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Titel: Eine Schutzimpfung gegen Establishment-Schwachsinn

Datum: 30. Juli 2019 um 8:45 Uhr
Rubrik: Strategien der Meinungsmache, USA, Wertedebatte
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Tag für Tag liefern uns die Massenmedien ein Zerrbild der Welt, oft genug, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Erst wenn wir einen Schritt zurücktreten und uns „mal janz dumm stelle“ (Feuerzangenbowle), zeigt sich uns das unverstellte Bild. Der bewusst naive, unbefangene, aber aufmerksame Blick zeigt uns mehr von der Realität als der vermeintlich abgeklärte und informierte Blick. Schon im Märchen braucht es ein Kind, um belustigt festzustellen: Der Kaiser ist ja nackt! Die Erwachsenen dagegen haben sich ihre eigene Urteilsfähigkeit austreiben lassen. Die australische Journalistin Caitlin Johnstone plädiert dafür, sich wieder auf die kindliche Sicht der Welt einzulassen. Ein Blick mit Sinn dafür, was ist und dem Bewusstsein dessen, was sein sollte. Erst dadurch kann es gelingen, sich vom medial vermittelten Bild von Normalität zu befreien und zu erkennen, dass wir unsere völlig irre Welt dringend vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Übersetzung von Susanne Hofmann.

Kürzlich stellte die frühere First Lady Michelle Obama in einem Interview mit der CBS-Moderatorin der Sendung „This Morning“, Gayle King, die Präsidentschaft ihres Mannes der seines Nachfolgers gegenüber und behauptete, im Gegensatz zu Trump hätte die Familie Obama „keinen Skandal“ produziert.

„Ich musste [bei Trumps Amtseinführung] im Publikum sitzen als eine von nur einer Handvoll farbigen Menschen und dann noch diese Rede anhören. Alles das, woran ich acht Jahre lang irgendwie festgehalten hatte, und nun erlebte ich, wie mein Mann abgekanzelt wurde, und hatte das Gefühl, dass wir alles perfekt machen mussten, wissen Sie, kein Skandal,“, sagte Obama.

„Ja,“ antwortete King.

„Kein nichts“, sagte Obama, „Kein gar nichts“

„Ja, kein Skandal“, sagte King.

Man hört diese Behauptung aus dem Munde vieler Demokraten. Kurz vor der Wahl 2016 fand ein Tweet eine ungeheure Verbreitung und wurde zehntausendfach geteilt. Er lautete: „Acht Jahre. Keine Skandale. Keine Geliebten. Keine Amtsenthebungsverfahren. Nur Niveau und Anstand vereint auf eine Person.“ Das ist eine weit verbreitete Ansicht, die in Memes und Tweets regelmäßig wieder auftaucht, für gewöhnlich als Kritik am amtierenden Präsidenten.

Natürlich kann man nur aus einem einzigen Grund behaupten, dass Barack Obama „keine Skandale“ verursacht hätte: In unserer völlig durchgeknallten Welt gelten die Ermordung, Unterdrückung und Ausbeutung einer großen Anzahl von Menschen nicht als skandalös.

In einer vernünftigen, gesunden Welt würde man eine Präsidentschaft wie die Obamas mit verächtlicher Abscheu betrachten. Ja, in einer vernünftigen, gesunden Welt wäre ein Kriegstreiber und Wall-Street-Kumpan wie Obama gar nicht erst gewählt worden. Doch wollte man den Mitgliedern einer gesunden, harmonischen Gesellschaft aufzeigen, wie dieser Präsident seine Macht dazu eingesetzt hat, um Libyen und Syrien anzutun, was er diesen Ländern eben angetan hat, und um Bushs zutiefst bösartige Politik auf ganzer Linie fortzuführen und auszuweiten, um das Streben nach ökonomischer Gerechtigkeit acht Jahre lang in eine neoliberale Orgie umzumünzen, würden sich diese Menschen vor Abscheu abwenden.

Liberal eingestellte Menschen halten Obamas Präsidentschaft nur aus einem Grund für unauffällig und undramatisch, weil die Manager des Establishment-Narrativs der politischen/medialen Klasse diese Präsidentschaft als normal hingestellt hat. Hätte diese Klasse wegen Obamas Kriegstreiberei, wegen seiner Ausweitung der Überwachung, seiner Verfolgung von Whistleblowern, wegen seiner kapitalistischen Seilschaften etc. im gleichen Maße aufgeschrien wie wegen Trumps nicht existenter Verbindungen zu Russland oder dessen unerträglichen Tweets, würden dieselben Menschen Obama als grässliches Monster ansehen. Doch das haben die Propagandisten nicht getan, weil es die Sache des blutrünstigen Imperialismus im Ausland und der erdrückenden Austerität im eigenen Land behindern würde.

Die Medien und die Politiker, die im Besitz von Plutokraten sind, haben es in der Hand zu bestimmen, was Menschen als normal ansehen und was als seltsam, schlicht indem sie unaufgeregt auf Begebenheiten reagieren, die sie zur Normalität erklären wollen, und hysterisch auf Begebenheiten, denen man in ihren Augen mit Ablehnung begegnen soll.

Die recht feinen Abweichungen der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Tulsi Gabbard von der orthodoxen Linie der US-Außenpolitik werden zum Beispiel als so abartig seltsam dargestellt, dass man regelmäßig Experten aus dem Establishment sieht, die sich auf faszinierend absurde Weise über Gabbard äußern und damit durchkommen. Folgender Twitter-Kommentar von Reid Wilson von The Hill wurde tausendfach geliked und geteilt: „Heiße Wette/Prognose: Tulsi Gabbard wird am Ende Trump unterstützen.“ Der Präsident des Center for American Progress, Neera Tanden, teilte Wilsons Tweet mit der völlig überspannten Schlagzeile: „Meine Prognose: Tulsi kandidiert als Kandidatin der Grünen, um Trump den Sieg sichern zu helfen. Ich nehme jede Wette an.“ Und wieder Tausende von Likes und Retweets.

Nichts davon wird wirklich eintreten. Sowohl Wilson und Tanden wissen genau, dass das nie passieren wird. Gabbard ist eine recht konventionelle Mitte-Links-Demokratin, die die US-Kriegstreiberei nur etwas herunterschrauben möchte; sie bewegt sich so eindeutig innerhalb des vom Establishment autorisierten Overton-Fensters, dass sie soeben für ein Anti-BDS-Gesetz im Repräsentantenhaus gestimmt hat, Himmelherrgott nochmal. Weil sie aber gegen einige Aspekte des Dauerkrieges aufbegehrt und sagt, es sei eine gute Idee, mit wichtigen Staats- und Regierungschefs zu kommunizieren, die die US-Regierung nicht leiden kann, verhalten sich die Kampfhunde des Establishments so, als ob Hawaiis zweiter Wahlbezirk von einer Art schauerlichem Ungeheuer mit Tentakeln aus der Andromeda-Galaxie repräsentiert würde.

Ich hebe hier einige der krasseren Fälle hervor, doch Derartiges passiert andauernd, mehr oder weniger subtil. Die Wahrnehmung der Vorgänge durch die Öffentlichkeit wird andauernd durch eine Maschine verzerrt, die das Establishment-Narrativ deichselt und kontrolliert, was die Menschen als normal und was als abnormal betrachten. Das fällt einem sehr schnell auf, wenn man ein Gespür für Nachrichten entwickelt und darauf achtet, welche Themen die Massenmedien mit Berichterstattung überhäufen und welche Themen sie nahezu ausblenden; man merkt dann fast sofort, dass kaum ein Zusammenhang zwischen der Wichtigkeit einer Story und der Menge der Berichterstattung darüber besteht. Der für das Ausmaß der Berichterstattung ausschlaggebende Faktor ist die Beförderung der Interessen des Establishments und Werbeeinnahmen, in dieser Reihenfolge. Wie nachrichtenrelevant etwas ist, spielt kaum eine Rolle.

Um die Narrativ-Manager der Fähigkeit zu berauben, unser Gespür für Normalität zu manipulieren, muss man ein Bild einer vernünftigen und gesunden Welt erzeugen, an das man sich zu allen Zeiten halten kann, und dieses Bild zu unserer eigenen persönlichen Richtschnur dafür machen, was normal ist. Indem man ein lebendiges Bild einer vernünftigen und gesunden Welt in seinem Kopf hat, hat das falsche „normal“, das uns die Propagandisten andrehen wollen, keine Chance.

Was aber, wenn Sie auf ein viel größeres Bild hinauszoomen und sich eine gesunde und harmonische Welt vorstellen, in der alle unsere Hauptprobleme gelöst wurden und wir gemeinsam etwas Schönes bauen? Wie wäre das?

Viele Menschen möchten die Welt verändern, doch kaum jemand setzt sich je hin und erschafft für sich ein klares positives Bild einer Welt, in der alle positiven Veränderungen erfolgreich umgesetzt wurden. Die meisten Menschen neigen dazu, lediglich auf die je aktuellen heißen Debatten zu blicken, die sie in den Nachrichten sehen – über Gesundheitsversorgung, Einwanderungspolitik, Waffenkontrolle, Austeritätspolitik, Abtreibung, LGBTQ-Themen, Polizeigewalt usw. – und zu hoffen, dass jene spezifischen Probleme so gelöst werden, wie es ihnen vorschwebt.

Ich kann eine solche Welt nicht für Sie entwerfen, weil wir sicherlich unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie eine rundum gesunde und harmonische Welt aussieht. Ich versuche nicht, Ihnen ein bestimmtes Bild vorzugeben. Vielmehr versuche ich, Sie dahin zu bringen, selbst ein solides, klares Bild zu erschaffen, das nicht durch die falsche Normalität ersetzt werden kann, die die Narrativ-Manager tagein, tagaus in Ihren Kopf einzupflanzen versuchen. Halten Sie sich nicht zurück; schöpfen Sie aus dem Vollen und machen Sie die Welt so perfekt wie möglich. Alle Ihre Vorstellungen davon, welche Veränderungen Sie möglicherweise vornehmen würden – seien sie „realistisch“ oder „unrealistisch“ – sind ohnehin von Propaganda verfälscht. Entwerfen Sie also einfach eine perfekte Welt.

Es lohnt sich, sich dafür ein oder zwei Stunden zu nehmen und ordentlich Gehirnschmalz in die Überlegungen zu stecken. Sobald Sie ein positives Bild von einer gesunden und harmonischen Welt und ein wirklich klares Bild davon haben, wie es wäre, in jener Welt zu leben, ist es so, als ob Sie zu einem Bewohner jener imaginären Welt werden, der in diese Welt hier eintritt und sie zum ersten Mal sieht. Sie können das Leben mit den Augen eines Menschen sehen, für den „normal“ nicht endlose Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung und Erniedrigung ist, für den vielmehr die Abwesenheit all dessen normal ist. Auf die Weise wird der Wahnsinn dieser Welt sich wie eine schwarze Fliege auf einem weißen Blatt Papier abheben und Ihnen die Fähigkeit verleihen, klar zu sehen und präzise zu beschreiben, was sich an unserer Situation hier ändern muss.

Wenn Sie jemals die unglückliche Erfahrung gemacht haben, einem kleinen Kind erklären zu müssen, was Krieg ist, haben Sie eine Ahnung davon. Für ein Wesen, das diese Welt mit frischen Augen betrachtet, ist Krieg etwas durch und durch Sinnloses. Die Verstörung und der Kummer, die augenblicklich über das Gesicht eines Kindes huschen, bewirkt, dass Sie sich wie ein Idiot fühlen, selbst wenn Sie gegen den Krieg sind. Denn schließlich sind Sie ja Teil einer Welt, in der Erwachsene solch idiotisches Verhalten an den Tag legen. Jemand, der von einer gesunden und harmonischen Parallelerde auf diese Welt gekommen ist, würde das genauso sehen.

Stellen Sie sich vor, der Krieg würde nicht als Normalität dargestellt. Stellen Sie sich vor, ein US-Flugzeug, das eine Bombe auf andere Länder schmeißt und so Menschen in Fetzen reißt, würde als das grauenhafte Ereignis betrachtet, das es ja tatsächlich ist und man würde wochenlang ausführlich darüber berichten, anstatt ohne ein Wort darüber hinwegzugehen als etwas, das nun mal jeden Tag passiert und das viele Male. Ein Experte auf Fox oder MSNBC wird Ihnen sagen, dass Sie ein wahnhafter Irrer sind, wenn Sie meinen, das sollte sofort ein Ende haben. Jeder, der unsere Welt mit nicht-indoktrinierten Augen sieht, weiß, dass Sie ein wahnhafter Irrer sind, wenn Sie das nicht beendet sehen möchten.

Mit allen Ungerechtigkeiten, die man uns als normal zu betrachten antrainiert hat wie Hunden, verhält es sich so. Korruption. Plutokratie. Lohnsklaverei. Die Art und Weise, wie Obdachlose behandelt werden. Die Tatsache, dass es überhaupt Obdachlose gibt. Militarisierung der Polizei. Der Drogenkrieg. Gewinnorientierte Gefängnisse. Überwachung durch die Regierung. Propaganda. All diese Dinge sind von Natur aus ekelhaft, aber wir verlieren unser untrügliches Gefühl von Abscheu, weil wir trickreich dazu verleitet wurden, sie als normal zu akzeptieren. Streifen Sie also die Schuppen von Ihren Augen, indem Sie eine neue Vorstellung von Normalität für sich selbst entwickeln.

Titelbild: John Gress Media Inc./shutterstock.com


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