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Titel: Für das Gesundheitssystem ist Gesundheit bedrohlich

Datum: 14. März 2019 um 8:35 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Interviews
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Macht unser Gesundheitssystem gesund oder krank? Sven Böttcher, Journalist und Autor, hat seine eigenen Erfahrungen mit dem „Krankensystem“, wie er es nennt, gemacht. 4 Jahre lang litt er unter Multipler Sklerose. Der Schulmedizin und Pharmaindustrie hat er früh misstraut und ist einen anderen Weg gegangen. Nun hat er in seinem Buch „Rette sich, wer kann – Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“ seine Erfahrungen veröffentlicht. Im NachDenkSeiten-Interview legt Böttcher seine Kritik an dem Gesundheitssystem dar und betont, wie wichtig der kritische Patient ist, der Behandlungen hinterfragt. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Böttcher, Sie kritisieren unser Gesundheitssystem. Warum?

Weil es kein Gesundheitssystem ist, sondern ein Krankensystem. Das Ziel des Systems ist Wachstum, und Wachstum bedeutet mehr Behandlungen, also sind immer mehr Kranke erforderlich. Der Begriff „Gesundheitssystem“ ist daher falsch gewählt und führt in die Irre.

Warum macht unser Gesundheitssystem krank?

Gesunde. (Lacht). Das System ist ja nicht krank, sondern kerngesund, solange immer mehr Menschen krank sind oder werden. Das „Gesundheitsministerium“ feiert alljährlich die Zuwächse der Branche, was einigermaßen absurd ist, denn mehr Ausgaben für Behandlungen bedeuten ja nicht „mehr Gesundheit“, sondern weniger. Die Krankheitsbranche ist längst unser wichtigster Wirtschaftsmotor und generiert bereits 12-18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), mit besten Zukunftsaussichten.

Das heißt? Es geht in unserem Gesundheits- bzw. wie sie sagen: Krankensystem, nur ums Geld?

Es geht grundsätzlich darum, Geld zu bewegen und diese Bewegung zu messen, nicht nur im Krankensystem. Die Erkenntnis ist ja nicht originell. Wir messen unser Wohlergehen mittels Kennziffer, mittels des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Steigt der Wert, geht es uns gut. Stagniert oder sinkt der Wert, geht es uns schlecht. Wir übersehen dabei, dass das BIP als Messinstrument für unser Wohlergehen ungefähr so taugt wie ein Fieberthermometer zum Messen des Reifendrucks, aber es gelingt keinem, diese Teufelszahl aus der Welt zu schaffen. Das ist grundsätzlich verheerend, aber im Krankensystem sollte es uns doch endgültig als absurd auffallen. Weil es hier eben tatsächlich lebensgefährlich ist.

Wie meinen Sie das?

Unser Wohlergehen hängt davon ab, dass es uns nicht wohl ergeht. Wäre die Hälfte unserer derzeitigen „Gesundheitskunden“ plötzlich gesund – tatsächlich oder gefühlt – würde unsere Wirtschaft zusammenbrechen. Die Hälfte der Arbeitsplätze in der Krankenbranche wäre weg, das BIP wäre krank, die sozialen Systeme belastet, die Steuereinnahmen fehlten. Das geht natürlich nicht. Im Gegenteil, wir brauchen mehr Beschäftigung im Krankensystem, und am stabilsten lässt sich das mit immer mehr Kranken herstellen. Jörg Blech hat ja schon vor vielen Jahren ganz zurecht konstatiert, was unser Ziel sein muss: Die Hälfte der Bevölkerung krank, die andere beschäftigt im Krankensystem. Überschneidungen sind natürlich möglich und durchaus erwünscht.

Das dürfte aber schwierig werden.

Nein. Es wird ja nicht mal verstanden, verständlicherweise. Sie kennen Ihren Sinclair, sinngemäß: Es ist schwer, Dinge zu verstehen, wenn Ihr Einkommen davon abhängt, dass sie sie nicht verstehen. Das ist die Behandlerseite. Für den Patienten ist es aber noch tückischer, denn der wendet sich ans „Gesundheitssystem“ und geht natürlich davon aus, dieses System wolle seine Gesundheit herstellen. Steht ja über dem Eingang. Aber für das System ist Gesundheit bedrohlich, siehe oben. So haben wir es also mit einem interessanten Missverständnis zu tun, denn in dieser Maschine hält sich förmlich das Benzin für den Fahrgast. Das meint die Maschine aber gar nicht böse. Man muss sich nur klarmachen, wie sie funktioniert.

In Ihrem Buch setzen Sie sich auch mit den Ärzten auseinander. Welche Rolle kommt ihnen in diesem System zu?

Erstens mache ich Ärzten keinen Vorwurf – und auch sonst niemandem – zweitens ist das grundsätzliche Wahrnehmungsproblem von Ärzten ja nichts Neues. Das haben schon Weizsäcker und Illich beschrieben. Aber mit der Erfindung der Autoimmunerkrankungen haben die Mediziner es jüngst tatsächlich geschafft, den Menschen von seinem allerwichtigsten Verbündeten in der alltäglichen Auseinandersetzung mit Angreifern aus Luft, Boden und Lebensmittelchemie zu trennen. Wer glaubt, von eigenen Immunsystem mutwillig verraten zu sein und dann auch noch glaubt, ein Arzt könne da helfend oder heilend eingreifen, der ist tatsächlich verloren.

Würden Sie bitte unseren Lesern erzählen, wie Sie überhaupt darauf gekommen sind, sich mit dem Thema Gesundheitssystem auseinanderzusetzen?

Ich war zwischen 2005 und 2009 sehr krank. Die Diagnose lautet Multiple Sklerose, das heißt, die Ummantelung der Nervenbahnen in meinem Rückenmark und Gehirn geht kaputt, die Gründe sind der Schulmedizin nicht bekannt. Mein Krankheitsverlauf war in den ersten 4 Jahren extrem. Ich hatte einen „Schub“ nach dem anderen, konnte nicht mehr arbeiten, habe dauernd alles doppelt gesehen, unter anderem, und lag schließlich mit gelähmten Extremitäten und einigen halbgelähmten inneren Organen im Krankenhaus, wo man dringend zur sogenannten Eskalationstherapie riet, also zum Einsatz eines monoklonalen Antikörpers. Inzwischen ist man da etwas zurückhaltender, weil an dem Stoff zu viele Leute verstorben sind. Ich habe damals jedenfalls einen anderen Weg gesucht und gefunden als den von Schulmedizin und Pharmaindustrie dringend empfohlenen.

Und sind wieder gesund geworden?

Gesund ist relativ. Nach WHO-Definition bin ich natürlich nicht gesund, denn Gesundheit ist ja der Zustand vollständigen Wohlergehens in jeder Hinsicht, materiell, seelisch, körperlich. Danach wären dann wohl maximal 5% der Menschen gesund, und zwar nur vitale 25-jährige mit frischer Freundin und frischem Traumjob. Meine Definition von Gesundheit geht anders, zirka so: Entsprechend dem Lebensalter allein in der Lage, mit allem klarzukommen. Also bin ich gesund, ja.

Aber nicht geheilt? Denn Multiple Sklerose ist ja unheilbar.

Ja. Interessanter Begriff. Da reden Ärzte und Patienten dauernd aneinander vorbei. Der Patient hört „Das geht nie wieder weg!“, der Arzt meint aber, sofern er ehrlich ist, „Das wird nie wieder so wie gestern!“. Was absurd ist. Denn nichts wird wieder so wie gestern, schon gar nicht ich, weil sich ja die Entropie nicht abschalten lässt.

Haben Sie einen Ratschlag für die Kranken, die sich in diesem System bewegen?

Machen Sie sich klar, dass das Ziel des Systems dem Ihren völlig entgegensteht. Als Faustregel darf durchaus gelten: „Damit gehen Sie mal besser nicht ganz schnell zum Arzt.“ Machen Sie sich klar, was Sie erwarten, was Sie beim Arzt wollen, was realistisch ist. Natürlich sind Ärzte toll. Ärzte können uns wieder zusammennähen oder schienen, wenn wir verletzt werden. Es gibt tolle Medikamente (ca. 3% der Substanzen, die angeboten werden). Aber machen Sie sich auch klar, was Sie eigentlich meinen, wenn Sie als Gesundheitskunde zur „Vorsorge“ gehen oder zur „Früherkennung“. Und lassen Sie sich keine Psychopharmaka mit eingebautem Sensor andrehen (wie „Abilify MyCite“), wenn sie nicht möchten, dass die Anstaltsleitung ihre Compliance per App überwacht. Die sollen doch bitte wenigstens bei Ihnen vorbeikommen und Ihnen weiterhin nach der Pillenausgabe unter die Zunge gucken, so viel Zeit muss ja wohl sein für Hausbesuche.

Lesetipp: Böttcher, Sven: „Rette sich, wer kann – Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“. Westend Verlag. 224 Seiten. 18 Euro.


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