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Titel: 18 Jahre Krieg, 18 Jahre Lügen

Datum: 12. Dezember 2019 um 15:20 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Der Afghanistan-Krieg gerät nun zum Glück mehr in die Schlagzeilen. Grund hierfür sind die sogenannten Afghanistan Papers, die vor wenigen Tagen von der Washington Post veröffentlicht wurden. Die geheimen Dokumente sagen uns im Grunde nur, was viele schon längst wussten: Die Öffentlichkeit wurde belogen, und zwar immer und immer wieder. Von Emran Feroz aus Kabul.

Sobald ich in Kabul jemanden fragen würde, was er von der Veröffentlichung der Afghanistan Papers hält, würde er mich wohl nur ratlos anschauen und wahrscheinlich mit dem Kopf schütteln. Vor drei Tagen veröffentlichte die Washington Post ihre „huge story“ und veröffentlichte die geheimen Dokumente – einen 2.000-Seiten-Bericht, der deutlich macht, dass nichts, und zwar absolut gar nichts, gut ist am Hindukusch. Und zwar schon seit Beginn der NATO-Intervention im Jahr 2001.

„Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis für Afghanistan. Wir wussten nicht, was wir taten. Wir hatten einfach nicht den blassesten Schimmer“, sind etwa die Worte von Douglas Lute, einem der wichtigsten Berater der Bush- und Obama-Administrationen, und er ist nicht der einzige, der im Bericht zitiert wird. Insgesamt wurden mehr als 400 Insider, darunter führende Militärs und Politiker, von John Sopko interviewt. Sie alle geben mehr oder weniger zu, dass der US-Krieg in Afghanistan ein einziges Chaos sei. Niemand scheint zu wissen, wie sich das Dilemma lösen lässt. Hier einige Beispiele, die das gesamte Ausmaß der Täuschung deutlich machen und deshalb einen genaueren Blick wert sind.

  • Laut mehreren Interviewpartnern war es in der US-Militärzentrale in Kabul gängige Praxis, den Krieg reinzuwaschen und der Öffentlichkeit einen baldigen Sieg vorzutäuschen. Man bestand stets darauf, sogar wenn Gegenteiliges der Fall war. Laut Bob Crowley, einem Oberst der US-Army, wurden jegliche Daten in einer Art und Weise manipuliert, um ein möglichst gutes Bild abzuliefern.
  • Klare (und dennoch fragwürdige) Worte fand auch der US-Diplomat James Dobbins: „Wir marschieren nicht in arme Länder ein, um sie reich zu machen. Wir marschieren nicht in autokratische Länder ein, um sie zu demokratisieren. Wir marschieren in gewalttätige Länder ein, um sie zu befrieden, und im Fall von Afghanistan haben wir eindeutig versagt“.
  • Auch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der den Krieg damals begann, wusste mehr oder weniger, was auf die USA zukommen wird. In einem Memo aus dem Jahr 2002 sagt er unter anderem, dass man das US-Militär „niemals aus Afghanistan rausbekomme“, solange man sich nicht ernsthaft um eine Stabilität bemüht, die einen Abzug gewährleisten kann. Das Memo endet mit „Hilfe!“.
  • Ebenso deutlich wird aus dem Bericht, dass man so gut wie nichts über den „Feind“ wusste. Bekämpfte man Al Qaida, die Taliban oder andere Gruppierungen? Und wie präsent war dieser Feind überhaupt von Zeit zu Zeit? Bis heute behaupten das US-Militär und die Kabuler Regierung etwa, Al Qaida in Afghanistan zu bekämpfen, doch niemand weiß genau, um wie viele Kämpfer es sich dabei handelt. Vor einigen Jahren nahm ich an einer Afghanistan-Veranstaltung teil, auf der ein deutscher NATO-General, der lange in Afghanistan stationiert war, einen Vortrag hielt. Im Laufe des Vortrags zeigte der Mann eine Karte mit „Feinden“, darunter befand sich auch Al Qaida. Im Raum befand sich auch Thomas Ruttig, ein bekannter Afghanistan-Kenner. Er wollte vom General wissen, ob sich in Afghanistan 30, 300 oder 3000 Al-Qaida-Kämpfer befinden würden. Doch dieser geriet ins Stottern und hatte keine Antwort. Ähnlich verhält es sich auch mit vielen Interviewpartnern der Afghanistan Papers.
  • Unbekannt waren wohl auch viele „Freunde“. Als die USA in Afghanistan einmarschierten, förderten sie vor allem korrupte und brutale Warlords, die sich um Ex-Präsident Hamid Karzai versammelt hatten. Viele von ihnen, darunter auch Familienmitglieder Karzais, begannen allerdings schon bald, mit den Millionen von US-Dollar ihr eigenes Spiel zu spielen. Durch fingierte Anschläge erwarb man Verträge mit NATO-Truppen. Gleichzeitig stieg man mit den US-Subventionen ins Drogengeschäft ein. Nur zur Erinnerung: Kurz vor dem Einmarsch der NATO lag der afghanische Opiumanbau praktisch bei null. Mittlerweile ist das Land wieder Rekordexporteur. Männer wie Ahmad Wali Karzai, ein 2011 getöteter Bruder Hamid Karzais, gehörten zu den wichtigsten Drogenbaronen des Landes – und standen nebenbei auch auf der Kontaktliste der CIA.

Die Verantwortlichen in Washington und anderswo wussten von diesen Entwicklungen, doch sie wollten sie verschleiern. Sie wollten ihre Fehler nicht einsehen, sondern zogen den gezielten Betrug der Öffentlichkeit vor. Als Sonder-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (kurz SIGAR) hatte Sopko die Aufgabe, das Kriegsdesaster zu ergründen und veröffentlichte regelmäßig die SIGAR-Berichte für den US-Kongress. Jeder, der die Berichte kennt, weiß wie kritisch Sopko und seine Mitarbeiter regelmäßig vorgingen. Man gewann den Eindruck, dass sie kein Blatt vor den Mund nahmen, was von vielen Afghanistan-Kennern überraschend zur Kenntnis genommen und begrüßt wurde. Nun wird allerdings deutlich, dass genau dies der Fall war. Eine Zensur fand statt und besonders kritische Aussagen wurden nicht veröffentlicht. Ebenjener Bericht, der 2015 zustande kam, sollte ebenfalls nicht an die Öffentlichkeit kommen. Die Washington Post hat nun dank des Freedom of Information Acts einen dreijährigen Rechtsstreit gewonnen und die Bombe hochgehen lassen.

Die Papers verdeutlichen, dass der Krieg massiv schöngeredet wurde, und zwar in erster Linie nicht auf Kosten amerikanischer Soldaten oder Steuerzahler, sondern zulasten der afghanischen Bevölkerung. Der NATO-Einmarsch in Afghanistan begann vor achtzehn Jahren. Seitdem wurde geplündert, gefoltert und getötet, und wie wir nun wissen auch gelogen, und zwar immer und immer wieder. Doch sind diese neuen Erkenntnisse wirklich neu? Sind sie wirklich derart „huge“ und eine „Bombe“? Jene, die sich mit dem Afghanistan-Krieg seit Jahren beschäftigen und schon seit längerem als scharfe Kritiker gelten, wissen, dass dem nicht so ist. Egal, ob Afghanen oder Nicht-Afghanen, auf sie hörte man kaum. Stattdessen wurde man regelmäßig als Anti-Amerikaner, Taliban-Sympathisant oder Feind von Menschen- und Frauenrechten diffamiert. Es ist stets dieselbe Leier, wenn man die Kriege der „Guten“ kritisiert.

Hinzu kommt, dass man in Europa und in den USA ohnehin oftmals eine viel zu lange Leitung hat. „Die Experten im Westen bemerken ihre Fehler immer viel zu spät. Erst nach vielen Jahren sagen sie „Ach, die hatten ja doch Recht““, meinte etwa der afghanische Politikanalyst Waheed Mozhdah, der vor kurzem in Kabul ermordet wurde. Mozhdah gehörte zu den schärfsten Kritikern der westlichen Besatzung und jenes korrupten Regimes, welches seit Ende 2001 in Kabul regiert. Ich pflegte nicht nur eine berufliche Bindung zu Mozhdah, sondern auch eine persönliche. Er war mein Onkel mütterlicherseits. Ich sah praktisch jeden Tag, wie er von westlichen Journalisten, Analysten, NGO-Mitarbeitern usw. aufgesucht wurde. Seine Gäste schätzten sein Fachwissen und saugten es förmlich auf, während Mozhdah sich immer überdurchschnittlich viel Zeit nahm, um auf alle Fragen einzugehen. Es gibt praktisch keinen Afghanistan-Kenner, der Mozhdah nicht mindestens einmal zitiert hat.

Auf lokale Experten wie Mozhdah wurde allerdings kaum gehört, wie die Papers deutlich machen. Immerhin interessierte man sich nicht einmal für die kritischen Beobachtungen der eigenen Leute. Das Resultat dieses Handelns könnte gar nicht schlimmer sein. Im Jahr 18 seit Beginn des Krieges herrscht in Afghanistan immer noch Chaos und Zerstörung. Die Anzahl der zivilen Opfer erreicht regelmäßig neue Höhepunkte, während Drohnen vermeintliche Terroristen jagen, CIA-Milizen Blutbäder veranstalten, eine brutale IS-Zelle erwacht ist und en masse mordet und die Taliban trotz ihrer anhaltenden Gewalt stärker sind als je zuvor und auf gleicher Augenhöhe mit den Amerikanern in Katar verhandeln.

US-Medien berichten mittlerweile von über 43.000 afghanischen Zivilisten, die im Laufe des Krieges getötet wurden. Hierbei handelt es sich weiterhin um eine absolute Mindestzahl. Andere Zahlen, die vor allem die US-Öffentlichkeit schockieren dürften, sind unter anderem folgende: Über 2.400 US-Soldaten wurden am Hindukusch getötet. Insgesamt kostete der Krieg Washington bis dato rund 1,5 Billionen US-Dollar. Allein 500 Milliarden (!) davon sind Zinsen. Der Rest wurde in Afghanistan „investiert“. Es steht außer Frage, dass der Großteil des Geldes versickerte und nicht nur die Korruption im Land förderte, sondern erst kreierte.

Es gibt viele Beispiele, die das Scheitern des gesamten Krieges deutlich machen. Als ich den Kabuler Distrikt Mussahi, der lediglich dreißig Minuten entfernt vom Präsidentenpalast liegt, vor einigen Monaten aufsuchte, stellte ich Folgendes fest: Er wurde von den Taliban kontrolliert, während die Dorfbewohner mit einer defekten Wasserpumpe aus Deutschland beschäftigt waren. Es handelte sich dabei um die einzige „Hilfe“, die sie in den letzten Jahren aus dem Ausland erreicht hat.

Titelbild: Sharaf Maksumov/Shutterstock.com


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