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Titel: Ein weiterer Beleg für die Öde an der SPD-Spitze

Datum: 28. August 2007 um 9:00 Uhr
Rubrik: Private Public Partnership, SPD, Strategien der Meinungsmache
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Zwei der vom SPD-Vorsitzenden Beck ausersehenen Stellvertreter für den Parteivorsitz, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, haben zusammen mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck ein Buch zur Zukunft der SPD herausgegeben. Der Titel: „Auf der Höhe der Zeit“. Die drei Herausgeber haben ein Vorwort geschrieben, dessen gekürzte Version in der Süddeutschen Zeitung gerade erschienen ist. Dies zu lesen lohnt sich nur, wenn man erfahren will, auf welch niedrigem Niveau die künftige SPD-Spitze angekommen ist, mit welchen Tricks sie arbeiten und was zumindest aus der Sicht der drei Herausgeber die Strategie für die kommenden Jahre sein soll.
Sie werden bei der Lektüre auf sonderbare Erscheinungen stoßen: Albrecht Müller.

  1. In dem gesamten Text gibt es keine einzige Verknüpfung der wortreich vorgetragenen Zukunftsvorstellungen und Lobeshymnen auf die eigene bisherige Politik, mit einer praktischen politischen Tat, einer Maßnahme, einem Gesetz, einem durchgesetzten oder einem beabsichtigten – nichts, nichts wird belegt, nur behauptet und proklamiert.
    Sie fordern die „zeitgemäße Erneuerung der sozialen Demokratie für unsere Zeit“, aber sagen nicht einmal andeutungsweise, was dies praktisch heißt: War Hartz IV eine solche zeitgemäße Erneuerung? Hat dies dem „sozialen Zusammenhalt“ gedient? „Zusammenhalt“, „Demokratie“ und „wirtschaftliche Dynamik“ sind nach Meinung der Autoren die drei Wesenselemente der sozialen Demokratie. – Dient die Steuerbefreiung der Heuschrecken der marktwirtschaftlichen Dynamik? Sie dient dem Ausverkauf deutscher Unternehmen. – Einer der Autoren, Steinbrück, will den Anteil der teilprivatisierten öffentlichen Unternehmen nach dem Schema ÖPP an den öffentlichen Investitionen ähnlich wie in Großbritannien auf 15% erhöhen. Sie lassen zu, dass das öffentliche Unternehmen Deutsche Bahn an der Börse teil-verscherbelt wird. Soll das der Demokratie dienen? – Dient die Senkung der Unternehmenssteuern und die gleichzeitige Erhöhung der Mehrwertsteuer dem sozialen Zusammenhalt? Wir hätten ja gerne gewusst, wie die netten Formeln der Herausgeber sachlich unterfüttert werden. Sie lassen uns das nicht wissen. – Sind die Milliarden-Subventionen für die Privatisierung der Altersvorsorge Symbole der dynamischen Marktwirtschaft? – Soll die Förderung von Minijobs und prekären Arbeitsverhältnissen dem Zusammenhalt dienen? –
    Warum scheuen die Herausgeber jegliche Konkretisierung ihrer Formeln. Vermutlich weil sie hohl sind, Luftblasen. – Was ist denn die „zeitgemäße Erneuerung der sozialen Demokratie“? Wir würden das gerne konkret wissen.
  2. Die Herausgeber haben offensichtlich wenig Ahnung von der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sie biegen sie zurecht, wie es gerade passt, und sie übernehmen gängige Klischees.
    Von Dahrendorf übernehmen sie das Klischee vom 20. Jahrhundert als dem „sozialdemokratischen Jahrhundert“. Ohne Zweifel waren die Arbeitnehmereinkommen in den 60er und 70er des 20. Jahrhunderts mehr gestiegen als heute. Und die soziale Sicherheit war ein anerkanntes Ziel und auch ein Stück weit realisiert. Aber die Einkommens- und Vermögensunterschiede sind auch damals beachtlich gewesen, die Schere hat sich nicht nachhaltig geschlossen. Jedenfalls ist Dahrendorfs Behauptung weit übertrieben. Was er mit seinem Etikett für das 20. Jahrhundert und was andere mit der gezielt falschen Behauptung, die Union sei heute „sozialdemokratisiert“, erreichen wollen, liegt auf der Hand: So kann es nicht weitergehen, es gibt genug soziale Demokratie, es muss zurückgedreht werden. – Die Vertreter der neuen SPD-Spitze durchschauen nicht einmal diesen Trick. Sie fallen darauf herein und verstärken ihn.

    Wie wenig die Herausgeber von der jüngeren Geschichte wissen – oder wie sehr sie sich an Klischees orientieren – wird sichtbar, wenn sie behaupten, wir seien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine national begrenzte Industriegesellschaft gewesen. Das stimmt einfach nicht. Wir waren auch schon in den fünfziger und sechziger und siebziger Jahren eng mit anderen Volkswirtschaften verbunden.
    Hier wird wie üblich eine Zäsur der Geschichte konstruiert, deren Elemente die angeblich neue Globalisierung, das Ende des angeblichen Nationalstaats und die so genannte „Demographie“ sind. Übrigens: Den demographischen Wandel einfach „Demographie“ zu nennen, zeigt auch, wie schlampig die Herausgeber formulieren.
    Sie schreiben von einem „Zeitalter des Wissens“, ohne angesichts des bedrohlichen Niedergangs des Wissens und der Bildung breiter Kreises auch nur Zweifel zuzulassen.

  3. Schon fast amüsant und kabarettreif ist die Behauptung, „in der heutigen Globalisierungsdebatte“ stünden sich „prinzipiell wieder dieselben Gruppen unversöhnlich gegenüber, die schon vor einem Jahrhundert über die Zukunftsperspektiven des Kapitalismus stritten: hier die liberalen Verfechter ungezügelter Märkte, dort die orthodoxen Linken alter Schule, denen Märkte per se mindestens verdächtig sind.“ – Diese sozialdemokratische Spitze hat offenbar noch nicht einmal gemerkt, warum die neue Partei Die Linke ihnen so gefährlich werden wird: weil dort nämlich – jedenfalls wohl von der Mehrheit der führenden Personen – genau jene soziale Demokratie konkret eingefordert wird, die von der SPD-Spitze seit Schröder aufgegeben worden ist. Wenn diese SPD-Spitze in der heutigen Zeit ihre Schlacht gegen „orthodoxe Linke“ schlagen will, dann muss sie den Gegner mit der Lupe suchen. Denn im Kern geht es nur bei wenigen um das, was man „orthodoxe Linke“ nennen könnte, stattdessen geht es doch darum, wie und welche Korrekturen am Marktgeschehen man heute machen muss, um die Marktperformance zu optimieren. Die nun wirklich nicht neue aber dennoch richtige Debatte um Marktversagen und darüber, welche Rahmensetzung man treffen muss, um ein gesellschaftlich optimales Ergebnis zu erreichen, ist an diesen drei Autoren offenbar spurlos vorbeigegangen.
  4. Sie verwickeln sich beim Umgang mit der eigenen Geschichte in Widersprüche, ohne dies zu merken. Einerseits feiern sie die siebziger Jahre als den Kernabschnitt des sozialdemokratischen Jahrhunderts, andererseits polemisieren sie – wie das heute in ihren Kreisen üblich ist – gegen die politischen Inhalte und vor allem gegen die wirtschaftspolitischen Instrumente jener Epoche. Sie behaupten einfach, was damals gewesen sei, sei heute nicht mehr zeitgemäß. Auch hierfür kein einziger Beleg.
  5. Natürlich liefern die Autoren auch keinen Beleg für ihre Behauptung, mit Schröders Agenda 2010 und den Arbeitsmarktreformen sei die Grundlage für Hunderttausende neuer Arbeitsplätze geschaffen wurden.
    Sie loben sich wegen der „Stabilisierung der öffentlichen Haushalte“ und sehen nicht die Folgen: den Niedergang öffentlicher Leistungen und der Infrastruktur.
  6. Irgendwie süß ist ihre Behauptung, es gäbe den mächtigen neoliberalen „Mainstream“ innerhalb der deutschen und europäischen Gesellschaft nicht. Wenn man das liest und mit den täglichen Erfahrungen vergleicht – stagnierende Löhne, explodierende Managergehälter; Privatisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche; Abbau sozialstaatlicher Regelungen; Erhöhung der Steuern für das normale Volk und Senkung der Steuern für die großen Einkommen – dann begreift man die Chuzpe nicht, mit der eine solche Behauptung aufgestellt wird. Aber diese Behauptung ist durchaus verständlich vor dem Hintergrund, dass diese Autoren die beschriebenen Erscheinungen nicht für neoliberal, sondern für „eine zeitgemäße Erneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialmodells halten“, sozusagen für die moderne Art der sozialen Demokratie, des Leitbilds der Autoren.
  7. Und dann die gängige Praxis, einen Popanz aufzubauen und draufzuschlagen. Bestes Beispiel ist die Hauptidee des neuen sozialdemokratischen Grundsatzprogramm: der „vorsorgende Sozialstaat“ statt des „überkommenen Sozialstaats“. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen, was ich als Kommentar zu einem Beitrag von Kurt Beck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben habe:

    Soll dieses „Markenzeichen“ des neuen Grundsatzprogramms eine Idee sein? Mich hat überrascht, dass auch Beck dieses Konstrukt nutzt. Die Formel vom „vorsorgenden Sozialstaat“ ist ein Konstrukt ohne Realitätsgehalt …. Bisherige sozialdemokratische Sozial- und Gesellschaftspolitik war über weite Strecken schon vorsorgend und nicht nur fürsorgend. Zur Erinnerung: Ist die 1975 von der SPD erreichte Einführung des gleichen Kindergeldes statt der ungerechten Steuerfreibeträge ein Akt der Fürsorge gewesen? Sie hat die Familien finanziell fairer ausgestattet, um Kinder zu ernähren und großzuziehen. – Waren die Investitionen der SPD-geführten Regierungen in Bund und Ländern in den Hochschulbau und die Öffnung der Bildung für die Kinder von Arbeitnehmerfamilien „fürsorgende“ Akte? Waren die 1972 eingeführte flexible Altersgrenze oder die in der großen Koalition 1968 eingeführte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter (und nicht nur für Angestellte) Akte der Fürsorge? Waren das Abwasserabgabengesetzes und die Gründung des Bundesumweltamtes und die vielen anderen, in der Zeit der Regierung Brandt begonnenen, umweltpolitischen Maßnahmen Akte der Fürsorge oder der Vorsorge? Wer als Sozialdemokrat das Konstrukt vom »vorsorgenden Sozialstaat« für die eigene Grundsatzprogrammdebatte aufrechterhält, der meint es nicht gut mit der SPD.

  8. Zum vorsorgenden Staat würde eine gute Makropolitik, also eine gute Konjunkturpolitik zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen gehören. Aber dazu fällt den Autoren nichts ein. Diese wichtigen bis wichtigsten Akte der Vorsorge zur Sicherung von Arbeitsplätzen kommen in der Welt dieser SPD-Spitze nicht einmal vor. Deshalb reden sie in ihrem Vorwort von „kräftigem Wirtschaftswachstum“, obwohl die Daten bei weitem kein „kräftiges“ Wachstum signalisieren und der Konsum schon wieder stagniert.


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