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Titel: FDP Wahlaufruf – Im Wahlkampf stirbt die Wahrheit zuerst

Datum: 3. Mai 2010 um 9:14 Uhr
Rubrik: FDP, Steuern und Abgaben, Wahlen
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Im Wahlkampf stirbt die Wahrheit zuerst, möchte man ausrufen, wenn man den am Sonntag auf einem außerordentlichen Parteitag verabschiedeten Wahlaufruf der FDP [PDF – 20 KB] liest. „Nordrhein-Westfalen wird heute gut regiert. Wir haben NRW vom rot-grünen Absteigerland zu einem echten Aufsteigerland gemacht“, heißt es da großspurig. Halten wir einmal einige Facetten der Wirklichkeit dagegen. Wolfgang Lieb

Die FDP will Nordrhein-Westfalen „weiter erfolgreich aus der Mitte“ regieren. Unter der Mitte versteht die FDP aber offenbar die Hotelbesitzer, die sie von der Mehrwertsteuer entlastet und die Besserverdienenden, die sie bei der Erbschaftssteuer schon entlastet hat und bei der Einkommensteuer weiter entlasten will [PDF – 116 KB]. Und unter einer Politik für die Mitte versteht die FDP die Einführung der Kopfpauschale, die Familien mit einem Brutto-Monatseinkommen bis 3.200 zusätzlich belastet [PDF – 395 KB]. Ab welchem Einkommen beginnt für die FDP eigentlich der „Mittelstand“?

„Aufsteigerland NRW“
„Wir haben die Kräfte der sozialen Marktwirtschaft gestärkt und so die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass trotz Wirtschaftskrise 250.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen konnten“, so prahlt der Wahlaufruf.

„Aufstieg durch Wachstum und Innovation“

„Aufstieg durch Effizienz und weniger Bürokratie“
„Die Grundlage aller Politik sind solide Staatsfinanzen. In den vergangenen fünf Jahren haben wir bewiesen, dass ein Landeshaushalt ohne neue Schulden erreichbar ist…Rot-Grün überließ uns ein hochverschuldetes Land mit einer Nettoneuverschuldung von 6,7 Milliarden Euro jährlich. Wir haben gespart“, rühmt sich die FDP.

  • Obwohl Schwarz-Gelb seit der Regierungsübernahme im Jahr 2005 rund 20 Milliarden Euro zusätzlich an Steuern habe eingenommen hat, sind die Schulden um 22 Milliarden Euro gestiegen. Die Nettoneuverschuldung liegt bei 6,6 Milliarden Euro. Den Kommunen, Kindern und Obdachlosen geht es heute in NRW schlechter als 2005.

„Aufstieg durch Bildung und faire Chancen“
„Wir haben die Bildungsausgaben von 36,7 auf 40,5 Prozent des Landeshaushalts gesteigert – mehr gibt kein anderes Bundesland für Bildung aus“, so lautet das Selbstlob.

  • Dazu ist zunächst zu sagen, dass Bildungsausgaben in fast allen Ländern angestiegen sind. In der laufenden Legislaturperiode belegt NRW bei den Ausgaben für das gesamte Bildungswesen als auch im Schulbereich nur den drittletzten Platz unter den Ländern.
  • Die jährlichen Steigerungsraten der Bildungsausgaben in NRW lagen im Zeitraum von 2000 bis 2005 sogar höher als in der Regierungszeit von Schwarz-Gelb.
  • Vergleicht man die Entwicklung der Bildungsausgaben mit der Entwicklung des BIP in NRW, so bleiben die Veränderungsraten der Bildungsausgaben deutlich hinter denen des BIP zurück.
  • Der Anteil des Landeshaushalts an den Gesamtausgaben des Bildungswesens blieb seit dem Jahr 2000 bei unverändert 75%. Ein Viertel dieser Ausgaben entfallen auf die Kommunen und Zweckverbände. Für die Bildungsteilnehmer ist entscheidend, was insgesamt an finanziellen Mitteln bei ihnen ankommt. Dem Anstieg beim Land um 3,8 Prozentpunkte muss gegengerechnet werden, dass sich von 2005 bis 2009 die Anteile der Kommunen gleichzeitig um 1,7 Prozentpunkte verringert haben.
  • Die Anteile der Bildungsausgaben für die Schulen sind seit dem Jahr 2000 von 62,5% auf 59,7% im Jahr 2008 zurückgegangen. Bei den Ausgaben für die Schulen nimmt NRW 2000 (14,32%) und 2005 (14,73%) jeweils hinter Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein den fünften und nach dem Soll 2009 (14,91%) hinter Baden- Württemberg, Bayern und Rheinland- Pfalz den vierten Platz ein. (Vgl. zu allen diesen Zahlen Gerd Möller Entwicklung der öffentlichen Bildungsinvestitionen in NRW seit 1995 im Ländervergleich in: SchVW NRW 2/2010)
  • Nach dem Bericht des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2010 [PDF – 166 KB] lag NRW 2007 (neuere Zahlen gibt es nicht) bei den Ausgaben für öffentliche Schulen je Schüler/in bei den allgemeinbildenden Schulen mit 4.900 Euro zusammen mit Schleswig Holstein und dem Saarland auf dem letzten Platz (Länderdurchschnitt: 5.400 Euro) (S. 6), bei den Grundschulen trägt NRW mit 3.800 Euro allein die „rote Laterne“ (Durchschnitt: 4200 Euro) (S. 7). Auch bei den Personalausgaben je Schüler/in steht NRW mit am Schlechtesten da (S. 8).
    Bei den Ausgaben je Studierende/n (NRW: 5.400 Euro/Durchschnitt 6.000 Euro) stehen nur zwei Länder noch schlechter da [PDF – 334 KB] (S. 161).

„Wir haben über 8.000 neue Lehrerstellen geschaffen … (und) den Unterrichtsausfall an unseren Schulen seit 2005 halbiert“, heißt es im Wahlaufruf der FDP.

  • Was den Unterrichtsausfall anbetrifft, hätten sich die Wahlkämpfer besser vorher einmal bei den Eltern schulpflichtiger Kinder umgehört. Dort ernten sie mit solchen Behauptungen nur Hohngelächter.
  • Die nicht näher ausgewiesenen 8.000 Lehrerstellen sind keineswegs alle zusätzlich, so wurden etwa vorhandene angestellte Lehrkräfte in Planstellen überführt, auch für private Ersatzschulen wurden Stellen neu geschaffen, zahlreiche Stellen sind an die Berufskollegs gegangen, um die Ausbildungsplatzmisere aufzufangen, über 3.000 Stellen mussten für den Ausbau von Ganztagsschulen eingesetzt werden. Dazu kam Stellenbedarf für neue Aufgaben, etwa für Englisch in der ersten Klasse. Die Frage ist auch nicht, wie viel Stellen vorhanden sind, sondern wie viele dieser Stellen besetzt sind, die SPD behauptet, dass 5.000 Stellen nicht besetzt sind. Für die Schulpraxis ist im Übrigen nicht die Stellenausstattung sondern der tatsächliche Stellenbedarf entscheidend. An der Größe der Klassen und am Unterrichtsausfall (man schätzt ca. 5 Millionen Stunden) hat sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in den 5 Jahren von Schwarz-Gelb kaum etwas geändert [PDF – 50 KB].
  • Ministerin Barbara Sommer hat die „Kopfnoten“ eingeführt und die Grundschulbezirke aufgelöst und damit der sozialen Desintegration schon in der Grundschule und für Gettoschulen, für die an den sozialen Rand Gedrängten, Tür und Tor geöffnet. Außerdem werden in NRW inzwischen sogar schon bei Grundschulen private Schulen zugelassen. Konzeptionslos ist die Schulzeit an den Gymnasien in NRW von neun auf acht Jahre gekürzt worden und damit der Stresspegel für die Schüler dramatisch angehoben worden.
    Die lange Liste der Pannen etwa beim Zentralabitur oder die überstürzte Einführung des Turboabiturs haben nicht nur den Zorn der Lehrerschaft sondern auch der Eltern geweckt.

„Bildung ist ein Bürgerrecht“, erzählt uns die FDP.

  • Der FDP-Landesvorsitzende und „Innovationsminister“ Andreas Pinkwart hat als einer der Ersten Studiengebühren eingeführt und damit die sozialen Barrieren für ein Studium erhöht.
    Pinkwart gehört zu den ideologischen strammsten Vorreitern der „unternehmerischen Hochschule“ und ist ein hochschulpolitischer Erfüllungsgehilfe des Bertelsmann Centrums für Hochschulentwicklung.

„Aufstieg durch Freiheit in Sicherheit“
„Wir haben NRW sicherer gemacht, ohne die Freiheit der Bürger einzuschränken“, attestiert sich die FDP:

  • – Im Länderranking „Sicherheit“ u.a. gemessen am Anteil an nicht aufgeklärter Straftagen liegt NRW im unteren Drittel.
  • Der hölzerne FDP-Innenminister Ingo Wolf – in den Medien auch als „Florida Wolf“ belächelt – hat mehrere verfassungswidrige Gesetze auf den Weg gebracht, darunter eine höhere Stimmhürde bei Kommunalwahlen und die Zusammenlegung von Europa- und Kommunalwahl. Beide Gesetze wurden vom NRW-Verfassungsgerichtshof gekippt. Ingo Wolf hat maßgeblich die Regelung zur Online-Durchsuchung privater Computer zu verantworten. Die wurde vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig eingestuft.
    Wolf hatte eine V-Mann-Affäre am Hals; ein mehrfach Vorbestrafter V-Mann in der rechtsextremistischen Szene soll vom Verfassungsschutz vor Strafverfolgung gedeckt und weiterbeschäftigt worden sein. Auch Wolf gab dessen Identität nicht preis.
  • NRW hat eine Justizministerin, die geradezu im Monatsrhythmus in negative Schlagzeilen gerät. Da gab es den Foltermord im Siegburger Jugendgefängnis, da war die Fluchthilfe eines Justizbediensteten bei zwei Aachener Häftlingen, da waren die Schlampereien bei einem Mordfall in Mönchengladbach, es gab jüngst den Tod einer Gefährtin eines Häftlings im Remscheider Gefängnis oder den Skandal um die Entbindung von Schwangeren in Fesseln (Siehe eine Chronologie der Pannen und des Versagens).
  • Zehn Tage vor der Landtagswahl demonstrierten sogar 300 Richter und Staatsanwälte nach einem Aufruf des Richterbundes, dem Müller-Piepenkötter einstmals selbst vorsaß, gegen die Streichung von Stellen im Justizbereich.
  • Der Präsident des NRW-Verfassungsgerichts, Michael Bertrams, hat die Amtsführung von Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) als “willkürlich” bezeichnet.

Man könnte Zeile für Zeile dieser Propagandaschrift durchgehen, bei nahezu jeder Sachaussage wird beschönigt und weiße Salbe statt konkreter Vorschläge angeboten.

Viel unseriöser geht es kaum. Die NRW-FDP bleibt Westerwelle treu: markige Sprüche hinter denen sich die Bedienung einzelner Interessengruppen und eine marktradikale gescheiterte Ideologie verbirgt.


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