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Titel: “24-Stunden-Pflege in Privathaushalten ist ein Massenphänomen” – Ein Interview mit Ingeborg Haffert

Datum: 19. Dezember 2014 um 9:58 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Interviews, Pflegeversicherung
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Man weiß, dass es sie gibt, liest und hört aber kaum etwas über sie: Menschen aus Osteuropa, die unter fragwürdigen Arbeitsbedingungen und für vergleichsweise wenig Geld Seniorinnen und Senioren in Privathaushalten pflegen. Die WDR-Journalistin Ingeborg Haffert hat dazu jüngst unter dem Titel “Eine Polin für Oma” ein Buch veröffentlicht, das sich mit der Beschäftigung polnischer Pflegekräfte in deutschen Familien befasst. Sie hat dafür mit Pflegekräften, Pflegebedürftigen und ihren Familien gesprochen; sie hat einen Blick geworfen auf die jeweilige Misere, in der die handelnden Personen stecken. Patrick Schreiner[*] hat sich mit Ingeborg Haffert über ihre Recherchen unterhalten.

In der Regel handelt es sich bei Pflegekräften in deutschen Privathaushalten um Frauen und Männer aus Osteuropa, die quasi 24 Stunden am Tag pflegerisch tätig sind. Ist das aus Ihrer Sicht ein Massenphänomen?

Ingeborg Haffert: Ja, das wird schon deutlich, wenn man sich allein die Zahlen anschaut. Von offizieller Seite und auch von Gewerkschaften wird die Zahl auf etwa 200.000 geschätzt. Die Frankfurter Soziologin Helma Lutz, die sich sehr intensiv mit diesem Thema befasst, spricht von einer hohen Dunkelziffer. Sie schätzt die Gesamtzahl sogar auf 500.000 Frauen und Männer, die bei uns, oft hinter verschlossenen Türen, alte Menschen pflegen. Man erkennt eine polnische Pflegekraft per se nicht an ihrem Äußeren. Wenn sie an der Supermarktkasse vor ihnen steht, würde sie ihnen nicht weiter auffallen. Wenn diese Menschen alle ein rotes Fähnchen in der Hand halten würden, dann würden wir uns wundern, wie viele wir im Straßenbild sehen. Das ist ein Massenphänomen.

Eigentlich müsste man angesichts dieser Zahlen meinen, dass dieses Thema in Presse und Öffentlichkeit sehr viel breiter aufgegriffen würde. Wie kommt es, dass wir über Pflege in Privathaushalten kaum lesen und kaum reden?

Ingeborg Haffert: Ich glaube, das liegt daran, dass alle Beteiligten aus verschiedenen Gründen nicht darüber reden möchten. Da gibt es Ängste. Die pflegerisch tätigen Frauen möchten nicht darüber reden, weil sie Angst haben, dass das Familieneinkommen auf dem Spiel steht. Es hängen oft ganze Familien an diesem einen Einkommen, das die Frauen hier in deutschen Haushalten erwirtschaften. Entsprechend schwer war es bei meinen Recherchen, an sie heranzukommen. Aber auch die Angehörigen der zu Pflegenden wollen ungern darüber reden. Sie haben oft ein schlechtes Gewissen, weil sie sich selbst nicht mehr um ihre Eltern kümmern, sprich kümmern können. Mit einem schlechten Gewissen geht man auch nicht an die Öffentlichkeit. Die alten Menschen wiederum leben oft zurückgezogen und würden solch ein Thema sicherlich auch nicht an die Öffentlichkeit bringen. Und die Vermittlungsagenturen, durch die viele osteuropäische Pflegekräfte in die Privathaushalte kommen, werden es auf keinen Fall öffentlich thematisieren – sie können kein Interesse daran haben, dass jemand ihre Machenschaften aufdeckt. So kann die Politik eigentlich ganz zufrieden sein: Alle machen ihre Arbeit; das Ganze passiert hinter privaten Haustüren, hinter die niemand schaut; Kontrollen gibt es so gut wie keine, auch bei Schwarzarbeit nicht. Insofern sage ich mal etwas ironisch, kann sich die Politik zurücklehnen und sagen: “Läuft doch!”

Aber es läuft nicht wirklich?

Ingeborg Haffert: Nein, es läuft überhaupt nicht. Das habe ich festgestellt, als ich diese Haustüren geöffnet habe. Ich bin ja in verschiedenen Familien gewesen. Ich habe mit den Frauen, also den Pflegekräften gesprochen. Ich habe mit den Familien und mit den Senioren Gespräche geführt. Es gibt auf allen Seiten große Probleme. Und diese Probleme werden nirgendwo thematisiert. Es gibt auch keine Beratungsstelle, die diesen drei Parteien irgendwie zusammenhilft. Da gibt es nur eine Art Sorgentelefon, das thematisiere ich auch in meinem Buch. Das ist unter anderem die Beratungsstelle des DGB-Projektes “Faire Mobilität” in Berlin. Sylwia Timm sitzt dort am Telefon und hört sich täglich die Sorgen und Nöte der Pflegekräfte an. Sie kann sich so ein Bild machen von dem, was da in den Häusern und in den Familien los ist. Aber tun kann sie eigentlich auch nichts, denn das ist Privatbereich. Das ist keine Firma, in die man einfach mal reingehen kann, um zu kontrollieren. Die Tür ist zu, und in den meisten Fällen bleibt sie auch zu.

Was bedeutet es für Pflegekräfte im Ausland tätig zu sein? Was bedeutet es, möglicherweise sogar die eigene Familie – Kinder, eventuell pflegebedürftige Eltern – im Herkunftsland zu lassen und im Ausland zu arbeiten?

Ingeborg Haffert: Ich habe in meinem Buch die Situation einfach mal umgedreht. Ich finde, das macht es am deutlichsten. Stellen sie sich einfach mal vor, sie würden in einem Bus an die weißrussische Grenze gekarrt und vor irgendeinem Privathaushalt rausgelassen mit dem Hinweis, hier ist für die nächsten Monate ihr neues Zuhause. Sie steigen aus, vor ihnen stehen Menschen mit großen Augen und großen Erwartungen. Sie können noch nicht einmal “Guten Tag” sagen, weil sie deren Sprache nicht sprechen. Sie bekommen ihr kleines Zimmerchen im Dachgeschoss gezeigt. Es ist ein ausrangiertes Zimmer, in dem vielleicht früher mal die Kinder geschlafen haben. Und das ist jetzt ihr neues Zuhause. Und sie wissen, sie werden dieses Haus sehr wahrscheinlich in den nächsten Monaten nicht verlassen, weil sie 24 Stunden am Tag und sieben Tage pro Woche dort arbeiten. Schon die Vorstellung macht Beklemmung.

Und was bedeutet das für die Herkunftsfamilien?

Ingeborg Haffert: Es ist eigentlich unvorstellbar, was diese Familien aushalten. Die Mutter geht von heute auf morgen. Der Ehemann und Vater bleibt alleine mit den Kindern zuhause – wobei das ja schon ein Glücksfall ist, wenn es den Vater noch gibt. Das kann auf Dauer keine gesunde Beziehung bleiben. Diese Frauen verlieren auf eine sehr schleichende Art und Weise ihre Familien; ich würde fast sagen: alle diese Frauen. Sie fühlen sich letztendlich nirgendwo mehr zuhause. Wenn sie nach Hause kommen, merken sie das auch. Da werden natürlich ganz große Erwartungen an sie gerichtet. Da sind Kinder, die sauer sind, dass die Mutter nie da ist, wenn sie Schulprobleme oder Liebeskummer haben. Die Mutter ist einfach nicht da. Sie wird da nicht mit offenen Armen empfangen, sondern sie muss sich sehr bemühen, zu kompensieren, dass sie so lange nicht da war.

Sie schreiben auch von Schuldgefühlen der Frauen…

Ingeborg Haffert: Ja, diese Frauen haben alle Schuldgefühle, ihren Partnern und vor allem ihren Kindern und Enkelkindern gegenüber. Das sind Schuldgefühle, weil sie einfach nicht da sein können. In Polen ist Familie vielleicht sogar noch wichtiger als bei uns. Das ist der Bereich, in dem man sich zurückziehen kann, in dem man auf Verlässlichkeit und Verbindlichkeit trifft. Diese zu verlassen, ist ein großer und schmerzhafter Schritt.

Wie sind die Arbeitsbedingungen in den Privathaushalten? Sie haben schon Arbeitszeiten von 24 Stunden an 7 Tagen pro Woche erwähnt – das Arbeitszeitgesetz wird bei solchen exzessiven Arbeitszeiten also schon einmal nicht eingehalten.

Ingeborg Haffert: Ich finde es verblüffend, dass deutsche Familien diese Frauen zu Bedingungen beschäftigen, zu denen sie selbst niemals arbeiten würden. Es wird fast noch so getan, als mache man diesen Frauen einen großen Gefallen, wenn man ihnen ein Fahrrad zur Verfügung stellt und ihnen zwei Stunden am Tag frei gibt, vielleicht sogar noch den Sonntag dazu. Das Bewusstsein, dass es nicht in Ordnung ist, was da passiert – das war gar nicht da. Manche hatten sogar noch das Gefühl, man tut den Polinnen einen Gefallen, da sie hier dreimal mehr verdienen als zuhause. Ich finde dieses Denken falsch. Ich kann zwar nicht sagen, dass per se alle Frauen hier unterdrückt und versklavt werden. Das wäre weit übertrieben. Aber die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, sind in sehr vielen Fällen nicht in Ordnung. Auch, weil die Angehörigen ihre Eltern und Schwiegereltern zu sehr bei den Pflegekräften abgeben. Sie sagen: “Jetzt haben wir hier die Olga, die kümmert sich, und wir können uns zurückziehen.” Das ist nicht fair. Die Pflegekräfte brauchen unbedingt die Unterstützung der Töchter und Söhne der Angehörigen. Diese müssten eigentlich regelmäßig vorbeikommen und nachfragen, was sie tun können, um die Pflegekräfte zu entlasten. Und natürlich müssten sie einen fairen Lohn zahlen. Ich will allerdings auch betonen, dass alle drei Parteien – Pflegekräfte, zu pflegende Senioren und Angehörige – schlicht aus einer Notsituation heraus handeln. Diese Personen tun das, was sie tun, nicht, weil sie faul sind oder ihnen alles egal ist. Den polnischen Pflegekräften ist es auch nicht egal, was aus ihren Familien wird. Alle drei Parteien stecken in einer Notsituation. Deswegen liegt es mir sehr fern, irgendjemandem einen Vorwurf daraus zu machen.

Sind diese Arbeitsverhältnisse legal?

Ingeborg Haffert: Da bin ich in meinem Buch eindeutig: Ich denke, die einzige Form der Beschäftigung muss ein Vertrag nach deutschem Arbeitsrecht sein. Die so genannte Entsendung, so wie sie von den Vermittlungsagenturen betrieben wird, ist eine Beschäftigungsform in der rechtlichen Grauzone. Sie ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Es gibt viele ganz findige Juristen, die sich mit den Beschäftigungsverhältnissen polnischer Pflegekräfte beschäftigen. Das sind kluge Menschen, die genau wissen, wie sie das deutsche Recht so umgehen, dass es gerade noch legal ist und man dagegen gerade nicht klagen kann. Und so ist es eben möglich, dass viele Frauen per Entsendung durch polnische Unternehmen nach polnischem Arbeitsrecht hierhergeschickt werden. Sie arbeiten dann hier für eine polnische Firma, die formell weisungsbefugt ist. Das ist jenseits aller Praxis, denn natürlich kann ein Arbeitgeber, der in Polen sitzt, dieser Frau in Deutschland nicht sagen, was sie zu tun und zu lassen hat. Der bekommt doch gar nicht mit, was hier los ist. Letztlich ist immer die Familie der Arbeitgeber. Deswegen finde ich, muss der Vertrag auch entsprechend zwischen Familie und Pflegekraft geschlossen werden – mit allen Rechten, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gelten.

Sie sprechen meist von Polen als Herkunftsland und von weiblichen Pflegekräften. Wie ist es mit anderen Ländern, und gibt es auch männliche Pflegekräfte?

Ingeborg Haffert: Es sind in der Mehrzahl polnische Pflegekräfte, deswegen auch der Titel des Buches “Eine Polin für Oma”. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch Rumäninnen oder Ukrainerinnen gibt. Was den Anteil der Männer angeht: Je höher die Arbeitslosigkeit in Polen ist, umso mehr Männer kommen auch hierher, um zu pflegen. Ich war ganz erstaunt. Anfangs dachte ich, das sind absolute Ausnahmen. Dem ist aber nicht so. Man kann mittlerweile von 20 bis 30 Prozent Männern in der häuslichen Pflege in Deutschland ausgehen. Die meisten Männer halten das allerdings geheim. Sie sagen: “Ich arbeite in Deutschland, habe dort einen Job” – aber sie erzählen zuhause nicht, was sie hier machen. Das ist mit Scham verbunden. Die meisten polnischen Männer, die in Deutschland arbeiten, sind etwa auf dem Bau oder als Saisonarbeiter tätig. Hingegen ist es in Polen wohl noch sehr fremd, dass Männer pflegerisch tätig sind. Deswegen verschweigen sie es meist.

Nun haben wir viel über die Pflegekräfte gesprochen. Was bedeutet es denn für die Pflegenden, wenn plötzlich fremde Menschen, die oft kein Deutsch sprechen, in den persönlichen Intimbereich eindringen?

Ingeborg Haffert: Ja, das tun sie im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie waschen die alten Menschen ja auch. Das sind höchst intime Momente. Eine alte Dame, die von einem polnischen Ehepaar gepflegt wurde, hat mir gesagt, sie hätte es ausgesprochen rücksichtsvoll gefunden, dass sie ausschließlich von der Frau gewaschen wurde. Also nicht von dem Mann. Viele zu Pflegende finden es erstmal nicht schön, wenn plötzlich ein – wie sie es nennen – “Ausländer” in großer Nähe zur Familie mit im Haus lebt. Wenn die Angehörigen das Gespräch mit den Eltern oder Schwiegereltern über die Möglichkeit einer polnischen Pflegekraft begonnen haben, war da zunächst fast immer eine große Abwehr. Das haben mir fast alle Angehörigen erzählt. Und die Senioren haben mir auch berichtet, dass sie eine große Sehnsucht nach ihren Kindern haben. Sie wünschen sich eigentlich schon, dass die eigenen Kinder näher heranrücken und die Pflege mit übernehmen. Das sagen sie aber nicht laut, denn sie wollen ihre Kinder nicht unter Druck setzen. Sie erklären sich letztendlich einverstanden mit der Lösung einer polnischen Pflegekraft, weil sie Angst haben, sonst ins Pflegeheim zu müssen.

Was wäre aus ihrer Sicht politisch zu tun, um die Situation zu verbessern – sowohl die Situation der zu Pflegenden als auch die Situation der Pflegekräfte?

Ingeborg Haffert: Ich habe in meinem Buch das Beispiel Österreich erwähnt. In Österreich unterstützt der Staat die Anstellung einer Pflegekraft nicht nur finanziell, sondern er verlangt ganz klar auch, dass diese Pflegekräfte bestimmte Qualifikationen mitbringen. Das sind sprachliche und pflegerische Qualifikationen. Der Staat mischt sich ein, kontrolliert und legt Standards fest. Die gibt es ja bei uns gar nicht, hier kann jeder sich Pflegekraft nennen. Das wäre eine erste Maßnahme. Was die Politik ansonsten tun müsste, wäre, dieses Thema mehr in die Öffentlichkeit zu tragen. Man darf es nicht einfach an die Privatfamilien abschieben und sie damit alleine zu lassen. Wir haben hier ein gesellschaftliches Problem. Wir haben viele alte Menschen, die versorgt werden müssen, und zu wenige, die sich kümmern können. Wir brauchen eine öffentliche Debatte darüber. Dieses Thema aber kommt allenfalls mal am Rande vor, etwa wenn Familienministerin Manuela Schwesig vorschlägt, für Angehörige Pflegezeiten einzuräumen. Aber eine öffentliche Debatte über das Thema Pflege gibt es nicht.

Kontrollieren die Behörden in Österreich auch die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte?

Ingeborg Haffert: Ja, das wird kontrolliert. Es wird dafür gesorgt, dass die Verträge stimmen. Und damit wird auch dafür gesorgt, dass das Geld stimmt, das die Pflegekräfte verdienen. Das ist standardmäßig festgesetzt. Und diese Standards brauchen wir hier auch. Jenseits der arbeitsrechtlichen Standards, die wir brauchen, ist es aber vor allem wichtig, dass die deutschen Familien und die osteuropäischen Pflegekräfte Hilfen an die Hand bekommen, damit die häusliche Pflege besser gelingt. Es reicht aus meiner Sicht nicht aus, nur Missstände zu beschreiben. Deshalb gebe ich den Pflegekräften, den Senioren und den Angehörigen in meinem Buch alltagsnahe Hilfestellungen, die den Pflegealltag wesentlich verbessern und erleichtern können.


[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Hannover. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.


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