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Titel: Vernetzen, nicht ersetzen – Historische Mission der linken Sammlungsbewegung

Datum: 15. Mai 2019 um 15:09 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Soziale Bewegungen, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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Dass „Aufstehen“ trotzt des Rückzugs von Sahra Wagenknecht aus der Spitze der linken Sammlungsbewegung nicht tot ist, zeigte nicht zuletzt der gut besuchte Aufstehen-Kongress, der am 28. April in Berlin stattfand. Einer der Redner dort war der emeritierte Politikwissenschaftler und NachDenkSeiten-Gastautor Mohssen Massarrat, der unseren Leserinnen und Lesern eine leicht gekürzte Abschrift seiner Berliner Rede zur Verfügung stellt.

Die InitiatorInnen der linken Sammlungsbewegung wurden von einem unerwarteten Zuspruch überrascht. Über 170.000 Anmeldungen bei der Initiative spiegelten m. E. die momentan bei Millionen Menschen vorherrschende Meinung wider, dass Deutschland einen neuen Linksruck braucht, den aber die drei potentiellen Reformparteien zusammen, die SPD, die Grünen und die Linke, in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht liefern können:

Erstens haben diese Parteien keine gemeinsame Strategie für einen Politikwechsel und konkurrieren um dasselbe Wählerpotential. Und zweitens sind sie alle viel zu sehr von Lethargie und gegenseitigem Misstrauen durchdrungen, um eine radikale politische Alternative zum rechtsliberalen und konservativen Lager gemeinsam aufbauen und organisieren zu können. Tatsächlich wurde auch am Anfang von einigen InitiatorInnen der Sammlungsbewegung der Anspruch formuliert, auf das hier beschriebene Manko eine politische Antwort zu geben.

Eine solche Antwort, die auch mir persönlich vorschwebte, wäre beispielsweise die Vernetzung aller nebeneinander agierenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen und dadurch eine Stärkung des außerparlamentarischen Druckpotentials, bei gleichzeitiger Stärkung radikaler Positionen in den drei Parteien. Innerhalb der Führung der Sammlungsbewegung haben sich jedoch offensichtlich letztlich diejenigen durchgesetzt, die zu den bestehenden sozialen Bewegungen und den drei Parteien eine neue Bewegung bzw. eine neue Partei hinzufügen wollten. Der Aufbau eigener regionaler Strukturen, die von manchen Führungspersonen angemahnt wurden, weist auf dieses Ansinnen hin. Dass diese Strategie scheitern musste, lag allein aus physischen Gründen auf der Hand. Es war und konnte auch nicht nachvollziehbar sein, wozu noch eine weitere Partei oder eine weitere Bewegung nötig sein sollte, wenn alles schon vorhanden ist. Deutschland leidet nicht unter ausreichend Parteien mit Reformpotential, auch nicht unter wenig bunten zivilgesellschaftlichen Initiativen, sondern es leidet darunter, dass diese atomisiert sind. Durch diese falsche Weichenstellung wurden folglich die wenigen mühsam mobilisierten menschlichen und finanziellen Ressourcen buchstäblich verpulvert. Einige mussten, allein wegen Termin- und Organisationsstress, letztlich das Handtuch werfen – sehr verständlich.

Aufstehen als Transmissionsriemen der sozialen Bewegungen

Trotz eines Schiffbruchs beim ersten Versuch bleibt die Notwendigkeit eines neuen, die systemkritischen Kräfte zusammenführenden Projekts auf der politischen Agenda in Deutschland bestehen. Nun ist es an der Zeit, einen anderen Weg zu versuchen, um mit deutlich weniger Aufwand einen großen politischen Effekt zu erzielen. Aufstehen muss beginnen, wirklich einzusammeln, was schon längst da ist. Gerade in einer solchen Aufgabe steckt die historische Mission von Aufstehen. Aufstehen muss sich als Klammer, als Transmissionsriemen der Zivilgesellschaft begreifen und seine Ressourcen dafür einsetzen, um aus politisch atomisierten sozialen Bewegungen ein zusammenhängendes politisches Druckpotential zu schaffen. Gegenwärtig gib es schätzungsweise mindestens 1 Million Frauen und Männer, die bundesweit in diversen Initiativen tätig sind – das sind weit mehr als die Aktivisten aller deutschen Parteien zusammen. Und trotzdem stellen sie kaum eine nennenswerte politische Kraft von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung dar, obwohl ihre politischen Ziele von einer großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden. Nicht die Zivilgesellschaft, sondern die politischen Parteien setzen ihre Ziele durch, obwohl ihre Programmatik und praktische Politik in vielen Fällen gegen die Wünsche und Meinungen der Bevölkerungsmehrheit gerichtet sind. Dieser paradoxe Zustand hat m. E. vor allem damit zu tun, dass die Zivilgesellschaft neben- und nicht miteinander agiert und daher nicht in der Lage ist, ihr wirkliches Machtpotential politisch in die Waagschale zu werfen. Aufstehen könnte, ja müsste hier ansetzen, um die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden.

Es muss zusammenwachsen, was zusammen gehört

Soziale Bewegungen entstehen, wenn Parteien an den Problemlösungen scheitern. Insofern sind sie alle funktional miteinander verbunden, und streng genommen verfolgen sie auch politisch dasselbe Ziel: sie alle wollen bei den Parteien Druck erzeugen, um Reformen in Gang zu bringen und ihre jeweils eigenen Forderungen durchzusetzen. Beispielsweise fordert die Friedensbewegung von der Politik, militärisch ab- und nicht aufzurüsten. Sie weist u. a. auf den Zusammenhang von Waffenexporten und Ölkriegen hin. Abrüstung und Verhinderung von Ölkriegen sind aber nur zu erreichen, wenn eine radikale Energiewende, also weg von Öl und Gas und hin zu regenerativen Energietechnologien, stattfindet. Das ist aber gleichzeitig auch das Ziel aller Klimaschutzbewegungen, einschließlich der Schülerbewegung Fridays for Future. Wenn man genau hinschaut, sind Kräfte in der Wirtschaft und in der Politik diejenigen, die sowohl für Aufrüstung plädieren wie aber auch diejenigen, die alles daran setzen, um eine Energiewende zu torpedieren, die diesen Namen verdient. Daher wäre es nicht nur opportun, dass die Friedensbewegung und die Bewegungen gegen die globale Erderwärmung sich viel stärker als bisher verbünden, sondern sie müssen es sogar tun. Aufstehen hätte gerade hier die Aufgabe, zwischen Friedensbewegung und Klimaschutzbewegung zu vermitteln, sie zusammenzuführen und herauszustellen, dass sich beide Bewegungen gegenseitig stärken können. Eine solche Aufgabe können und möglicherweise wollen die Reformparteien auch gar nicht leisten.

Das Feld von zivilgesellschaftlichen Widerstandsaktivitäten, in dem Aufstehen als Transformationsriemen intervenieren und Win-Win-Effekte generieren kann, erstreckt sich selbstverständlich auch auf weitere soziale Konfliktfelder, die die Menschen zum Widerstand ermutigen können. Hierzu zählen u. a. die bundesweiten Bewegungen gegen die Wohnungsnot und zahlreiche Initiativen zur Zurückdrängung von Schröders neoliberaler Agenda-Politik: die entstandene Wohnungsnot resultiert nachweislich aus m. E. der bewusst inszenierten Strategie der Staatsverschuldung, um u. a. in den meisten gesellschaftlichen Bereichen, also auch im Wohnungssektor, die Privatisierung als eine ökonomisch rationale und alternativlose Option erscheinen zu lassen. Sarrazins Ausverkauf Hunderttausender Wohnungen in Berlin nach der rasant steigenden Verschuldung der Stadt gehört genauso zu diesem Komplex wie der bundesweite Verkauf von Sozialwohnungen mit dem Ergebnis, dass ihr Bestand von 4,5 Millionen in 1987 auf 1,5 Millionen Wohnungen in 2013 zurückgegangen ist. Privatisierung in allen Bereichen ist eine im Kern kriminelle Strategie des Finanzkapitals, um dem vagabundierenden Kapital zu höheren Renditen zu verhelfen.[1] Diese Strategie führt überall in der Gesellschaft – im Wohnungssektor, im Gesundheits- und Bildungssektor, in den kommunalen Versorgungseinrichtungen etc. – zur Einkommensumverteilung von unten nach oben. Dabei entstehen durch Privatisierung nirgendwo zusätzliche Wohnungen, nirgendwo Verbesserungen von medizinischen Dienstleistungen, nirgendwo Verbesserungen der Bildungsqualität oder der Verbilligung von Wasser und Energie, fast immer aber Preissteigerungen. Dieselben hochgradig antisozialen Resultate der Agenda-Politik, wie die prekären Arbeitsverhältnisse für einen großen Teil der über 40 Millionen abhängig Beschäftigten, tragen die Handschrift der neoliberalen Parteien und der reichen nimmer satt werdenden Elite. Dies gilt auch für 9 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor, für beinahe 1 Million Leiharbeitsverhältnisse, die dazu geführt haben, dass gegenwärtig 3,4 Millionen Menschen von 21 Millionen Vollbeschäftigten in Deutschland monatlich unter 2000 € brutto verdienen.

Welche politische Partei, welche politische Kraft wäre objektiv besser geeignet und glaubwürdiger, um den Widerstand aller sozialen Bewegungen, die aus den sozialen und politischen Folgen der aggressiven neoliberalen Politikkonzepte hervorgegangen sind, zu bündeln als eben jene frische außerparlamentarische Kraft wie Aufstehen. Gerade die Verschmelzung von unzufriedenen aktiven Mitgliedern in den „Reformparteien“ mit zehntausenden Bürgerinnen und Bürgern durch Aufstehen ist m. E. geradezu prädestiniert, den Prozess eines breiten Bündnisses sämtlicher systemkritischer sozialen Bewegungen zu einem nachhaltigen Bündnis für einen echten Politikwechsel voranzubringen.

Vor dem Hintergrund obiger Darlegungen schlage ich dem neuen Vorstand von Aufstehen und den Organisatoren des Aufstehen-Kongresses vor, im Juli 2019 die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Initiativen (wie Fridays for Future, Friedensbewegung, Volksentscheid zur Enteignung von Wohnungskonzernen, Initiativen gegen die Agenda 2010 etc.) zu einem Koordinierungstreffen einzuladen. Das Ziel dieses Treffens müsste sein, für September/Oktober diesen Jahres einen gemeinsamen Kongress zu veranstalten, um die inhaltlichen Schnittstellen auszuloten und gemeinsame Forderungen für einen nachhaltigen Politikwechsel zu formulieren. Der Kongress sollte dann die Grundlage für eine bundesweite Großdemonstration von möglichst vielen sozialen Bewegungen sein, die spätestens Anfang 2020 für einen radikalen Politikwechsel stattfinden sollte.


[«1] Näheres dazu siehe Mohssen Massarrat, 2017: Braucht die Welt den Finanzsektor? Hamburg


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