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Titel: Ein Leserbrief zum notwendigen Aufbau der Gegenöffentlichkeit mithilfe von „Glaube wenig. …“

Datum: 15. November 2019 um 15:55 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Leserbriefe, Veröffentlichungen der Herausgeber
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Wir veröffentlichen diesen Leserbrief von Christian Appelt, weil er interessante Bezüge herstellt und deutlich macht, wie wichtig der Versuch ist, jenseits der etablierten meist unkritischen veröffentlichten Meinung eine Gemeinschaft der kritischen, noch selbstdenkenden Menschen aufzubauen. Daran wollen wir arbeiten und deshalb werden die NachDenkSeiten Sie noch oft mit diesem Projekt „belästigen“. Machen Sie mit!

Sehr geehrter Herr Müller!

Mit Überraschung und Freude habe ich heute gesehen, dass Ihr aktuelles Buch „Glaube wenig…“ auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste angekommen ist. Dazu sende ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch. Es tut mir gut zu sehen, dass kritische Bücher, insbesondere dieses, auf solch ein großes Interesse stoßen. Der Aufbau dessen, was Sie bezeichnenderweise als Gegenöffentlichkeit bezeichnen, ist wichtiger denn je, ja vermutlich überlebenswichtig.

Auch wenn ich kraft eigener wissenschaftlicher Tätigkeit ein kritischer Denker bin, auch wenn ich wie viele Menschen um einige der grundlegenden uns täuschenden und manipulierenden Zusammenhänge weiß, so hat mich doch die Fülle des von Ihnen angesprochenen Materials einige Tage regelrecht sprachlos gemacht. Ich erinnere mich, dass in den 80er Jahren während meines Studiums an der Universität in Köln plötzlich Aktivitäten zum Thema Euphemismusforschung aufkamen, es wurde sogar ein eigenes Seminar dazu gegründet. Es hieß, selbige Arbeiten und die wirklich gut bezahlten Studentenjobs seien direkt seitens der Regierung Kohl bezahlt worden. Noch machten wir als Studenten Witze darüber und erfanden beim gemeinschaftlichen Zusammensitzen im Café selbst einige Euphemismen und lachten laut. Selbst bei einem Moment des nachdenklichen Innehaltens hätten wir nicht für möglich gehalten, was in den nächsten Jahrzehnten für ein Großangriff auf unsere Meinungsbildung starten sollte. Ja, Neil Postman hatte uns gewarnt, aber wir bildeten uns ein, jung und unerfahren wie wir damals waren, über den Dingen zu stehen. Das Aufbauen von uns täuschenden Frames, also von Gedankenkorridoren der gezielten Irreführung, in denen wir uns alltäglich bewegen sollen, ist – und Ihr Buch zeigt es deutlich – eine hochentwickelte Kunst in Deutschland geworden.

Umso wichtiger ist es – und das sage ich meinen Töchtern nahezu täglich – dieses Vorgehen zu durchschauen und die Hoheit über die eigenen Gedanken zu verteidigen. Just dafür ist Ihr Buch ein kostbarer Begleiter. Bereits in Ihrer Einführung fällt meines Erachtens dazu der entscheidende Satz: Die Gedanken sind frei. Ja, wir können grundsätzlich in jedem Moment in Richtung dieser Freiheit des Denkens aus den Frames herausspringen, zumindest so weit, wie es unser neuronales Netzwerk zulässt. Jenes mag Peter Sloterdijk damals gemeint haben, als er sein Werk zur Kritik der zynischen Vernunft mit dem Satz beendete, dass die Geschichte von Gestern grundsätzlich zu nichts verpflichtet und jede bewusste Sekunde das hoffnungslose Gewesene tilgt und zur ersten einer Anderen Geschichte wird. Wie soll das aber gehen, und worauf genau haben wir zu achten? Ihr Buch beantwortet diese Fragen und schärft die Sinne. Eines ihrer angesprochenen Themen hat mich erschüttert, nämlich Ihr kritischer Hinweis auf den so erfolgreichen, mehr als 16 Millionen mal angeklickten Spot des Bloggers Rezo über die „Zerstörung der CDU“ und dessen unter die Lupe genommene Argumentationsweise. Dieser Umstand ist mir vollkommen entgangen, und er zeigt mir, dass wir jeden Tag erneut wacher als wach sein bleiben müssen und tatsächlich am besten wirklich alles hinterfragen, was wir insbesondere in den Leitmedien und in den Social Media lesen, sehen und hören. Der Begriff Wahrnehmung, also das WAHR nehmen, hat für mich neue Bedeutung erlangt. Mit Blick auf den hohen Platz in der Bestsellerliste hege ich die Hoffnung, dass diese Gegenöffentlichkeit zügig weiter wachsen möge. Über einen

Austausch mit Ihnen in dieser Sache würde ich mich sehr freuen.


Vielen Dank und beste Grüße!

Christian Appelt, Medizin-Ethnologe

Hagen/Westfalen


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