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Titel: Die Sozialdemokratie in der Identitätskrise

Datum: 19. November 2008 um 9:15 Uhr
Rubrik: Parteien und Verbände, Wahlen
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Wesentliche Inhalte eines in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 14.November 2008 erschienenen Artikels von Liêm Hoang-Ngoc (Ökonom an Universität Paris-I) und Philippe Marlière (Politologe am University College London). Originaltitel: „La social-démocratie en crise d’identité“. Übertragen von Gerhard Kilper

In einem Diskussionsforum über die Krise der europäischen Sozialdemokratie äußerten die beiden Publizisten Alain Bergounioux und Gérard Grunberg, die Sozialdemokratie könne dann wieder zu einer nützlichen politischen Kraft werden, wenn sie in der Krise bereit sei, „intellektuell und politisch Verantwortung zu übernehmen“.

Tatsache ist, die europäische Sozialdemokratie befindet sich zurzeit in einer schweren Existenzkrise. Sozialdemokratische Parteien verloren in Europa 13 der letzten 15 nationalen Wahlen und da wo Sozialdemokraten noch an der Macht sind, in Großbritannien und in Deutschland, ist die von ihnen betriebene Politik in höchstem Maße unpopulär. Doch da, wo Sozialdemokraten die Opposition bilden, wird ihre Stimme nicht mehr gehört bzw. für wenig glaubwürdig gehalten (Frankreich, Italien), obwohl sie es in diesen Ländern mit rechten Hardlinern zu tun haben. Dennoch wiederholen Bergounioux / Grunberg ständig, einen Neubeginn könne es für die europäische Sozialdemokratie nur genau über den ideologischen Weg geben, der der Grund für ihren Niedergang ist! Bergounioux / Grunberg vergessen vollkommen, dass der Sozialismus als Antithese zum Kapitalismus aus der Taufe gehoben wurde und dass die Sozialdemokraten als nicht-revolutionäre Sozialisten den Kapitalismus schrittweise demokratisch transformieren wollten.

In den 1980er Jahren etablierte sich in Europa klammheimlich eine Art neue Sozialdemokratie der „modernen Linken“. An der Macht in Frankreich, Spanien und Griechenland hat diese moderne Linke durch Deregulierung der Finanzmärkte maßgeblich an der Entstehung des Finanzkapitalismus mitgewirkt.

Sozialdemokratische Regierungen privatisierten Bankensystem und strategisch wichtige Industrien und verinnerlichten, ohne es zu merken, das neoliberale Denken der Rechten. Die vorher heimlich-heuchlerische Wende im Denken wurde 1997 offenbar, als Tony Blair zur komplexfreien Unterstützung des US-amerikanischen Modells aufrief: weitere forcierte Deregulierung der Märkte, Senkung der Steuern auf hohe Einkommen (und Vermögen), Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Privatisierung des öffentlichen Sektors und Abschaffung des Wohlfahrtsstaats. Diese Blairsche Wirtschafts- und Finanzpolitik „des 3.Weges“ beeindruckte europäische Sozialdemokraten dermaßen, dass viele nicht einmal wagten, die Irak-Invasion (als völkerrechtswidrig) zu verurteilen.

Von 1997-2006 haben europäische Sozialdemokraten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik dann das Blair-Mantra jeweils in ihrer Landessprache nachgebetet: „Es gibt keine linke oder rechte Wirtschafts- und Finanzpolitik, es gibt nur eine Politik die funktioniert und eine, die nicht funktioniert“. Mit diesem verinnerlichten wirtschaftspolitischen Glaubensdogma erlitten die französischen Sozialisten bei 3 aufeinanderfolgenden Präsidentschaftswahlen schwere politische Niederlagen.
Soll die Sozialdemokratie in einer Zeit, in der die neue Rechte pragmatisch die Tugenden öffentlicher Interventionen in versagende Märkte anerkennt, „ihren 3.Weg“ weitergehen? Nach Bergounioux / Grunberg kann nur das „Projekt Europa“ zum Wiederaufstieg der europäischen Sozialdemokratie führen. Aber wie könnte die Sozialdemokratie genau mit den Konzepten und Strategien, die gestern kläglich versagt haben, morgen Erfolge einfahren?

Mit der ersten Lissabon-Agenda wurde im Jahr 2000 ein Maßnahmepaket „Strukturelle Reformen“ beschlossen, das Europa zu einer starken Wachstumszone machen sollte. Und 2002 verabschiedete der Europäische Ministerrat mit sozialdemokratischer Mehrheit die EU-weite Liberalisierung der Energiemärkte und des öffentlichen Sektors, die Erhöhung des Renteneintrittsalters um 5 Jahre und die politische Unterstützung der Einrichtung von Pensionsfonds. 2005 wurde die Lissabon-Strategie mit dem Beschluss zur Institutionalisierung des staatlichen Haushaltsausgleichs, zu weiterer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und zu einer Politik der Lohnzurückhaltung fortgesetzt. Ergebnis der Umsetzung dieser Politik: noch vor Ausbruch der Finanzmarktkrise wurde Europa zu der Weltwirtschaftszone mit dem geringsten Wirtschaftswachstum!

Die beiden Autoren sehen die Sozialdemokraten nicht wie Bergounioux / Grunberg durch die Krise des EU-Integrationsprozesses, sondern durch ihre eigene politisch-ideologische Identitätskrise geschwächt, die den Europäern eine rezessive, antisoziale Spirale beschert und bei der großen Mehrheit der kleinen Leute großes Misstrauen gegen sozialdemokratische Politik ausgelöst hat.

Der Brown-Plan hat in der aktuellen Finanzmarktkrise ohne Skrupel Blairsches Denken beiseite geschoben. Aber die Sozialdemokratie kann nicht auf der einen Seite der Sozialisierung der Schulden des Finanzkapitalismus-Kasinos Beifall zollen und auf der anderen Seite die Fortsetzung eingeleiteter „Strukturreformen“ fordern (die Rechte möchte die Finanzmarktkrise zur Rechtfertigung genau dieser „Strukturreformen“ nutzen und bei dieser Gelegenheit bestehende Instrumente öffentlicher Kontrolle von Produktion und Verteilung des geschaffenen Reichtums endgültig verschwinden lassen).

Zur Überwindung seiner aktuellen Krise und Rezession braucht Europa keine weiteren Strukturreformen, sondern einen neuen New Deal. Es sollte ein großes öffentliches Investitionsprogramm zur Modernisierung der Infrastruktur (Verkehrswesen, Kommunikation, Kliniken, Schulen, Universitäten) aufgelegt und realisiert werden, sowie die Baustelle „Erneuerbare Energien“ endlich eingerichtet und umfassend in Angriff genommen werden. Für diesen New Deal sollten Finanz- und Industrieressourcen in Verbindung mit den Kompetenzen von Wissenschaft und Forschung mobilisiert werden. Die Einzelstaaten selbst sollten sich an ihren Bankensystemen und an ihren strategisch wichtigen Industrien mit Mitbestimmungs- und Kontrollrechten beteiligen.

Die europäische Sozialdemokratie ist politisch dazu aufgerufen,über Steuerreformen eine bessere Redistribution zugunsten der kleinen Leute durchzusetzen über die Einwirkung auf Sozialpartner an Produktivitätserhöhung und Inflation festgemachte, indexierte Lohnerhöhungen durchzusetzen, um ein für allemal Kaufkraft und Wohlstand der von ihrer Arbeit lebenden Arbeitnehmer zu sichern (die Stagnation der Reallöhne in den USA bzw. in europäischen Epigonen-Ländern ist für die hohe Verschuldung der Privathaushalte verantwortlich und war damit letzten Endes in den USA der Auslöser für die Hypotheken- und Finanzmarktkrise).

Künftige Wahlen werden nicht „in der Mitte“ gewonnen. Aus Verdruss und Verärgerung (über ihre in den letzten 10 Jahren betriebene Politik) hat der Souverän in Europa die Sozialdemokraten abgewählt und die neue Rechte an die Regierung gebracht. Entweder die Sozialdemokraten finden wieder zu einer Politik für die kleinen Leute zurück oder sie werden als politische Kraft verschwinden.


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