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Titel: Nur der Irre übt Kritik

Datum: 14. Oktober 2008 um 15:27 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Wertedebatte
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Wer nicht mit dem Massenstrom schwimmt, wer sogar noch versucht ist, gegen die Strömung anzuschwimmen, quasi einen Wasserfall von unten nach oben bezwingen möchte, dem macht man es gemeinhin schwer. Schlimmer noch, man erklärt solche Zeitgenossen dann und wann für geistig verwirrt, verschroben, vielleicht psychisch schwer angeschlagen, weswegen er die Segnungen des Massenspektakels nicht beherzigen will. Wenn einer nicht tut was alle tun, dann kann er nicht sein wie alle – und wenn sich diese Allgemeinheit als höchst vernünftig und weltzugewandt bezeichnet, vereinfachend gesagt als “normal” wahrnimmt, dann muß derjenige, der nicht gerne in der Wanne der Allgemeinheit badet, höchst unvernünftig, weltfremd und damit “unnormal” sein. Und da man heute vornehm ist, da man niemanden der Idiotie bezichtigen will, strickt man sich daraus das Szenario, wonach der Entgegenschwimmer ein neurotischer Notfall sei, der eigentlich anders wäre, wenn es ihm seine gesundheitlichen Zustände nur erlaubten.

Marcel Reich-Ranicki ist ein solcher Neurotiker – einer der zu einem solchen stilisiert wird. Seine Kollegen aus den Weiten der Fernsehlandschaft – obwohl jemand wie Jenny Elvers oder Verona Feldbusch sicher keine Kollegen von Reich-Ranicki sind – fühlten sich teilweise angegriffen, gar beleidigt. Anmaßend sei es von ihm gewesen, so klare Worte zu finden, die Veranstaltung derart zu entweihen. Tageszeitungen nennen die offene Kritik sogar einen Eklat, einen regelrechten Skandal. Wenn einer also das ausspricht, was sich für ihn als Wahrheit aufdrängt, wenn er freimütig ist, dann ist er bereits eine Skandalnudel. Immerhin hat er sich nicht ungehemmt in den Sog des Veranstaltungsabends fallen lassen. Dass Reich-Ranickis Kritik zwar unverblümt und geradeaus ins Gesicht der TV-Macher war, er aber ganz Mann von Welt blieb, mit zuvorkommender Wortwahl, ohne beleidigende Worte, die Schuld sowieso eher bei sich selbst suchend, als bei den Anwesenden – denn schließlich habe er an einem solchen Ort auch nichts verloren, gehöre nicht dorthin -, er den Anwesenden zudem ihr Recht auf oberflächliches Preisverleihen und gehirnfreies Klatschen nicht abgesprochen hat, wurde aber kaum öffentlich thematisiert. Außerdem war deutlich zu spüren, dass es ihm sehr unangenehm war – von Dreistigkeit, anmaßender Arroganz oder intellektueller Chuzpe keine Spur.

Dennoch, trotz seiner wortgewandten, aber doch sehr braven Kritik, war er außenstehend, erlaubte sich eine Freiheit, die sich keiner der anwesenden Herrschaften in ihrer angezüchteten Kritiklosigkeit erlaubt hätte. Und eingebettet in dieser Sichtweise, indem der Kritiker oder Oppositionelle nicht ganz gesund sein kann, weil er ja dem “gesunden Menschenverstand der Masse” nicht folgt, erlaubte sich die Intendantin des WDR – Monika Piel – ein Urteil: “Man darf es ihm nicht verübeln. Er ist 88 Jahre alt, er ist krank und ich denke, dass der Abend für ihn einfach zu lang gewesen ist.”

Da hat sie also frei von der Leber weg ausgesprochen, was diese ganze Gesellschaft ausmacht: Der Andere ist der Kranke! Wer nicht spurt, wer sich nicht einreiht, wer nicht abnickt, was man eigentlich gar nicht abnicken möchte, der muß krank sein. Wenn der Kritiker noch dazu einige Lebensjahre auf dem Buckel hat, dann ist sein Kranksein ja offensichtlich und als feststehende These quasi abgesegnet. Wer aus der Masse rückt, wer seine Stellung innerhalb der Masse verrückt, der ist ebendies – verrückt. Kurzum: Man spricht jedem, der nicht so ist wie der “gezüchtete Mensch der Massengesellschaft”, den Verstand ab. Man macht aus ihm einen Zeitgenossen, der nicht mehr richtig wahrnimmt; in Krankheit schwelgend nur noch vernebelte Bilder sieht, weswegen sein Urteil ebenso vernebelt ausfallen muß. Der Kritiker ist krank, meist sogar psychisch angeschlagen, leidet unter Verfolgungsängste oder ist ein neurotischer Verschwörungstheoretiker. Der andere Blickwinkel auf eine Sache ist der Allgemeinheit – denen, die Allgemeinheit formen – höchst fragwürdig. Der Blick von oben oder unten, von der anderen Seite, von Innen heraus, ist Verrat an der Allgemeinheit – sie gibt vor, von welchem Blickwinkel aus zu betrachten ist; aufgrunddessen: wie zu bewerten und zu reagieren ist.

Und wenn die Schwimmenden im Massenstrom eben klatschen und dürftige Fernsehsendungen prämiert sehen wollen, dann tut man, was in aller Zwanglosigkeit verlangt wird – aber wehe dem, der es nicht tut! Wir sperren keinen solchen Kritiker ein – zumindest keinen, der nur das Fernsehprogramm kritisiert -, diese Zeiten sind passé, zumindest meistens! Aber krank und nicht recht bei Sinnen ist er allemal, und dies will man auch in aller Öffentlichkeit formuliert haben. Sein Gefängnis ist die Verächtlichmachung seiner Person, dort sperrt man ihn in aller Öffentlichkeit ein bzw. aus. Nur der Verblödete übt Kritik, heißt es dann. Oder der Kranke und psychisch Ungesunde. Ein Vernunftsmensch hätte sich artig bedankt und viel gelobt. Schade nur, dass man laut Grundgesetz das Recht auf ein eigene Weltanschauung hat, sonst könnte man diese kritisierenden Irren in eine Anstalt stecken…

Ob allerdings Menschen wie Monika Piel, die so schamlos aus einem Kritiker ein orientierungslos gewordenes Menschlein stilisieren, nicht in einer solchen Anstalt gut aufgehoben wären, wird die Geschichte noch zu klären haben. Womöglich wird man die Jünger des Verächtlichmachens niemals internieren, weil sie dann – in ferner Zukunft – nicht mehr unter den Lebenden weilen. Aber verlachen wird man die Dummheit derer, die so zielgerichtet Kritiker abgekanzelt haben, mit aller Arroganz der jeweiligen Gegenwart gegenüber der Vergangenheit, mit der Ruppigkeit des dann aktuellen Zeitgeistes gegenüber den vergangenen Geistern. Und man wird klarmachen, was eine solche Behandlung eines Freidenkers ist: ein Verbrechen an seiner Persönlichkeit – aber auch an der Gesellschaft, die man mittels solcher Tricks von einer gegensätzlichen Sichtweise entfremden will.

Wahrscheinlich sind diese Zeilen als Ausgeburt eines Irren zu betrachten. Man schnüre mir schnell die Zwangsjacke fester, damit ich meine (mitlesende) Umwelt nicht in die Irre führe…

Roberto J. De Lapuente vom Blog ad sinistram hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt
Quelle: ad-sinistram.blogspot.com


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