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Titel: Linksschwenk beim SPIEGEL-Ex-Kulturchef Matussek?

Datum: 12. September 2009 um 20:09 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Wertedebatte
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Wir sind seit gestern mehrmals auf den Beitrag von Matthias Matussek über „Krise des Konservativen. Wie ich aus Versehen ein Linker wurde.“ aufmerksam gemacht worden. Einer unserer Leser fragte, ob da einer „aufgewacht“ ist und gab selbst die optimistische Antwort, er glaube nicht an einen Trick. Ich bin unsicher. Bei aller Freude über einige beachtliche und für Matussek neue Erkenntnisse bemerke ich zu viel Unstimmiges. Albrecht Müller

Zunächst noch die Einführung von SpiegelOnline zum Text:

Sein Vater war CDU-Politiker, er selbst kiffte und lebte in einer Mao-WG – zum Linken aber wurde Matthias Matussek erst jetzt in der Krise. Denn die Konservativen führen seiner Ansicht nach einen Klassenkampf von oben: Sie zertrümmern Werte, heiligen Kaltschnäuzigkeit und öde Lifestyle-Spießerei.

Es lohnt sich, den gesamten Artikel zu lesen.

A. Beachtliche Erkenntnisse

Einiges in dem vorgelegten Artikel ist bemerkenswert:

  • Immerhin widerspricht Matussek der üblichen Polemik gegen die vom Spiegel häufig attackierten angeblichen Gutmenschen, wenn er feststellt, „dass wir uns um eine bessere Welt kümmern müssen und zwar nicht durch (militärische, d. Verf.) Invasionen, sondern durch fairere Verteilung der Reichtümer und behutsameren Umgang mit der Natur.“
  • Er hinterfragt die Existenz des „linken Meinungskartells“ – ein Fehlurteil und Gerücht, das in rechts-konservativen Kreisen seit Jahrzehnten gepflegt wird. Die Behauptung, das Fernsehen in Deutschland sei ein „Rotfunk“ stimmte nie und war dennoch Anlass für die von der Union betriebene Kommerzialisierung von Fernsehen und Hörfunk.
  • Immerhin sieht Matussek, dass wir und eine weiter Generation für die Rettung der Banken noch Jahrzehnte werden zahlen müssen.
  • Er notiert, dass sich das Klima unkorrigierbar zum Schlechteren verändern wird und wir dennoch wie gelähmt daneben stehen.
  • Er skizziert die Verrücktheit der Alt- und Jungkonservativen, in dieser Zeit mit ganz anderen Problemen die 68er ein weiteres Mal besiegen zu wollen und sich dafür auf die Schulter zu klopfen.
  • Er nennt den konservativen Klassenkampf von oben „total“. Er habe ökonomisch wie mental Werte zertrümmert, radikaler als es die Linke je vermocht hätte.
  • Er benennt die Kaltschnäuzigkeit beim Namen, wenn den Abgehängten von oben zugerufen wird: Strengt euch gefälligst an! Er kritisiert dabei sogar Guttenberg.
  • Die Vorstellung „Jeder ist seines Glückes Schmied“ sei Bullshit. So treffend habe ich diesen zentralen Glaubenssatz der Neoliberalen bisher noch nicht gekennzeichnet, obwohl ich seit dem Lambsdorff Papier von 1982 beschreibe, was diese Ideologie an Unheil anrichtet.
  • Immerhin nennt Matussek Angela Merkel eine von allen Überzeugungen entkernte Kanzlerin. Ein beachtlicher Lernerfolg. Denn wenn ich mich recht erinnere, haben wir von Matussek schon anderes über Merkel gelesen.
  • Matussek kritisiert, dass die Oberschicht, die sich zum Beispiel bei der Bundeskanzlerin zum Essen versammelt, keine Ahnung mehr davon hat, was sich unten abspielt.
  • Matussek stellt fest, dass die Depressions- und Stresserkrankungen steigen und gleichzeitig das Gefühl ständiger Überforderung und zunehmender Sinnleere. Er folgert daraus richtig, dass es zur Therapie um einen richtigen Kulturwandel gehen müsse. Die erfolgreiche, sozial integrierte Mittelschicht müsse die Fenster aufstoßen, hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit. – In „Meinungsmache“ schreibe ich, eine Art Kulturrevolution sei notwendig.

Das sind schon ziemlich viele klugen Erkenntnisse. Warum sollte man sich nicht freuen, wenn der Spiegel-Ex-Kulturchef solche Einsichten hat. Besser spät als nie.

B. Ungereimtes, Widersprüchliches und mangelnde Konsequenz

Zugegeben, den Schwenk von Matussek würden wir NachDenkSeiten-Macher gerne glauben. Denn das würde zumindest die Chance eröffnen, bei SpiegelOnline und Spiegel Impulse zu einer kritischeren Sicht der Welt loszuwerden. Aber es gibt zu viel Ungereimtes bei Matussek:

  • Man kann nicht den neoliberalen Glaubenssatz, jeder sei seines Glückes Schmied, Bullshit nennen und gleichzeitig von den Markt-Liberalen der FDP entscheidende „Stromstöße“ für den „erschlafften Herzmuskel der Republik“ erwarten. Die FDP verdankt ihre Erfolge nämlich genau der von Matussek gegeißelten Dumpfheit der Erfolgreichen und ihrer Unfähigkeit, noch zu begreifen, wie es Menschen geht, denen es wirtschaftlich schlecht geht und die keine Perspektive mehr sehen. Die FDP setzt auf den bornierten Egoismus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Über sie auch nur andeutungsweise ein gutes Wort zu verlieren zeigt, dass der Autor zumindest analytisch versagt.
  • Ansonsten erwartet Matussek von den „Grünlinken“ das Heil. Wo sind die denn? Wen gibt’s denn da noch? Der sozial orientierte Flügel der Grünen ist doch zur Machtlosigkeit dezimiert. Wie soll aus dieser Ecke z.B. Hilfe kommen zur Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung? Von Künast und Trittin? Von Ströbele? Wo sind dessen Battailone? Kein Wort zur Mitverantwortung der Grünen für die Agendapolitik von Rot-Grün.
  • Zur Linkspartei und zur politischen Linken insgesamt schreibt Matussek nichts außer der Wiederholung des Vorurteils, Lafontaine sei „abgemeldet, weil er zu demagogisch ist“. Wer gängige Vorurteile nachbetet, bezeugt nicht gerade die Glaubwürdigkeit eines Linksschwenks – immer unterstellt, links habe auch etwas mit Aufklärung und kritischem Verstand zu tun.
  • Matussek sieht in der Stärkung der Zivilgesellschaft eine Chance. Das ist albern. So kann man die stattgefundene Entsolidarisierung der Gesellschaft und die Zerschlagung solidarischer Einrichtungen nicht korrigieren. In diesem Zusammenhang auf die Konservativen in den Niederlanden und in Großbritannien hinzuweisen, ist auch kein Beleg dafür, dass die Stärkung der Zivilgesellschaft die notwendigen gesellschaftspolitischen Weichenstellungen ersetzen könnte – zum Beispiel mit der Einführung von Mindestlöhnen, zum Beispiel mit der Wiederherstellung einer richtigen Arbeitslosenversicherung, zum Beispiel mit der Stabilisierung der gesetzlichen Altersvorsorge, zum Beispiel mit der Stärkung des öffentlichen Sektors und dem gleichzeitigen Ende der Entstaatlichung. Alles dies kommt bei Matussek nicht vor.
  • Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass Matussek ein viel zu schönes Bild vom Charakter und der Rolle des christlich orientierten Konservativismus in den fünfziger Jahren malt. Der war weniger von der Bergpredigt als von der nur kurz vergangenen Nazizeit geprägt. (Anders als Matussek habe ich das altersbedingt selbst erlebt – in einem ähnlichen Umfeld)
  • Matussek zitiert Sloterdijks Dringlichkeitsmotto „Du muss dein Leben ändern.“ Die Berufung auf Sloterdijk macht mir Gänsehaut. Das mag emotional sein. Es ist aber auch sachlich begründet. Wenn Matussek an diesem Autor hängt, dann kann aus seinem Schwenk nicht viel werden. (Zu Sloterdijks „geistiger Vorarbeit für einen Linksschwenk“ siehe die schöne Glosse von Mario Müller in der FR vom 21.6.2009)
  • Übrigens: die Überschrift „Wie ich aus Versehen ein Linker wurde“ (bei der ich unterstelle, dass der Autor sie selbst bestimmt hat) müsste als solche schon Skepsis auslösen. Aus „Versehen“? Was soll das heißen? Wir lesen darüber hinweg, weil wir so etwas nett finden und wünschen. Aber vermutlich täuschen wir uns und werden enttäuscht. Demnächst im gleichen Theater.

C. Was könnte dahinter stecken

  • Matussek geht mit der Zeit. Er merkt gerade, dass es nicht günstig ist, sich für die Folgen der neoliberalen Ideologie verhaften zu lassen und schwenkt deshalb ein bisschen nach links. Nicht zu sehr, aber im Trend: ökologisch und ein bisschen sozialer.
  • Dahinter könnte eine Marketingstrategie des Spiegel stecken. So breit wie eine Volkspartei auftreten, getrennt marschieren, vereint schlagen. Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer mit seinem Buch „Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde“ und entsprechenden Essays im Spiegel für jene, die den Schwenk von links unten nach rechts oben gemacht haben oder machen wollen. Und Matussek für jene, die im Spiegel wieder ein kritisches, wenigstens teilweise linksorientiertes Magazin erkennen wollen. – Selbst wenn eine solche Marketingstrategie nicht im Verlag verabredet sein sollte, clever ist sie.
  • Es könnte auch ein kurzfristiges Motiv dahinter stecken: Matussek will dem Spiegel ein bisschen Glaubwürdigkeit verschaffen für verschiedene wahltaktische Manöver: für die Agitation gegen die Linkspartei wie in der Ausgabe dieser Woche wieder einmal vorexiziert, für anstehendes Werben für die Grünen und sogar für die FDP (man glaubt es kaum).

Wie auch immer: Man sollte dem Beitrag von Matussek nicht allzu viel Glauben schenken. Wenn er uns mit weiteren Texten auf der Linie des Essays von 11. September in Zukunft weiter überraschen sollte, dann könnten wir immer noch feststellen: Hier ist wirklich ein Saulus zum Paulus geworden. Aber um eine solche Feststellung treffen zu können, bedarf es bei Persönlichkeiten mit dem Charakter von Matthias Matussek schon noch einiger weiterer Belege.


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