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Titel: Franziska Augstein: Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert, München (Beck Verlag) 2008, 382 S.

Datum: 15. März 2010 um 8:39 Uhr
Rubrik: Rezensionen, Wertedebatte
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Die Generation von Menschen, die man als „alte Kämpfer“ bezeichnen möchte, die gegen ein Zwangsregime wie die Franco-Diktatur aufbegehrten, gar eine KZ-Haft überlebten und darüber auch noch in literarischer Form geschrieben haben, stirbt aus. Umso verdienstvoller ist es, wenn die Historikerin und Journalistin Franziska Augstein mit einem der schillerndsten von ihnen, dem spanischen Autor Jorge Semprún, über mehrere Jahre hinweg Gespräche geführt und diese zu einem Buch gebündelt hat, das Zeitgeschichte und Biographie vereint. Von Petra Frerichs*

Selten hat mich eine Mono- oder Biographie so tief beeindruckt wie diese. Sie brilliert an Kenntnisreichtum, Materialfülle und sorgfältiger Aufbereitung, an Einfühlung, Respekt und Distanz sowie an sprachlicher Flüssigkeit, die bei Sachbüchern nicht unbedingt zu erwarten ist. Es ist in meinen Augen auch kein Sachbuch – viel zu dicht führt uns die Autorin an das Leben und Wirken dieses Mannes heran, konfrontiert uns mit seinen Eigenarten, beteiligt uns beim Revuepassieren-Lassen eines Lebens voller durchlebter Gefahren, ertragener Leiden, durchstandener Kämpfe, errungener Siege und erlittener Niederlagen. Eines Granden mit Herkunft aus dem Großbürgertum, der im Spanischen Bürgerkrieg als Junge mit seiner Familie ins französische Exil getrieben wird, der schon früh in der Résistance agiert und der während der Franco-Diktatur als Kommunist im Untergrund arbeitet – ganze neun Jahre lang mit größtem Erfolg: er wird nie enttarnt, auch nicht verraten, fliegt nie auf, versteht es, seine übermächtigen Widersacher, einen ganzen Apparat, auszuschalten und auszutricksen.

Die Nähe zu solchen spektakulären Lebensumständen im Widerstand ist das eine, was an Augsteins verlebendigender Darstellung so beeindruckt. Doch sie macht daraus keine Heldengeschichte, sondern wahrt sich als Autorin einen gewissen Abstand, um immer wieder kritisch urteilen und Stellung nehmen zu können. Das ist gerade im Fall Semprúns, eines so einnehmenden Menschen mit vermutlich großer Ausstrahlung, wohl kein leichtes Unterfangen. Es gelingt ihr aber dennoch meisterlich, sowohl die sachliche Ebene aufzuspüren und engagiert nachzuvollziehen als auch das recherchierte Material samt der Einschätzungen der vorgestellten Personen autonom zu beurteilen – als Historikerin, als politisch Denkende, als Gesprächspartnerin und schließlich als Expertin der Romane Semprúns, in denen er in der zweiten Hälfte seines Lebens dieses reflektiert und seine Erfahrungen verarbeitet.

Eine besondere Herausforderung für diese Methode stellt die Schilderung der Zeit dar, als Semprún im KZ Buchenwald einsaß, nachdem man ihn als 20jährigen in der französischen Résistance gefasst, festgenommen und interniert hatte. Unter Hinzuziehung der Romane, in denen Semprún selbst sich dieses schwierigen Themas angenommen hat, wie dies etwa in „Was für ein schöner Sonntag!“ geschieht, geht es Augstein wie auch Semprún nicht primär um die Darstellung des Grauens, der Qualen, der Gemeinheiten oder der Angst aufgrund der Allgegenwart des Todes. Es ist wieder dieser Schritt zurück, der es Augstein ermöglicht, dem „System KZ“ auf die Spur zu kommen, um sich mit diesem Stück Verallgemeinerung solchen Fragen stellen zu können: wie „funktioniert“ ein solches Lager und was macht es aus den Menschen, die hier eingepfercht sind? Am Beispiel des Brotraubs wird nachvollziehbar, wie der Kampf um das nackte Überleben jegliche Basis für auch nur ein Minimum an Solidarität zerstört, und dass moralische Kategorien hier nicht mehr greifen können, wo Amoralität das Handeln der einzelnen bestimmt:

Es ist in der Tat der Brotraub, freilich verstanden als Chiffre für jede Art von Versuch, das eigene Leben zu retten. Ethisch gesehen besteht das zutiefst Verwerfliche in dem Diebstahl nicht bloß darin, dass er sich im Interesse seiner Selbsterhaltung mit der waltenden Amoral gemein macht: Er kollaboriert mit dem KZ-System. Der Brotraub ist lediglich die verschärfte Variante jeglicher Anstrengungen eines Häftlings, für sein eigenes Überleben zu sorgen. Es ist letztlich nichts anderes als das Bemühen, spät und doch zeitig genug am Suppentopf anzukommen, so dass man eine Kellevoll vom Bodensatz erhält, in dem Fleischfasern und Gemüse schwimmen. Wem das gelingt, der weiß, dass andere nur wässrige Brühe bekommen haben. Der Brotraub ist nichts anderes als das Bemühen, beim Appell in der Mitte der Reihe zu stehen, so dass man keinem SS-Mann auffallen kann. Wem das gelingt, der weiß, dass andere die Angst vor den Prügeln durchstehen müssen, zu denen die Posten womöglich aufgelegt sind. Am Ende ist der Brotraub auch nichts anderes als die Fähigkeit, weiterzuarbeiten, während der Nebenmann vor Erschöpfung zusammenbricht. Wem das gelingt, der weiß, dass der andere geschlagen wird, während er, der Überlebenswillige, dazu verdammt ist, schweigend zuzuschauen und weiterzuarbeiten. (S. 153)

Sind dies die beklemmendsten Seiten des Buchs , so die Darstellung von Semprúns Leben im spanischen Untergrund, vorwiegend in Schlupflöchern der Kapitale Madrid, die aufregendsten. Hier lässt Augstein einen wahren Reigen an interessanten Menschen, man möchte sagen: verrückten Typen, auftreten – Literaten, Künstler, Intellektuelle, Adlige – wer da alles mitmischte und mit welcher List und Raffinesse man an der gemeinsamen Sache arbeitete, innerhalb und am Rande der Kommunistischen Partei Spaniens: das muss eine illustre Gesellschaft gewesen sein. Die ersten Fünfziger Jahre waren denn auch für Semprúns politisches Leben die glücklichsten wie erfolgreichsten, in denen er Führungspositionen und –aufgaben in der Partei wahrnahm und großes Ansehen genoss. Bis zur Wende im Jahr 1956 – ab da nährten sich Zweifel am Kommunismus, insbesondere am Stalinismus, ab da verschärften sich die Auseinandersetzungen in der KP, die später zum Ausschluss Semprúns und weiterer Weggefährten führten.
Ein Leben voller Zäsuren, das immer wieder auch einen Wechsel der Identität und des Selbstverständnisses erforderte – ganz abgesehen davon, wie viele menschliche und politische Enttäuschungen es zu verarbeiten galt.

Was das Buch so interessant und lebendig macht, sind auch die vielen verstreuten Einschätzungen zur Person Semprún, die Augstein aufgrund ihrer persönlichen Bekanntschaft und sachbezogenen Nähe zu ihm vorzunehmen in der Lage ist. Es ist schon spannend zu erfahren, wie Semprún ist, welche Eigenschaften, Eigenheiten, Eigenarten sie an ihm während der Zeit der Zusammenarbeit festgestellt hat. Wer einmal einen Roman von Semprún gelesen hat, möchte gerne wissen, was für ein Mensch sich dahinter verbirgt. Auch diese Neugier befriedigt das Buch, ohne je ins Voyeuristische abzugleiten. Es ist die Leistung einer Journalistin „aus gutem Hause“, der man gerne eine weite Verbreitung dieses ungewöhnlichen Buchs wünschen möchte, weil es Nahaufnahmen aus einer ereignisreichen Zeit über die politischen Verhältnisse in Frankreich und Spanien zeigt und zugleich einen Einstieg in die literarischen Werke Semprúns gewährt.

* Petra Frerichs, Köln, promovierte zum Thema „Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung“, erschienen beim Verlag Haag + Herchen


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