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Titel: Der Fahrstuhl kennt noch ein paar Etagen nach unten

Datum: 8. Juni 2009 um 21:33 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, SPD, Wahlen
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In Deutschland kommen CDU/CSU zusammen mit der FDP auf rund 49%, in Europa ist die Rechte auf dem Vormarsch. Und das in einer der tiefgreifendsten Krisen, die das Scheitern der wirtschaftsliberalen und konservativen Ideologien jedermann vor Augen führen müsste.
Das scheint Gegenintuitiv, ist jedoch leicht erklärbar: In einer Zeit, in der sich sozialdemokratische Parteien in Deutschland, aber auch in Großbritannien vor allem durch ihr politisches Handeln zum Exekutor der neoliberalen Doktrinen gemacht hat, können sie ihre Wähler nicht mehr mobilisieren.
Die Konservativen verlieren zwar auch, aber sie können immer noch auf einen größeren Teil ihrer Stammwählerschaft bauen, ja sie haben es sogar geschafft, dass verängstigte potentielle Wählerinnen und Wähler der Linken, wie etwa Arbeiter, auf die zynischen Sprüche wie „Vorrang für Arbeit“ oder das Gerede von der „sozialen Marktwirtschaft“ hereinfallen. Wolfgang Lieb

Wenn Parteien „links der Mitte“ ihre politischen Hauptgegner nicht mehr bei den Wirtschaftsliberalen und den konservativen Interessenvertretern der Finanz- und Wirtschaftslobby sehen, sondern sich vor allem gegen alles, was links von ihnen steht, abgrenzen, so schwächt das die Linke insgesamt.

Die SPD in Deutschland hat nicht begriffen, dass sie von der Union und die sie unterstützende Mehrheit der Medien nur Kanonenfutter zur Abwehr eines politischen Kurswechsels missbraucht wird und sobald sie – und sei es nur verbal – vom Weiter-so abweicht oder gar wenn die Gefahr besteht, dass die Konservativen ihre Regierungsmacht verlieren könnten, sie selbst mit „Roten-Socken“- Kampagnen bekämpft wird. Diese Methode der Stigmatisierung jeglicher auch nur im Ton sozialer ausgerichteten Politik funktioniert ja schon so weit, dass selbst Kanzlerin Merkel, von wirtschaftsliberaler Seite als „Sozialdemokratin“ kritisiert wird.

Die SPD in Deutschland hat nicht begriffen, dass sie mit der Gretchenfrage „Wie hältst Du es mit der Linken“ von den „bürgerlichen Parteien“ am Nasenring in der politischen Arena herumgeführt wird und sich als domestiziertes Biest zum Gespött das Publikums macht. Das belegt z.B. die Nachwahl in Hessen mit dem Triumph von Roland Koch, das zeigt sich etwa auch in der Ängstlichkeit der SPD, dass die eigene Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten von der Linken hätte mitgewählt werden können. Der Holzhammer der Konservativen ist seit Adenauer der Antikommunismus, und damit wird auf alles gehämmert, was sich auch nur ein Stück weit nach links bewegen könnte. Welche Rolle sollte denn sonst, die gerade im Vorwahlkampf hochgezogene Frage spielen, ob denn nun die DDR ein „Unrechtsstaat“ sei. Noch zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR wird in Deutschland gegen alles, was auch nur entfernt in den Geruch von sozialer Demokratie oder gar demokratischen Sozialismus gerät, mit der abgewandelten Adenauer-Kampagne „Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau“ bekämpft.

Man mag ja die Linke als politischen Gegner betrachten, aber so lange die Sozialdemokraten selbst an der Verteufelung all jener politischen Kräfte, die links von ihr stehen (und das geht ja bis weit in die Gewerkschaften hinein) tatkräftig mitwirken, wird sie der Linken in Deutschland insgesamt und dabei noch sich selbst weiter das Wasser abgraben.

Am 14. Juni 2004, einen Tag nach der letzten Wahl zum Europäischen Parlament habe ich in den NachDenkSeiten geschrieben:

Nach dem weitaus schlechtesten Wahlergebnis für die SPD bei einer bundesweiten Wahl kann man die Reaktionen ihrer Spitzenpolitiker über dieses Wählervotum eigentlich nur noch entweder als ignorant oder – schlimmer – als arrogant einstufen. Ignorant, weil offenbar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird (oder werden darf), dass die weit überwiegende Mehrheit den “Agenda”-Kurs ablehnt. Arrogant, weil man offenbar nicht mehr bereit (oder ideologisch, zu borniert) ist, demokratische Voten, d.h. die Meinung der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen. Wer in der SPD nach diesem k.o.-Schlag immer noch meint, „es sei nicht gelungen die Menschen auf dem notwendigen Weg mitzunehmen“ und dass eine Korrektur des Agenda-Kurses die „Glaubwürdigkeit“ (Christoph Matschie) in Frage stelle, erinnert an die Witzfigur, die sich immer wieder ihren Schädel gegen die Mauer schlägt, um sich darüber zu freuen, dass der Schmerz nachlässt.

Und gleichfalls noch vor der letzten Europawahl sagte Albrecht Müller voraus:

Die in den sozialdemokratischen Parteien bestimmenden Kräfte, jene, die sich auch Modernisierer nennen, sind Gefangene ihrer Anpassung an das konservative Milieu und an die dort virulenten Ideologien. Sie sind deshalb blind dafür, dass Millionen Menschen Orientierung suchen. Und sie merken gar nicht, wie modern die traditionellen Erkenntnisse der Sozialdemokratie, ihre Werte und Konzeptionen sind, und wie desavouiert und gescheitert die Wirtschaftsliberalen und Konservativen mit ihrer Ideologie sind. – Das ist schon ein Treppenwitz der Weltgeschichte: die Linke würde gerade heute als orientierende Kraft gebraucht – und hat sich als solche davongemacht. Ängstlich, defensiv, selbstkasteiend.

Bis gestern haben sich die führenden Sozialdemokraten eingeredet, dass der Absturz vor fünf Jahren und der gewaltige Abstand zur Union nur ein spontaner Denkzettel der Wählerinnen und Wähler für die schrödersche Agenda-Politik gewesen sei. Sie haben wie nach allen Wahlniederlagen immer darauf gehofft, dass die Menschen diesen damaligen Kurswechsel endlich vergessen haben mögen, ja dass sie ihre Wählerschaft von der Richtigkeit hätten überzeugen können. Wenn es noch eines letzten Beweises für diese Wahnvorstellung bedurft hätte, dann ist es die Tatsache, dass die SPD noch tiefer gesunken ist als bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament.
„Wir sehen jetzt, dass der Fahrstuhl noch ein paar Etagen kennt“, sage Bayerns scheidender SPD-Chef Ludwig Stiegler zum schlechtesten Ergebnis der SPD in Bayern seit 1945. Und die Etage weiter unten dürfte am 27. September erreicht werden.

Die Union ist zwar der Wahlverlierer des Abends, sie verlor 6,6% Stimmenanteile bzw. 13,2% ihrer Wählerschaft des Jahre 2004 und sieben Mandate im Europäischen Parlament, doch dieser Verlust wurde überlagert, dass die SPD von ihrem schlechtesten Ergebnis noch weiter auf 20,8 % abgesackt ist.

Die CDU mit 37,9 % (CDU 30,7 % / CSU 7,2) und die FDP mit 11 % (+ 4,9 %) hätten zusammen mit fast 49 % eine Regierungsmehrheit. Selbst Rot-Rot-Grün zusammen käme nur auf knapp über vierzig Prozent. Für jede Alternative zur CDU-Kanzlerin ist die SPD zu schwach und selbst der Rettungsanker für eine große Koalition hat sich gelöst. Die CDU ist in 14 von 16 Bundesländern stärkste Partei geblieben nur in Bremen liegt die SPD noch vorne. In Brandenburg kam die CDU mit 22,5% gegenüber 26% für DIE LINKE lediglich auf den zweiten Platz. Die SPD landete in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf dem dritten Platz.

Da wird von der SPD-Führung – wie nach allen vorausgegangenen Wahlniederlagen – wieder einmal darüber geklagt, dass die SPD „ihre“ Wählerinnen und Wähler nicht mobilisieren konnte und man klammert sich an den Strohhalm, dass dies in den kommenden 110 Tagen bis zur Bundestagswahl anders werden würde.
Aber welche Wählerschicht will die SPD eigentlich bis dahin mobilisieren?
Sicher, die Wahlbeteiligung im September wird höher sein, aber kann man wirklich noch damit Spannung erzeugen, dass es um die Kanzlerschaft gehen könnte? Ist die Alternative Schwarz-gelb oder weiter so in einer Großen Koalition noch ein Antrieb potentielle SPD-Wählerinnen und Wähler an die Wahlurnen zu treiben? Die Kanzlerin kann jedoch entspannt der Bundestagswahl entgegensehen.

Infratest-dimap ermittelte, dass 50% der Wählerinnen und Wähler der Meinung sind, dass es derzeit keine Partei gebe, „die meine Interessen“ vertritt. Das deutet darauf hin, dass die Wahlbeteiligung auch bei der Bundestagswahl zu wünschen übrig lassen wird. Bei den sog. Kompetenzwerten liegt die SPD bei der ihr zuerkannten Lösungskompetenz fast durchweg weit abgeschlagen hinter der Union. Das gilt sowohl für die Lösungskompetenz bei der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, bei der Haushalts- und Finanzpolitik oder bei der Lösung der wichtigsten Probleme Deutschlands. Nur bei der Frage, wer sich am ehesten um die Arbeitnehmer kümmere hat die SPD noch einen deutlichen Vorsprung.

Bei den Wählerinnen und Wählern im Alter von über 60 Jahren liegt die CDU mit 47 Prozent deutlich über ihrem Durchschnitt und die SPD liegt bei mageren 24 % Zustimmung. Die Zerstörung der gesetzlichen Rente und die Rente mit 67 werden offenbar überwiegend der SPD angelastet. Bei den 30 – 44jährigen erreicht die SPD mit 17 % ihr schwächstes Resultat, die Union schaffte den doppelten Wert. Das war ehemals die Altersgruppe, die am stärksten auf die SPD baute.

Bei den Arbeitern hat die CDU 38 % und die SPD nur 23 % Wählerstimmen erhalten. (Die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte immerhin noch 37 % CDU und 28 % SPD.) Bei den Arbeitslosen hat die Linke mit 22 % die SPD mit 20 % überholt.
Bei den Hauptschulabsolventen schafft die Union mit 45 % ihren höchsten Wert und bei Wählern mit einem Studium wurde die SPD mit 18 % gar von den Grünen mit 23 % überholt. Im Osten wählten sogar 29 % der Akademiker Die Linke.
Die SPD hat offenbar eine dauerhaft abgeschmolzene Stammwählerschaft.
Wo sollte da noch Mobilisierungspotential sein?

(Alle diese Daten und eine detailliertere Wahlanalyse finden Sie bei Hoff/Kahrs, Ergebnisse der Direktwahl zum Europäischen Parlament am 07. Juni 2009)

Die einzige Hoffnung von Steinmeier kann noch in einer Fortsetzung der Großen Koalition liegen. Interessant am gestrigen Wahltag war nämlich, das in den Bundesländern in denen aufgrund der zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung geringfügig höher lag als 2004, die Verluste der Union höher lagen als im Durchschnitt. Doch die überdurchschnittlichen Verluste der Union in ihren „Stammländern“ führten jedoch fast überall zu überdurchschnittlichen Gewinnen der FDP.
Die Liberalen sind zweifellos Gewinner des Wahltages. Die FDP gewinnt 4,9% und fünf Mandate hinzu. Sie profitiert von den Verlusten der CDU. Es gelang ihr wirtschaftsliberale Wähler und Wählerinnen von der CDU zu gewinnen.

In Deutschland haben zwar die Rechtsparteien anders als in den Niederlanden, in Österreich, in Dänemark oder Ungarn keine Rolle gespielt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass das überraschend gute Abschneiden der CSU mit über 49 % und damit das Überspringen der 5 %-Klausel sicherlich auch mit der Kampagne gegen eine Aufhebung der Visumpflicht für Türken und der Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei zu tun hatte.

DIE LINKE (7,5 %) konnte ihre höheren Umfragewerte nicht halten und nur auf niedrigem Niveau (1,4 %) zulegen. Für die neu gegründete LINKE ist es ihr erstes echtes bundesweites Wahlergebnis. Sie ist im Westen angekommen. Kamen 2004 noch fast 80% der Stimmen für die PDS aus den ostdeutschen Ländern, so waren es bei der Europawahl nur noch 59%. Allerdings konnte DIE LINKE gegenüber dem Ergebnis der PDS von 2004 in den ostdeutschen Ländern weniger Wählerinnen und Wähler mobilisieren. Auffällig sind Verluste in Brandenburg und deutlicher noch in Sachsen. In den westdeutschen Ländern konnte sie ihre Stimmenzahl allerdings mehr als verdoppelt werden, im Saarland sogar auf 12% verfünffachen. Die stärksten Gewinne gab es dort, wo die SPD überdurchschnittlich an Stimmen verlor.

Die Grünen konnten mit 12,1 % ihr Ergebnis gerade so halten (2004: 11,9 %). Sie wurden in Berlin erneut zur zweitstärksten Partei. In den beiden anderen Stadtstaaten erreichten sie ebenfalls deutlich über zwanzig Prozent der Stimmen.

Eine gefährliche Entwicklung für ganz Europa spiegelt sich in der geringen Wahlbeteiligung von nur ca. 43 % der EU-Bürger insgesamt. (In Deutschland 43,3 gegenüber 43,0 und das auch nur deshalb weil in mehreren Bundesländern gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden.) Das ist der tiefste Stand seit der ersten Wahl zum Europaparlament vor 30 Jahren. In Polen, der Slowakei oder Slowenien ging noch nicht einmal jeder Fünfte wählen. Entgegen der Euphorie, dass nun der EU-Reformvertrag bis auf Irland fast überall von den nationalen Parlamenten ratifiziert worden ist, müsste das eigentlich als Alarmzeichen gelten. Doch mit der insgesamt gestärkten Mehrheit der konservativen „Europäischen Volkspartei“ dürfte der konservative Manuel Barroso als Präsident der Europäischen Kommission genauso im Amt bleiben, wie die CDU voraussichtlich ihren Exponenten des Wirtschaftsflügels, Friedrich Merz, als Kommissar nach Brüssel schicken dürfte.
Es bedarf keiner prophetischen Gabe, wenn man vorhersagt, dass damit die Wahlbeteiligung bei der nächsten Wahl noch niedriger liegen dürfte und Europa nicht nur die Wähler sondern mehr und mehr auch die Europäer davonlaufen. Europa wird zunehmend nur noch ein Europa der wirtschaftsliberalen Eliten. Die Euroskeptiker werden ein Übriges tun.


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