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Titel: Spiegel-Leser bezahlen ihre eigene Gehirnwäsche – mit 171,60 € im Jahr. Helfen Sie ihnen, sich dieser zu entziehen.

Datum: 25. April 2007 um 15:36 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Wir starten zu diesem Zweck eine weitere Aktion zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit: Sie finden unten eine Analyse mit Kommentar zu einem Spiegel-Artikel dieser Woche. Er hat den Titel „Konjunktur. Wirtschaftswunder 2.0“ (Ausgabe Nr. 17 Seite 80 bis 82). Der Autor schwärmt von der „Kraft des deutschen Aufschwungs“ und ordnet ihn selbstverständlich vor allem den Reformen zu. An diesem Text kann man gut zeigen, wie systematisch und wie dreist Spiegel-Leser in die Irre geführt werden. Eine Reihe von Aussagen stimmen einfach nicht, anderes wird falsch und unsinnig interpretiert.
Drucken Sie bitte die Analyse aus und geben Sie Kopien an Spiegel-Leser weiter. Wenn Sie dann Abonnenten des Spiegel überzeugen können, dass ihr Geld beim Ausbau und der Weiterverbreitung der NachDenkSeiten um vieles besser angelegt ist, dann ist das ein Nebeneffekt, der dem Aufbau einer Gegenöffentlichkeit direkt zugute kommt. Albrecht Müller.

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SPIEGEL-Leser bezahlen ihre eigene Gehirnwäsche – mit 171,60 € im Jahr.

Eine Analyse zu einem Beitrag im Spiegel Nr. 17/2007 vom 23.4.2007 mit dem Titel: „Wirtschaftswunder 2.0“

Von Albrecht Müller

Vorbemerkung:
Immer noch wird der „Spiegel“ in manchen Kreisen als Nachrichtenmagazin und als ein relativ kritisches Organ betrachtet. Tatsächlich ist der Spiegel heute wirtschaftspolitisch zu einem einseitig ideologisch ausgerichteten Kampforgan geworden. Ausgeklügelte Kampagnen der Meinungsbeeinflussung zu Gunsten zum Beispiel der Versicherungswirtschaft und der Banken bestimmen über weite Strecken die Berichte und Kommentare zu Demographie und Altersvorsorge. Genauso engagiert sich der Spiegel seit Jahren für die so genannte Reformpolitik. Das Blatt hat ausführlich daran mitgearbeitet, unser Land und seine sozialen Strukturen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Dramatisierung war und ist an der Tagesordnung. Dafür steht schon der Leiter des Berliner Büros des Spiegel, Gabor Steingart, mit seinen Büchern über den angeblichen „Abstieg des Superstars“ Deutschland und den angeblich ausbrechenden Wirtschafts-Weltkrieg. Und jetzt entdeckt der Spiegel plötzlich ein leibhaftiges Wirtschaftswunder.

Gegen Meinungsäußerungen und Bewertungen wäre an sich noch nichts einzuwenden. Was uns aber in dem zu kommentierenden Beitrag an Übertreibungen geboten wird, ist nicht mehr erträglich. Und dass viele Fakten nicht stimmen oder falsch interpretiert sind, zeigt, wie der Spiegel arbeitet:

  1. Im Vorspann unter der Überschrift „Wirtschaftswunder 2.0“ zum Text heißt es: „Experten in Regierung und Wissenschaft wundern sich über die Kraft des deutschen Aufschwungs. Er lässt die Arbeitslosigkeit schneller sinken und spült mehr Geld in die Staatskassen als alle früheren Konjunktur-Erholungen in der Geschichte der Republik. Warum eigentlich?“
    Im Text werden dann der Chef des Logistikunternehmens Dachser aus Kempten und ein Arzneimittelproduzent aus dem Hochtaunuskreis zitiert – mit beachtlichen Umsatzsteigerungen und Meldungen über neue Arbeitsplätze auch in Deutschland. „Dieses Jahr wird das beste in unserer fast fünfjährigen Firmengeschichte“, meint der Inhaber des Pharmaunternehmens. Und dann fasst der Spiegelautor zusammen: „Und überall das gleiche bunte Bild: es brummt wie lange nicht mehr.“

    Richtig ist:

    • Der Aufschwung hat Teile unserer Volkswirtschaft erfasst, vor allem die Exportwirtschaft und die Investitionsgüterindustrie. Von „überall das gleiche bunte Bild“ kann jedoch keine Rede sein. Die auf den Binnenmarkt konzentrierte Industrie, der Einzelhandel, kleine Handwerksbetriebe oder die normale Gastronomie spüren von einem richtigen Aufschwung wenig. Und bei der Mehrheit der Arbeitnehmer oder der Rentner ist der Aufschwung überhaupt nicht angekommen – jedenfalls nicht in der Lohntüte
    • Die „Kraft des deutschen Aufschwungs“ ist an den realen Wachstumsraten gemessen keineswegs bemerkenswert, weder besonders schnell noch besonders stark. Mit 2,5% im Jahr 2006 und geschätzten jeweils 2,4% in 2007 und 2008 wird erst unteres Mittelmaß erreicht. In Ländern, die in den neunziger Jahren ihre Wirtschaftsschwächen überwunden haben wie zum Beispiel Schweden, die USA zu Clintons Zeiten oder Spanien sind über mehrere Jahre Wachstumsraten von rund 4% erreicht worden.
      Selbst beim Vergleich mit anderen Phasen der Wirtschaftsbelebung in Deutschland stellt man fest, dass die Euphorie über die einzigartige „Kraft“ des jetzigen „deutschen Aufschwungs“ nicht begründet ist:
      Selbst beim letzten kleinen Boom in den Jahren 1997 bis 2000 wurde mit 3,2% ein höherer Spitzenwert erreicht als heute;
      beim Aufschwung 1988 und 1989 waren es 3,7 und 3,6% und dann verstärkt von der deutschen Vereinigung noch einmal 5,7 und 5%;
      beim Aufschwung aus der Rezession der Ölpreisexplosion erreichte unsere Volkswirtschaft nach 1975 nacheinander 5,3%, 2,8%, 3,0% und 4,2%; nach der Rezession von 1966/67 wurden reale Wachstumsraten von, 5%, 7,5% und 5% erreicht.

      Über diese Details, die darzustellen leider wichtig sind, geht der Spiegelautor großzügig hinweg, obwohl schon in einer Grafik, die im Spiegel-Artikel eingebaut ist, erkennbar ist, wie unbegründet die Euphorie auch im Vergleich mit den bisherigen konjunkturellen Zyklen ist.

    • Mit einem realen Wachstum von nur rund 2,4% in diesem und im nächsten Jahr werden wir die Schwäche unserer Volkswirtschaft nicht überwinden können. Um diese Vermutung zu begründen brauche ich nur daran zu erinnern, wie die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität im vergangenen Jahr aussah: 1,9%. Wenn in diesem und im nächsten Jahr wieder ein ähnlicher Wert erreicht wird, dann bleibt bei einem Wachstum von nur 2,4% volkswirtschaftlich betrachtet nicht viel „Kraft“ für den Beschäftigungsaufbau.

      Nachtrag zur Information:

      Tabelle: Bruttoinlandsprodukt (preisbereinigt)
      Veränderung gegenüber dem Vorjahr:

      1996 1997 1998 1999 2000 2001
      +1,0% +1,8% +2,0% +2,0% +3,2% +1,2%
      2002 2003 2004 2005 2006
      +0,0% -0,2% +1,2% +0,9% +2,5%

      Quelle: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 11.1.2007

  2. Zur Begründung und Erläuterung der Behauptung, der Aufschwung lasse „die Arbeitslosigkeit schneller sinken als alle früheren Konjunktur-Erholungen“ schreibt der Spiegelautor: „Die Einstellungswelle hinterlässt deutliche Spuren in der Arbeitsmarktstatistik. Vom März 2006 bis März 2007 sank die Zahl der Jobsuchenden um fast 900.000, so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Republik.“ Diese Behauptung gründet auf dem Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit für März 2007, ohne die differenzierenden Details zu zitieren.

    Richtig ist:

    Die gefeierte Reduzierung der Jobsuchenden um 900.000 kommt auch dadurch zu Stande, dass mehrere hunderttausend seit März 2006 aus der Arbeitslosenstatistik hinausbugsiert worden sind, nicht mehr gezählt werden, weil sie in Minijobs, in einer Qualifizierungs- bzw. Trainingsmaßnahme oder in Arbeitsgelegenheiten landeten oder eine „vorruhestandsähnliche“ Regelung genießen. Ansonsten gibt es eine konjunkturelle Belebung, die sich auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt, die aber schon angesichts der hohen Zahl der verbleibenden Arbeitslosen zu keinerlei Euphorie Anlass gibt.
    Zu den Einzelheiten zitiere ich Auszüge aus einer zusammenfassenden Analyse des Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit durch Otto Meyer (Ossietzky)/Quelle: linksnet: Der Bericht selbst ist als PDF Datei bei der Bundesagentur abrufbar:

    Die Kommentatoren und Schlagzeilenmacher am Tag danach sind sich überwiegend einig, endlich gehe es aufwärts in Deutschland. Der wirtschaftliche Aufschwung gewinne an Fahrt und habe jetzt auch den Arbeitsmarkt erreicht. Kontrovers diskutiert wird lediglich noch die Frage, ob »wir« augenblicklich die Früchte aus Schröders oder schon aus Merkels Reformen ernten könnten.

    Ein genauerer Blick in den kompletten Bericht der Arbeitsagentur aus Nürnberg führt allerdings bald zu Irritationen. Zunächst scheinen einige der als positiv ausgewiesenen Trends zu stimmen: Im März 2007 ist die Zahl der von Amts wegen registrierten Arbeitslosen gegenüber dem Vormonat um 114.000, saisonbereinigt (im Frühjahr gibt’s regelmäßig mehr Arbeit) immerhin noch um 65.000 gesunken. Sie liegt jetzt noch bei 4,108 Millionen; gegenüber den Zahlen von vor einem Jahr soll es eine Abnahme um 869.000 gegeben haben. Der Bericht weist darauf hin, dass dies auf die gestiegene Zahl der Erwerbstätigen zurückzuführen sei.
    Doch hier zeigt sich eine auffällige Differenz: Es sind fast 300.000 mehr aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden, als bei der Zunahme in der Zahl der Erwerbstätigen wieder auftauchen. Ein Grund hierfür findet sich in dem Hinweis der Bundesagentur, dass sie »die systematische Überprüfung des Arbeitslosenstatus von Arbeitslosengeld II-Empfängern« verstärkt habe. Da fallen dann nicht nur die Unterstützungszahlungen nach Hartz IV weg, die Betroffenen melden sich nicht mehr und werden aus der Statistik gestrichen. Ähnlich ergeht es jenen, die in die Selbständigkeit als Ich-AGler gedrängt oder zur Annahme von Minijobs gezwungen werden. Sobald jemand 15 Wochenstunden arbeitet, zählt er nicht mehr als arbeitslos, obwohl in der Regel weiterhin Anspruch auf Leistungen nach Hartz IV besteht. Müntefering arbeitet ja daran, dass »wir« noch besser werden …

    Noch größer werden die Irritationen beim Blick auf die Gesamtzahlen. So soll es im März 2007 noch 1,342 Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld I gegeben haben, aber als »arbeitslos« aus dieser Gruppe zählen nur 1,020 Millionen. Erklärt wird hierzu, dass alle, die zum Beispiel »vorruhestandsähnliche Regelungen« in Anspruch nehmen, nicht mehr mitgezählt werden – die betroffenen Älteren müssen ja erklären, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Aus der Statistik fallen auch jene heraus, die sich »in einer Trainingsmaßnahme« (= Fortbildung, veranlasst durch die Arbeitsagentur) befinden. Beide Streichungen aus der Statistik wurden unter Rot-Grün zur Verschönerung der Arbeitslosenzahlen vorgenommen.

    Ähnliches geschieht bei der statistischen Erfassung der Empfänger von Arbeitslosengeld II: Ausgewiesen für März 2007 werden 5,194 Millionen. Ihre Zahl ist gegenüber März 2006 sogar um 35.000 gestiegen. Aber als »arbeitslos« erscheinen davon nur 2,634 Millionen. Warum werden die übrigen 2,560 Millionen – fast die Hälfte – nicht mitgezählt? Als statistische Ausschluss-Gründe nennt die Arbeitsagentur »Schulbesuch« (erwünscht), »die Beschäftigung in einer Arbeitsgelegenheit« (= Ein-Euro-Jobber), »die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme« (von der Agentur gefordert) »oder die Betreuung kleiner Kinder oder Angehöriger«. Korrekt wäre es meines Erachtens nur, die letzte Gruppe herauszurechnen. Alle anderen sind auf der Suche nach einer Beschäftigung und müssen in der Regel ihre »Qualifizierungsmaßnahmen« abbrechen, sobald sich eine Beschäftigung findet. Warum gelten sie nicht mehr als »Arbeitslose«?

    Die Bundesagentur zählt korrekt die Zahlen der Empfänger von Arbeitslosengeld I und II zusammen: »Alles in allem bekamen damit 6.427.000 erwerbsfähige Menschen Lohnersatzleistungen.« Niemand aus der Regierung oder aus der Phalanx der Medien-Meinungsmacher sollte behaupten, er wisse nicht, dass mehrere Millionen mehr in diesem Lande ohne ausreichenden Job sind als die jetzt vorwiegend zitierten 4,1 Millionen. Die eigene Behörde hat über sechs Millionen erfasst. Fachleute schätzen, dass tatsächlich sieben bis acht Millionen Menschen auf der Suche nach einem Beschäftigungsverhältnis sind, in das sie ihre Fähigkeiten einbringen und von dem sie leben können. ….


    Quelle: linksnet

    Soweit die Analyse des Monatsbericht der Bundesagentur. Die von dieser erfasste Zahl von über 6 Millionen Menschen ohne ausreichenden Job sagt sehr viel über die Realität im so genannten Wirtschaftswunderland. Die dadurch gekennzeichnete prekäre Lage prägt die Stimmung der Mehrheit der Menschen. Spiegel-Redakteure leben offenbar weit weg von dieser deutschen Realität.

  3. Der Spiegel preist die Reformschritte auf dem Arbeitsmarkt und nennt in diesem Kontext die Erleichterung der Zeitarbeit durch die frühere Bundesregierung einen wichtigen Reformschritt. Damit sei der beschäftigungshemmende Kündigungsschutz ausgetrickst worden.

    Das ist die übliche neoliberale Argumentation. Dabei wird außer Acht gelassen, dass mit den geringer bezahlten Leiharbeitsverhältnissen die Beiträge zu den Sozialkassen verringert werden. Ohne das heftige Wachstum der Leiharbeit gebe es deutlich mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit besseren Einkommen und mehr Einnahmen für die Sozialkassen. Mit der Ausweitung der Leiharbeit wurde der Anteil der Niedriglöhne ausgeweitet, mehr Menschen in unsichere und unwürdige Arbeitsverhältnisse geschoben und die Einkommensverteilung weiter auseinander gezogen. Das ist eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die man nicht gutheißen kann, wenn man nur ein bisschen über den Tellerrand betriebswirtschaftlichen Denkens hinausschaut. Beim Spiegel offenbar zu viel verlangt.

    Der Spiegel begrüßt die zahlreichen Bündnisse für Arbeit auf Betriebsebene, die zu Arbeitszeitverlängerungen und Gehaltskürzungen geführt haben. Er begrüßt den gestiegenen Druck auf Arbeitende und Arbeitslose und insinuiert dabei immer wieder, dadurch seien Arbeitsplätze geschaffen worden. Das ist im Kern nicht richtig. Mit diesen Maßnahmen ist der Druck auf die Löhne und Gehälter erhöht worden und die Einkommensverteilung zwischen unten und oben ist hat sich auseinanderentwickelt. Dass die Betriebe neue Leute eingestellt haben, ist die Folge der konjunkturellen Belebung und nicht die Folge der Arbeitsmarktreformen.
    Diese Tatsache zu verleugnen ist der alte, bekannte Fehler der Reformer. Die Bedeutung der Makroökonomie haben sie weder in der tiefen Rezession noch jetzt beim leichten Aufschwung begriffen.

    Der Spiegel lobt die Streichung der Anreizprogramme für Frühverrentung. Das ist schön und gut, hat aber partout nichts mit der jetzigen Wirtschaftsbelebung zu tun. Diese „Anreizprogramme“ laufen nämlich erst 2009 aus. Es ist absoluter Unfug, das mit dem Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt von heute in Verbindung zu bringen.

  4. Der Spiegel schreibt: „Deutschland erlebt einen geradezu mustergültigen Aufschwung, der allerdings auch ausländischer Nachfrage zu verdanken ist.“

    Richtig ist:

    Es ist gerade kein mustergültiger Aufschwung, unter anderem deshalb, weil er fast ausschließlich (und nicht nur „auch“) ausländischer Nachfrage zu verdanken ist. Deutschland hat seit 2003 zwei- und dreistellige Leistungsbilanzüberschüsse, 2006 einen solchen von über 116 Mrd. Euro; wenn im Innern nicht so viele wirtschaftspolitischen Fehler gemacht worden wären, hätte diese extreme Wettbewerbsfähigkeit sich schon früher in einem Aufschwung niederschlagen müssen.
    Unsere hohen Leistungsbilanzüberschüsse zeugen zwar von hoher Wettbewerbsfähigkeit, aber anders als beim Redakteur des Spiegels sollte diese Erscheinung Nachdenklichkeit auslösen. Wir exportieren auf diese Weise nämlich Arbeitslosigkeit und Leistungsbilanzschwierigkeiten auch in unsere europäischen Nachbarländer. Von deren guter wirtschaftlicher Entwicklung sind wir jedoch auch abhängig, wir müssten also ein Interesse an der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dieser unserer Partner haben. Mit Sicherheit können wir kein Interesse an einem weiteren Euro-Anstieg haben, weil dies zwar Deutschland angesichts der hohen Wettbewerbsfähigkeit weniger trifft, unsere engen Partner Frankreich, Italien, Spanien und so weiter aber sehr wohl. – Eine solche differenzierte Betrachtung ist dem Spiegel offenbar fremd.

  5. Der Spiegel feiert das Verdienst der Tarifpartner am Aufschwung. Die Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen habe dazu geführt, dass die Lohnstückkosten sanken, jedenfalls nicht so stark stiegen wie in anderen Ländern. Und dann wird eine Grafik abgebildet, die das Auseinanderdriften der Lohnstückkosten zwischen Deutschland und anderen europäischen Staaten und der EU-15 insgesamt zeigt. Und auf dem Hintergrund dieser gefeierten Entwicklung wird dann wie üblich vor zu hohen Lohnabschlüssen und Mindestlohnplänen gewarnt. „Damit würde die mühsam gewonnene Flexibilität wieder gefährdet.“ So wird der Mannheimer Ökonom Franz als so genannter Experte zitiert.

    Richtig ist,

    dass die Stagnation der Löhne in Deutschland zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen hat. Aber das ist aus vielerlei Gründen keine Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme. Erstens wird – siehe oben – dadurch die Wettbewerbsfähigkeit wichtiger Euro-Partner beeinträchtigt, was auf Dauer jedenfalls in einem gemeinsamen Währungsraum nicht geht und auf uns zurückschlagen muss. Zweitens haben die Löhne eine Doppelfunktion. Stagnieren sie weiter, dann wird die Schwäche der Binnennachfrage noch weiter verschärft und das so genannte Wirtschaftswunder bleibt eine sehr einseitige Angelegenheit.
    Schlicht falsch ist die Aussage, dass bei einer Rückkehr zu normalen Lohnabschlüssen, also etwa 4 % (= ca. 2 % Lohnstückkostenzuwachs angesichts einer zu erwartenden Produktivitätssteigerung von circa 2%) die Wettbewerbsfähigkeit leiden würde. Nein, bei solchen Abschlüssen bliebe die extrem hohe Wettbewerbsfähigkeit genau erhalten, würde nur nicht noch weiter gesteigert, weil im Rest der Welt die Lohnstückkosten auch mit 2 % steigen. Genau wegen dieses Sachverhalts ist es unumgänglich, dass in D. die Löhne wieder normal steigen…oder wollen wir alle anderen für immer von den Märkten verdrängen…und dann Transfers für ihre herunterkonkurrierten Volkswirtschaften zahlen wie nach Ostdeutschland, damit sie unsere unschlagbaren Güter kaufen können???

    Die Grafik des Spiegel zum Lohnstückkostenvergleich zwischen verschiedenen Ländern enthält übrigens noch eine Ungenauigkeit. Es wird nicht notiert, in welcher Währung verglichen wird. Vermutlich in Euro. Das würde erklären, dass die Lohnstückkosten in Großbritannien von 2002 auf 2003 rasant gesunken sind. Damals gab es nämlich eine deutliche Abwertung des britischen Pfund, die den markanten Knick nach unten in der Kurve Großbritanniens bei den Lohnstückkosten erklären könnte. In britischen Pfund gerechnet wären die Lohnstückkosten Großbritanniens vermutlich ähnlich stark gestiegen wie die Italiens. So korrekt gerechnet und dargestellt hätte der Autor des Spiegels ein Erklärungsproblem. Er müsste erklären, warum der Anstieg der Lohnstückkosten im Falle Großbritanniens nicht gefährlich ist.

  6. Im Spiegel werden die hohen Steuereinnahmen bewundert und als einzigartig dargestellt.

    Richtig ist:

    Dass die Steuereinnahmen steigen, hat nichts Wundersames an sich. Bei einer Gewinnexplosion, wie wir sie in der letzten Zeit hatten, war auch ein starker Anstieg der Gewinnssteuern zu erwarten. Außerdem wirken sich die dreiprozentige Mehrwertsteuer-Erhöhung und die zahlreichen Kürzungen von Steuervergünstigungen wie der Pendlerpauschale oder der Nacht- und Feiertagszuschläge aus.

    Der Spiegel weist leider nicht darauf hin, dass wir zum Beispiel bei der Körperschaftsteuer, also einer wichtigen Steuer bei Unternehmen, heute noch nicht einmal wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht haben. Hier der Verlauf:

    2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
    23,6 Mrd Euro – 0,4 2,9 8,3 13,1 16,3 22,9 20,8*

    *Arbeitskreis Steuerschätzung von November 2006 / Quelle: Bundesfinanzministerium

    Nach der aktuellen Schätzung wird also die Körperschaftssteuer im Jahr 2007 nicht einmal nominell das Niveau von 2000 erreichen. Real (nach Abzug der Inflation) liegt sie selbst dann immer noch um mehr als zehn Prozent unter 2000, obwohl Wirtschaftsleistung und Gewinne heute deutlich höher sind als vor sieben Jahren.

    Der Spiegel bewundert die Konsolidierungserfolge. Das ist bei konjunkturellen Belebungen keine neue Erscheinung:Schon beim letzten kleinen Boom von 1997 bis 2000 war es möglich, dass wegen der konjunkturellen Entwicklung und der damit verbundenen Steuereinnahmen die Staatsneuverschuldung insgesamt reduziert werden konnte. Siehe folgende Abbildung aus „Machtwahn“:

    Abbildung: Jährlicher Anstieg der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte (in Milliarden Euro) zwischen 1988 und 2005 (Juni)

    Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten 2005/06, Wiesbaden 2005, S. 79*.

    Dass das Staatsdefizit jetzt geringer wird, ist auch die Folge der extrem niedrigen Investitionen der öffentlichen Hand. Ob wir das beklatschen sollten, möchte ich bezweifeln. Für die wirtschaftliche Zukunft unserer Volkswirtschaft wäre es wichtig, die öffentliche Infrastruktur vor weiterem Verfall zu bewahren und im Gegenteil neu zu investieren.
    Auch ist es höchst zweifelhaft, ob einige der Restriktionen bei den so genannten Konsumausgaben des Staates sinnvoll sind: die reale Absenkung des BAFÖG, Personalabbau und Einkommensstagnation im öffentlichen Dienst, Einführung von Studiengebühren, usw.

  7. Der Spiegel behauptet, die Mehrwertsteuererhöhung sei verdaut.
    Die Bundesbank sieht das in ihrem Monatsbericht vom April anders. Nach ihrer Einschätzung hat die Mehrwertsteuererhöhung Konsum und Wachstum gedämpft. Nach meiner Einschätzung hat gerade die Mehrwertsteuererhöhung verhindert, dass mehr als ein mittelmäßiges reales Wachstum möglich wurde. Selbstverständlich kommt der Spiegel nicht auf die Idee, zur Mehrwertsteuererhöhung kritisch anzumerken, dass sie eine Bestrafung der auf den Binnenmarkt orientierten Wirtschaft und wegen der Entlastung der Exporte eine Förderung der Exportwirtschaft darstellt. Das ist das Gegenteil dessen, was wir heute brauchen.
    Auch hier ist der Spiegel ohne jeglichen aufklärerischen Biss.
  8. Warum versucht der Spiegel der jetzigen Wirtschaftsbelebung eine besondere Qualität und Quantität, ja sogar den Charakter eines Wirtschaftswunders zuzuschreiben? Das ist einleuchtend: Der Spiegel konstruiert eine besondere Dynamik des Aufschwungs, weil nur damit ein Zusammenhang zwischen Reformen und Wirtschaftsbelebung hergestellt werden kann. Hätte der Aufschwung keine besondere Qualität, würde er sich nicht unterscheiden von den Aufschwüngen aus der Zeit vor den Reformen, dann könnten die Reformen nicht als Ursache hochgejubelt werden. Logisch ist der Zusammenhang zwischen Reformen und konjunktureller Belebung sowieso nicht, also muss man ihn konstruieren, in diesem Fall durch Übertreibung der tatsächlichen wirtschaftlichen Erholung.

    In diesem Zusammenhang ist auch die Zuschreibung des Wirtschaftswunders an Angela Merkel bemerkenswert: „Aufmerksam wird die neue deutsche Dynamik unter Regierungschefin Angela Merkel im Ausland registriert“, meint der Spiegel und zitiert dann die Financial Times aus London mit deren Empfehlung des neuen deutschen Wirtschaftswunders „als Vorbild für weniger dynamische Volkswirtschaften wie Frankreich oder Italien.“

    Wenn der Autor des Spiegels auch nur ein bisschen Gedächtnis hätte oder ein solches bemühen würde, dann müsste ihm einfallen, dass die Regierungschefin Angela Merkel ihr und unser Land noch im Juni 2006 einen „Sanierungsfall“ nannte. Was ist denn seitdem an zukunftsweisenden Reformen durchgesetzt worden, was den „Sanierungsfall“ zum Wirtschaftswunderland machen würde? Und um die ganze Unvernunft der Spiegel-Einlassungen zu begreifen ist es gut, sich zu vergegenwärtigen, dass der gesamte Artikel des Spiegels um die Interpretation einer Entwicklung zwischen März 2006 und 2007 kreist. Für diesen Zeitraum hat immerhin unsere Bundeskanzlerin schon festgestellt, wir seien ein Sanierungsfall. Jetzt wird ihr vom Spiegel das Verdienst zugeschrieben, den Sanierungsfall über Nacht zum Wunder gemacht zu haben. Toll.

  9. Der Spiegel-Autor wundert sich dann noch ausführlich über die Widerlegung zweier angeblicher Gesetzmäßigkeiten, denen die herrschende Wirtschaftswissenschaft und mit ihr verbundene Publizistik zugeneigt sind.
    • Der Autor wundert sich darüber, dass die so genannte „Beschäftigungsschwelle“ merklich gesunken sei. Der Beschäftigungsaufbau setzt schon bei einem geringeren Wachstum als früher ein und falle dann höher aus mit höherem Wachstum. Diese Beschäftigungsschwelle – im konkreten Spiegel offenbar in nicht ausgesprochener Erkenntnis des Blödsinns auch Beschäftigungswelle genannt – ist keine besondere ökonomische Erkenntnis. Die unterstellte Schwelle, also der Wachstumswert, bis zu dem es keinen deutlichen Beschäftigungszuwachs gibt, entspricht ungefähr dem Wachstum der Arbeitsproduktivität. Wenn dieses wie im vergangenen Jahr bei 1,9% liegt und das reale Wachstum diese Marke überschreitet, dann bedeutet das, dass simultan mehr Leute beschäftigt oder die gleichen Leute länger beschäftigt werden müssen. Wenn das Wachstum der Arbeitsproduktivität steigt, was angesichts neuer Investitionen und damit meist auch neuer Technologien aus meiner Sicht wahrscheinlich ist, dann wird auch diese so genannte Beschäftigungsschwelle ansteigen. Nur bei höheren Wachstumsraten werden dann entsprechende Beschäftigungseffekte eintreten. Irgendetwas Wundersames ist daran nicht.
    • Ähnlich irrational ist das Konzept der so genannten Sockelarbeitslosigkeit; im Spiegel-Artikel ist vom „ehernen Gesetz“ der Sockelarbeitslosigkeit die Rede. Damit sei die Beobachtung gemeint, dass in den vergangenen 30 Jahren die Arbeitslosenzahl am Ende eines Konjunkturzyklus immer höher als zu seinem Beginn gelegen habe. Das ist kein ehernes Gesetz sondern schlicht die statistische Erfassung der Ergebnisse von Fehlern der Makroökonomie. So wurde gegen Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts der erfolgreiche Versuch, mit den Folgen der Ölpreisexplosion durch makroökonomisches Gegensteuern fertig zu werden, abgebrochen. Und der Boom aus der Kohl-Zeit Ende der Achtziger und kombiniert mit dem Einheitsboom nach 1990 wurde 1992 willentlich von Bundesbank und Finanzpolitik abgebrochen. Und die Arbeitslosigkeit blieb auf einem höheren Niveau hängen. Mit einem ehernen Gesetz hat das nichts zu tun und deshalb wird es, wenn es in den nächsten Jahren gelingen sollte, die Arbeitslosigkeit zu drücken, auch nicht um den Bruch eines ehernen Gesetzes gehen, sondern um eine hoffentlich vernünftigere makroökonomische Politik.
      Letzteres kann man nur wünschen. Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht ist angesichts der miserablen und irreführenden Begleitung der Wirtschaftspolitik durch solche Artikel wie den hier analysierten des Spiegels 17/2007 zweifelhaft.
  10. Schlussbemerkung:
    Der Spiegel hat jahrelang die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft runtergeschrieben. Das war sachlich nicht begründet, aber erklärbar, weil der Spiegel Strukturreformen befürwortet, die an den Kern der Sozialstaatlichkeit gehen. Deshalb musste man das Land schlechtreden. Jetzt beginnt man bei einem geringen Wachstum von 2 bis 2,5% offenbar das gegenteilige Spiel und stellt die Entwicklung als Boom und Wunder dar. Das ist genauso unsinnig. Aber auch das ist erklärbar. Der Spiegel befürwortet die Fortsetzung der so genannten Reformpolitik und setzt dabei wie schon vor der Wahl auf Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Keine Spur vom einstmals vorhandenen Charakter eines kritischen Nachrichtenmagazins. Dafür um so mehr vom Charakter eines plump agitierenden Kampfblattes.

    Für Menschen, die sich noch eigene Gedanken machen, ist dies das falsche Medium zur Information. Will man sich allerdings in beliebige, von der Realität weit entfernte Stimmungen versetzen lassen, dann sollte man beim Spiegel bleiben.


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