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Titel: Vom Schicksal der Verdammten

Datum: 18. August 2016 um 8:44 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Laut Europol gelten allein in Europa mindestens 10.000 minderjährige Geflüchtete als vermisst. Diese Schätzung ist weiterhin sehr konservativ. Nach anfänglichen Randmeldungen liest und hört man mittlerweile jedoch nichts mehr davon. Sowohl die Medien als auch die Polit-Elite haben sich dazu entschlossen, dieses tiefgreifende Problem, welches die dunkelsten Seiten unserer Gesellschaft hervorbringt, zu verdrängen. Dabei muss man sich der Frage stellen, was mit all diesen Kindern passiert ist – und welchen kriminellen Machenschaften sie womöglich in die Hände geraten sind. Von Emran Feroz.

Anfang 2016 gab Europol bekannt, dass mindestens 10.000 geflüchtete, unbegleitete Kinder in Europa verschollen seien. Der Behörde zufolge verlor man die Spur von Tausenden von Kindern, nachdem sie in einem europäischen Staat registriert worden sind. Demnach verschwanden allein in Italien mindestens 5.000 Kinder, während man in Schweden von 1.000 Vermissten sprach. Auch in Deutschland sprach das BKA von 5.000 vermissten Flüchtlingskindern. Europol betonte in diesem Kontext, dass kriminelle Strukturen sich seit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise zunehmend auf Menschen mit Fluchthintergrund fokussieren und fügte hinzu, dass die Annahme berechtigt sei, dass weitaus mehr als 10.000 Kinder vermisst seien.

Laut der Menschenrechtsorganisation „Save the Children“ sollen schätzungsweise 26.000 unbegleitete Kinder im vergangenen Jahr Europa erreicht haben. Währenddessen geht Europol davon aus, dass rund 27 Prozent der Geflüchteten, die 2015 nach Europa kamen, Minderjährige gewesen sind. Dies würde einer Gesamtanzahl von 270.000 Kindern entsprechen. Laut der UN hat sich diese Zahl bereits erhöht. Ihren Schätzungen zufolge sind seit 2016 35 Prozent der Geflüchteten in Europa Kinder.

„Eine Schande“

Der Frage, was mit all den verschwundenen Kindern geschehen ist, will sich in diesen Tagen kaum jemand stellen. Dabei sind die Einschätzungen Europols eindeutig. Obwohl die Organisation einen sehr vorsichtigen Ton anschlug, stellte sie klar, dass wohl viele der Vermissten Opfer von sexuellem Missbrauch und Sklaverei geworden sind. Diese Annahme ist mehr als berechtigt. Die Ressource Mensch ist in diesem Zeitalter gefragter denn je, vor allem für kriminelle Organisationen. Opfer einer solchen Ausbeutung sind stets die Schwächsten der Gesellschaft – und niemand ist so schwach wie ein unbegleitetes, geflüchtetes Kind, dessen Identität – für die Kriminellen im besten Fall – unklar ist.

Seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise hat sich eine neue, kriminelle Infrastruktur gebildet, die von den Migrationsbewegungen profitiert. Es sind aber nicht nur die gegenwärtigen politischen Umstände, von denen die Kriminellen profitieren. Es ist auch der Zeitgeist. Hilde Vautmans, EU-Parlamentsabgeordnete in der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa brachte das wie folgt auf den Punkt:

„Diese bürokratische Gleichgültigkeit kann nicht unsere moralischen Standards bestimmen. Wenn ein Hund verloren geht, verbreiten die Menschen dringliche Nachrichten auf ihren Facebook-Seiten. Doch wenn wir der größten Anzahl von vertriebenen Kindern seit dem Zweiten Weltkrieg begegnen, gehen wir in einer Unzahl von [bürokratischen] Institutionen unter. Das ist eine Schande.“

Organhandel und Kinderprostitution

Eine Schande ist die gegenwärtige Gleichgültigkeit tatsächlich. Vor allem, wenn man in Betracht zieht, in was für kriminelle Strukturen die vermissten Kinder mittlerweile geraten sein könnten. Signifikant ist in diesem Kontext vor allem der Menschenhandel. Beobachtern zufolge agieren klassische Schleppergruppierungen immer mehr als kriminelle Netzwerke, die gezielt Jagd auf Menschen machen, um diese auf den Markt zu bringen. Der sexuelle Missbrauch sowie die Prostitution von Minderjährigen spielt in diesem Kontext eine besondere Rolle. Die wenigen, aktuellen Daten, die es diesbezüglich gibt, sind mehr als besorgniserregend.

So kamen etwa italienische Sozialarbeiter zum Schluss, dass sowohl männliche als auch weibliche Minderjährige aus Nigeria, die das europäische Festland über das Mittelmeer erreicht haben, Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Ähnliches ist laut UNICEF auch im französischen Calais der Fall. Sex, sprich, der Akt der Vergewaltigung, hat sich auf den Fluchtrouten mittlerweile als eine Art Währung entwickelt. Wer die Menschenschmuggler nicht mit Geld bezahlen kann, muss dies eben anders tun. In derartigen Momenten sind Menschen, vor allem Kinder, am einfachsten zu treffen. Minderjährige Geflüchtete sind ihrem Umfeld vollkommen ausgesetzt und haben oftmals keine andere Wahl, als ihren Körper zu verkaufen.

Doch es sind auch andere Geschäfte, die in diesen Tagen boomen. Derart ungeschützte Menschen wie vermisste Kinder auf der Flucht stellen die beste Grundlage für den Organhandel auf dem Schwarzmarkt dar. In Italien wurde etwa vor wenigen Monaten bekannt, dass Menschen, die sich die Flucht mittels Schlepper nicht leisten konnten, ihre Organe verkauft haben. Konkret ging es in den Berichten um einen ägyptischen Verbrecherring. Bereits 38 Personen, hauptsächlich aus Eritrea und Äthiopien stammend, wurden von den italienischen Behörden diesbezüglich verhaftet.

Bei dem Kronzeugen, der die schmutzigen Geschäfte aufdeckte, handelt es sich um einen ehemaligen eritreischen Menschenschmuggler, der mittlerweile im italienischen Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. Im Laufe seiner Aussagen betonte der Mann, dass jene, die ihre Organe verkaufen, im Nachhinein zurück nach Ägypten gebracht oder in Italien getötet werden. Viele Leichen werden anschließend ins Meer geworfen. Außerdem fügte er hinzu, dass es sich bei den meisten Kunden um reiche Russen und Europäer handelt.

Ähnliche Szenarien lassen sich auch in anderen Fluchtzentren finden. Vor Kurzem wurde etwa bekannt, dass sich in türkischen Flüchtlingslagern Organhandel und Kinderprostitution massiv verbreitet haben. Als Beispiel hierfür lässt sich etwa das Lager in Nizip im Südosten des Landes nennen, welches von der Regierung in Ankara immer wieder als „Vorzeigemodell“ gepriesen wurde.

Kriminelle Strukturen dank EU-Politik

All die beschriebenen Szenarien sind real. Sie spielen sich de facto vor unserer Haustür ab und machen nur einen Bruchteil jenes Alltäglichem aus, welches kaum wahrgenommen wird. Die Frage, die man sich nun ebenfalls stellen muss, ist folgende: Wer ist verantwortlich für die gegenwärtige Situation und all die mit ihr verbundenen Verbrechen? Natürlich kann man es sich einfach machen und das Ganze vollkommen herunterbrechen, indem man auf die genannten kriminellen Netzwerke hinweist. Dass es diese gibt und dass sie absolut skrupellos handeln, steht außer Frage.

Doch es gibt immer Ursache und Wirkung. Wie kam es überhaupt dazu, dass sich derartige Strukturen ausbreiten konnten? Und warum befinden sich dermaßen viele Kinder vollkommen auf sich gestellt auf der Flucht? Es sind die westlichen Regierungen, die für die meisten Kriege und Konflikte im Nahen Osten sowie in weiten Teilen Afrikas maßgeblich mitverantwortlich sind. Genau in diesem Augenblick wird etwa der Jemen weiterhin von Saudi-Arabien bombardiert. Die nächste Flüchtlingswelle aus diesem Land, in dem in den letzten Monaten Tausende von Menschen den Tod fanden, steht bereits an. Doch anstatt dem Morden ein Ende zu setzen, beliefert man die Mörder, sprich, die saudische Armee, weiterhin mit Waffen. Hier spielt vor allem die deutsche Bundesregierung eine destruktive Schlüsselrolle, die sie permanent beiseitedrängt.

Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn auch bald jemenitische Kinder ihre Körper und Organe verkaufen, weil sie sich eine bessere Zukunft in der europäischen Festung erhoffen. Ja, Europa ist weiterhin eine Festung. Eine Festung, die anderswo zündelt, den Opfern des Flächenbrandes jedoch die Bewegungsfreiheit – eine der grundlegendsten Freiheiten eines jeden Menschen – verweigert. Erst durch diese Politik konnten sich Schleppernetzwerke etablieren. Und genau deshalb ist es auch so kurzsichtig, immer den Schleppern, den Menschenhändlern und all den anderen kriminellen Netzwerken die Schuld in die Schuhe zu schieben. Denn egal, wie sehr man diese auch an den Pranger stellt: Letztendlich sind sie nur das Symptom eines Systems, welches sich auf die Leichen der Verdammten errichtet hat – und daran weiterhin nichts ändern will.


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