die ebenfalls weggefallen sind. ( „Das Hexeneinmaleins der Bundesregierung.“ Junge Welt vom 1.10.2004). Dieses Berechnungsbeispiel, das vom zuständigen Sozialamt bestätigt worden ist, wurde nur in einem Bericht in der Zeit aufgegriffen („Wie aus mehr weniger wird“ DIE ZEIT 52/2004 ). Dieser Vater zählte tatsächlich noch zu den relativ „Begünstigten“, denn Familien mit Kindern über 6 Jahren hat es noch viel stärker getroffen.

    Wer einen detaillierten Vergleich zu den vorherigen Sozialhilfesätzen und den durchschnittlich gezahlten einmaligen Beihilfen sucht und die Kürzungen in den Einzelpositionen nachvollziehen will, dem sei Heft 4/2004 der Informationen zum Arbeitslosen- und Soziahilferecht, „info also“, empfohlen ( Dokumentation S. 184 f.; Erläuterungen: Helga Spindler: Die neue Regelsatzverordnung – Das Existenzminimum stirbt in Prozentschritten S. 147 f. ) . Nur um das ehemalige Sozialhilfeniveau zu wahren, das auf sehr alten Daten der Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) basierte, müsste nach dieser Unersuchung der aktuelle Regelsatz mindestens 40 € pro Monat höher sein und die Regelsätze der Kinder zwischen 6 und 18 Jahren müssten zusätzlich wieder um 5 %,bzw. 10 % erhöht werden. („Offensichtlich wurde die Statistik manipuliert“ Junge Welt vom 18.12.2004) Außerdem sind diese Regelsätze seit 2003 nicht mehr – wie früher die Sozialhilferegelsätze jedes Jahr – der Preissteigerung angepasst worden.

    Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) hat Ende 2004 nach einer aktuellen Auswertung der EVS und dem daraus erkennbaren Ausgabenverhalten der unteren Einkommensschichten, das auch früher zur Ermittlung der Regelsätze in der Sozialhilfe herangezogen wurde, eine Expertise veröffentlicht. Danach müsste der Eckregelsatz zu diesem Zeitpunkt 67 € höher liegen. ( DPWV Gesamtverband :Zum Leben zu wenig… , Dezember 2004) Das alles sind wohlgemerkt nur Vergleiche mit dem bisherigen Sozialhilfeniveau.
    Es gibt auch Stimmen, die mit nachvollziehbarer Begründung höhere Regelsätze fordern. Aber es geht hier nur darum, wie sich die Lage gegenüber der Sozialhilfe verändert hat und um das Ausmaß der Absenkung.
    Eine zusammenfassende Darstellung dieser Vorgänge ist auch zu finden bei Joachim Rock in: Bischoff u.a. Schwarzbuch Rot-Grün, VSA 2005 und als Auszug „Zuviel zuwenig“ in Junge Welt vom 10.8.2005.

  3. Das dritte Argument: Auch viele ehemalige Arbeitslosenhilfebezieher, so sie nicht relativ hohe Arbeitslosenhilfe bezogen hätten oder ihre Partner jetzt verstärkt herangezogen würden, seien Gewinner der Neuregelung. Das stimmt – wenn man nur den reinen Arbeitslosenhilfeanspruch vorher vergleicht. Wenn man aber den ergänzenden Wohngeldanspruch oder den ergänzenden Sozialhilfeanspruch, den diese Leute vorher gehabt haben (s.o.) heranzieht, was keine der Simulationsrechnungen –auch die des IAB nicht – enthält, dann sieht das Ergebnis auch anders aus. Sie haben ebenfalls weniger.
  4. Bei dieser breit angelegten Senkung des Existenzminimums in Deutschland gibt es nur folgende Gruppen von Gewinnern und über die wird z.T. nur ungern berichtet.
    Es sind einmal die, denen vorher die einmaligen Beihilfen vorenthalten wurden oder (oft als kommunale Modellprojekte getarnt)zu niedrig bemessen wurden. Die werden jetzt mit den anderen wenigstens auf niedrigem Niveau gleichbehandelt, was aber nun wirklich keine Umverteilung darstellt.
    Zweitens wurden die Regelsätze für Kinder unter 6 Jahren um 10% erhöht und Alleinerziehende mit Kindern über 6 Jahren erhalten in bestimmten Konstellationen einen Mehrbedarf von 12 %. Dadurch werden in diesen Haushalten die allgemeinen Kürzungen mehr oder weniger ausgeglichen, eine nennenswerte Erhöhung der Leistungen wird aber auch nicht bewirkt. Drittens hat die Gruppe der jungen Erwachsenen gewonnen, die im Haushalt der Eltern leben, weil sie nach der neuen gesetzlichen Regelung ohne ihr Dazutun nicht nur als eigene Bedarfsgemeinschaft gelten, sondern auch einen Eckregelsatz erhalten, der 20 % höher ist als der, den sie in der Sozialhilfe bekamen.
    Das hat nichts mit leichtfertigen Umzügen zu tun und ist deutlich von einer weiteren Neuregelung zu trennen, die verdienende, ja sogar gut verdienende Eltern von erwachsenen Kindern, die nicht mehr im Haushalt leben und sich nicht mehr in Ausbildung befinden, von der Unterhaltsüberleitung befreit. Arme Eltern konnten da auch vorher schon nicht herangezogen werden. Aber die Auswirkung dieser Neuregelungen war angeblich nicht gewollt und wird den Betroffenen schon jetzt in einer Desinformationskampagne als Missbrauch in die Schuhe geschoben.
  5. Wer wissen will, für welche Bedarfe pro Tag und Monat die aktuellen Regelsätze noch reichen, kann sich sehr anschaulich in der Broschüre des Arbeitslosenzentrums Dortmund: „Fragen und Antworten. Der Sozialhilferegelsatz und die Regelleistungen des ALG II/Sozialgeldes“ vom Juni 2005 informieren.
    Für Alleinstehende beträgt der Tagessatz noch 11.50 €. Er senkt sich für weitere Haushaltsmitglieder bis auf 6.90 € für Kinder bis 14 Jahre. Davon sollen neben dem gesamten laufenden Lebensunterhalt Rücklagen für Haushaltsgeräte, Bekleidung, Energiekosten und Wohnungsrenovierung angespart werden. Wer diese Leistungen noch senken will, sollte doch einmal ganz konkrete Vorschläge machen, bei welchen Bedarfspositionen das sein könnte, etwa bei den 4.42 € im Regelsatz für tägliche Nahrung (2,65 € bei Kindern) oder bei den 0, 62 € (bei Kindern 0,37 €) für die Benutzung eines Verkehrsmittels.
  6. Warum setzt sich Herr Germis mit diesen Daten und Argumenten nicht wenigstens auseinander?
    Weil er zusammen mit Norbert Bertold, Wolfgang Franz , Hans-Werner Sinn und vielen anderen der Ökonomenzunft, die Forderung begründen will, dass die Regelsätze für Leistungsbezieher endlich spürbar gesenkt werden sollen, damit die Löhne endlich niedriger werden können und damit die dann flächendeckend notwendigen öffentlichen Lohnsubventionen (die sie dann vorhersehen, denn sie wollen ja nicht als Unmenschen dastehen!) nicht so teuer werden.
    Und warum kann Germis so ungehindert behaupten, es gäbe so viele Gewinner der Reform und vielleicht sogar noch selber daran glauben? Nein er braucht sich mit seiner Meinung nicht als kalt und unmenschlich zu fühlen, denn er steht keineswegs alleine. Die rot – grüne Bundesregierung, vor allem die von Ulla Schmidt und Wolfgang Clement geführten Ministerien, sogar noch unterstützt von dem der SPD nahe stehenden Wohlfahrtsverband AWO , und die Mehrzahl der Medien haben alles getan, um die Aufklärung über das Existenzminimum und Informationen über dessen Ermittlung in Deutschland zu unterdrücken.
    Dass die Sozialhilfeempfänger mehr bekommen, war nicht nur eine erfolgreiche Meinungsmanipulation des Jahres 2004, sondern ist die Voraussetzung, um weitere Absenkungen des Existenzminimums in den nächsten Jahren ungehindert durchsetzen zu können.

Helga Spindler


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