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Titel: Wie Obama den Westen verlor

Datum: 31. Mai 2016 um 9:10 Uhr
Rubrik: Aufrüstung, Friedenspolitik
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Es war höchste Zeit, dass ein amerikanischer Präsident den Opfern von Hiroshima seinen Respekt erweist. Die ebenso überfällige Entschuldigung war dagegen nicht drin. Neben japanischen Empfindlichkeiten liegt das am tiefsitzenden Zwiespalt der westlichen Staaten gegenüber der Atombombe. Einerseits wünschen sie sich in ferner Zukunft eine „Welt ohne Atomwaffen“. Andererseits sind Atombomben für die NATO-Militärstrategen nicht wegzudenken. Dagegen rebelliert jetzt der Rest der Welt: 127 Staaten wollen Atomwaffen einfach verbieten. Deutschland gerät zwischen die Fronten. Von Martin Hinrichs[*].

„Amerika strebt den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen an“ – für dieses Versprechen bekam Barack Obama 2009 den Friedensnobelpreis. Zum Ende seiner Amtszeit kann er zwar den Iran-Deal für sich verbuchen, die Abrüstung der 15.000 bestehenden Sprengköpfe ist aber steckengeblieben. Noch schlimmer: ein neues Wettrüsten ist im Gange. Über eine Billion Dollar (das entspricht grob dem britischen Staatshaushalt) wollen die neun Atommächte in ihre Nuklearwaffen investieren. Erst vor zwei Wochen nahm die NATO ihre Raketenabwehr in Rumänien in Betrieb. Und in der Ukraine-Krise drohte Putin sogar mit einem Atomschlag.

Während sich die Atommächte also wieder von der atomwaffenfreien Welt entfernen, hat unter dem Radar der Schlagzeilen, in den verstaubten Abrüstungsgremien der UN, der Aufstand begonnen. Und das ist ungewollt auch Barack Obamas Verdienst. Denn in seiner Vision von 2009 sah damals eine kleine Gruppe atomwaffenfreier Staaten die Chance, den Abrüstungsstillstand in der UN zu durchbrechen. Mit Unterstützung des Roten Kreuzes und der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) starteten sie die Humanitäre Initiative. Sie begann als Auseinandersetzung mit den schrecklichen Folgen, die jeder Kernwaffeneinsatz für die Zivilbevölkerung hat. Weil sich diese Folgen aber mit den geltenden Schranken des Krieges kaum versöhnen lassen, ist aus der Humanitären Initiative eine politische Bewegung geworden – mit dem Ziel, Atomwaffen völkerrechtlich zu ächten.

Im Gegensatz zu biologischen und chemischen Waffen gibt es bei Atomwaffen nämlich keinen Vertrag, der den Besitz generell verbietet. Diese rechtliche Lücke wollen die “nuklearen Habenichtse” jetzt schließen. Dazu haben sich 127 Staaten in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, die von Österreichs Außenminister Sebastian Kurz ausging.

Zum ersten Mal liegt nukleare Abrüstung damit nicht mehr nur in den Händen der „Großen“. Die meisten der 127 Staaten sind Entwicklungsländer. Sie dürfen laut dem Atomwaffensperrvertrag gar keine Atomwaffen besitzen. Aber durch Unterstützung der Ächtung sagen sie: wir wollen es auch nicht. Nicht weil ihr „Großen“ es uns verbietet. Sondern weil wir diese Waffe ablehnen. Weil jeder Atomwaffeneinsatz ein menschenwidriges Verbrechen wäre. Und weil schon der Besitz die Bereitschaft zum Einsatz mit einschließt. Die Mitgliedschaft im nuklearen Club wäre dann kein exklusives Privileg mehr, das von besonderem Status, von Macht und Verantwortung zeugt. Sondern ein Stigma: Zeichen einer fahrlässigen, ja barbarischen Denkweise. Auf der Leiter der Zivilisation wären die Ersten die Letzten geworden. „Die Demokratie ist in die Abrüstung eingekehrt!“, so formulierte es die UN-Botschafterin Costa Ricas.

Zunächst sah es danach aus, als würde die Humanitäre Initiative bei den westlichen Staaten Gehör finden. Die Schweiz, Österreich, Neuseeland, sogar das NATO-Mitglied Norwegen waren unter ihren stärksten Unterstützern und viele ihrer Nachbarn zeigten sich zumindest offen. Doch als der erste Enthusiasmus von Obamas Prager Rede verflogen war und eine neue Antagonität mit Russland ausbrach, die schließlich in die Ukrainekrise mündete, wurde der Ruf nach Abschreckung wieder laut. Außenminister Westerwelle versuchte noch, die Atomwaffen aus Deutschland abziehen zu lassen, wie es der Bundestag 2010 einstimmig beschlossen hatte. Aber bei der NATO biss er damit auf Granit. Frank-Walter Steinmeier hat es dann gar nicht erst versucht. Als Putin die Krim an sich riss, wurde der Konsensdruck in der NATO so groß, dass jeder Kratzer am nuklearen Status Quo ein Sakrileg geheißen hätte.

So haben sich heute – bei bescheidenen Vorverhandlungen in Genf, die keine Gefahr laufen, das internationale Gleichgewicht aus den Angeln zu heben – fast alle NATO-Staaten auf die Seite der Atommächte geschlagen. Die Diskussionen in der laufenden Arbeitsgruppe Nukleare Abrüstung erinnern an einen Generationenkonflikt, einen Streit zwischen Eltern und Kindern, die sich nicht mehr verstehen. Auf der einen Seite die Protagonisten der Humanitären Initiative, die die Drohung des nuklearen Armageddons nicht länger akzeptieren wollen. Die nicht nachvollziehen können, wie man angesichts der gemeinsamen Aufgaben der Weltgemeinschaft im 21. Jahrhundert noch auf eine Waffe gegenseitiger Vernichtung setzen kann. Und auf der anderen Seite die Mitglieder nuklearer Bündnisse, die die „Rolle von Atomwaffen für die internationale Sicherheit“ mit Zähnen und Klauen verteidigen. Bemerkenswert etwa ein Statement von Polen, das der Botschafter, man merkt es an der Rechtschreibung, offenbar in aufgewühltem Zustand verfasst hat:

„I could pose the questions – how many of us have neighbours openly exercising nuclear attack on your capitals? concentrating the big military forces on your borders without any warning? […] I’ve heard very often that our situation is unjustly privileged because we rely on nuclear deterrence capability of our allies. Having in mind what I already said about our constant threat and strategic reality. Do you really think we are privileged? Really?“

„Ich könnte fragen – wie viele von Ihnen haben Nachbarn, die offen einen atomaren Angriff auf Ihre Hauptstadt proben? Große Streitkräfte ohne Warnung an Ihren Grenzen platzieren? […] Ich habe sehr oft gehört, dass unsere Situation ungerecht privilegiert ist, weil wir uns auf die nukleare Abschreckungsfähigkeit unserer Verbündeten verlassen. Wenn Sie bedenken, was ich gesagt habe über unsere ständige Bedrohung und strategische Realität. Denken Sie wirklich wir sind privilegiert? Wirklich?“

Ohne Atomwaffen, meint der Botschafter, steht Polen eine Invasion Russlands bevor. Auch der deutsche Abrüstungsbotschafter Biontino schien solche Befürchtungen zu teilen: Man könne Atomwaffen nicht einfach nur nach ihren humanitären Konsequenzen bewerten, mahnte er. Sondern man müsse auch die Rolle berücksichtigen, die sie für die Abschreckung spielen. Weil sie für unsere Sicherheit nach wie vor unerlässlich seien, könne sich Deutschland der Verbotsforderung nicht anschließen.

Es ist immer das gleiche Ritual. Am Hiroshima-Jahrestag im August gedenkt man der Opfer, amtierende und nicht mehr amtierende Staatsmänner mahnen zur Abrüstung. Aber wenn es tatsächlich um Abrüstung geht, weht plötzlich wieder der eisige Wind des Kalten Krieges durch den Raum. Haben wir seit der Kubakrise wirklich nichts gelernt? Ist es so schwierig, sich internationale Sicherheit ohne Atomwaffen vorzustellen? Die meisten Länder sind mit dem Verzicht auf Nuklearwaffen schließlich gut gefahren.

Für das Verbot haben die Schwellenländer Mexiko, Indonesien und Brasilien jetzt einen konkreten Termin auf den Tisch gelegt. Schon für 2017 soll die UN-Generalversammlung eine offizielle Konferenz zur Verhandlung des Verbotsvertrags einberufen. Dafür reicht die einfache Mehrheit – mit 127 Unterstützern locker zu schaffen. Den Staaten des Westens, die das noch verhindern wollen, will man zurufen:

Eure Kinder stehen nicht mehr in eurer Gewalt.
Euer alter Weg wird immer älter.
Macht den neuen frei, wenn ihr nicht helfen könnt!
Denn die Zeit ist dabei, sich zu ändern.
– Bob Dylan, The Times They Are A-Changing

Obamas Vision, die er jetzt wieder eloquent bekräftigte, könnte am Ende nicht an Russland scheitern oder Nordkorea. Sondern an Deutschland. Denn wenn Frank-Walter Steinmeier nicht endlich klar Stellung bezieht: dass die Ächtung von Atomwaffen kein Widerspruch zur Mitgliedschaft in der NATO ist, die sich schließlich auch der Welt ohne Atomwaffen verschrieben hat. Oder zum Atomwaffensperrvertrag, in dem sich schließlich auch die Atommächte verpflichtet haben, bald komplett abzurüsten. Sondern eine Chance, gemeinsam vom Abgrund einen Schritt zurückzutreten. Wenn er das nicht tut, dann macht er sich für das neue Wettrüsten mitverantwortlich.

Wenn er sich aber endlich auf die richtige Seite der Geschichte stellt – dann, ja dann würden auch die anderen Zögerer des Westens mitziehen. Und die Atommächte stünden alleine da.


[«*] Martin Hinrichs ist Campaigner bei ICAN, der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen. Er hat in Genf und Potsdam Politik und Verwaltung studiert.


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