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Titel: Arno Luik: „Was passiert mit den Reisenden, die im Unglücksfall aus den Zügen fliehen wollen, deren Türen sich aber nicht öffnen lassen?“

Datum: 31. Dezember 2019 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Verkehrspolitik
Verantwortlich:

Die Verantwortlichen bei der Bahn investieren Milliarden im Ausland, während das Geld dringend hierzulande benötigt wird. Was hat es mit den Auslandsinvestitionen des Unternehmens auf sich? „Weltmachtfantasien“ der langjährigen Bahnchefs hätten regelrecht dazu geführt, dass die Bahn ausgeplündert worden sei, sagt der Bahn-Experte und Bestseller-Autor Arno Luik im NachDenkSeiten-Interview: „Das ist keine Polemik. Dass die Deutsche Bahn heute so jämmerlich daherrumpelt, sich in einem Zustand befindet, der für eine Wirtschaftsnation peinlich ist, hängt sehr konkret mit diesen Auslandseinsätzen der Bahn zusammen.“ Ein Interview über eine Bahn, die laut Luik unter ihren Führungskräften, den vorhandenen Strukturen genauso wie unter der Politik leidet. Von Marcus Klöckner

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Luik, die Probleme bei der Bahn scheinen kein Ende zu nehmen. Vor ein paar Tagen wurde in der ARD-Sendung plusminus darüber berichtet, dass seit 2015 auf der Strecke zwischen Stuttgart und Heidelberg „mehrere Signale“ gestört gewesen seien. Wie kann das sein?

Diese Ungeheuerlichkeit ist Ausdruck des allgemeinen Zerfalls der Bahn, ihrer Verlotterung. Jahrelang hat dort die Bahn Züge fahren lassen, obwohl die Strecke zwischen Bretten und Maulbronn-West nicht betriebssicher war, im Klartext: lebensgefährlich.  Seit 2016 ist der obersten Prüfbehörde der Bahn, dem EBA, bekannt, dass diese vielbefahrene Strecke nicht betriebssicher ist! Das EBA mahnt die Bahn. Die Bahn reagiert nicht. Das EBA hätte den gefährlichen Streckenabschnitt sofort, wie es im Amtsdeutsch heißt, „behördlich sperren“ müssen.

Was das EBA aber nicht getan hat.

Nein, weil es sich nicht getraut hat, eine Ungeheuerlichkeit. Das EBA ist gegenüber dem Verkehrsministerium weisungsgebunden, und deshalb brauchen die Prüfer Mut, wenn sie zum Schutz der Reisenden wirklich  – was ihre Aufgabe wäre! – eingreifen, ein Mut, der oft fehlt. Sie haben regelrecht Angst, zu weit zu gehen.

Und so bekommt die Bahn jetzt noch eine Frist bis Ende des Jahres.

Tja. Dass es nicht zu einem Unfall kam wie in Bad Aibling, wo vor drei Jahren bei einem Zugzusammenstoß zwölf Menschen starben – das ist, sagte mir kürzlich ein Bahnbeamter, „purer Zufall“. Man nehme, so der erzürnte Eisenbahner, „mit so einem Verhalten Tote billigend in Kauf!“ Bei dieser Bahn herrschen Zustände, die nicht sein dürfen. Da verbindet sich oft Inkompetenz mit Schludrigkeit.

Haben Sie dafür noch ein anderes Beispiel?

44 ICE-2-Züge hat die Bahn. Bei denen ist in diesen Monaten die sogenannte Hauptuntersuchung fällig.  Das ist eine aufwendige Sache: Die Züge werden in ihre Einzelteile zerlegt, alles wird gecheckt, dann wieder zusammengeschraubt. Dass dieser wichtige Termin ansteht – die Bahn, unfassbar, hat das glatt verpennt. Und nun fehlt es nun an allem für diesen wichtigen Check: an Werkstätten, an Reparaturkapazitäten, an Technikern, die Bahn weiß nicht mal, wo sie ihre Züge parken soll, es fehlen dafür sogar die Gleise. Chaos total. Der Bahnkunde wird wegen dieses Management-Versagens mal wieder leiden, wohl auch fluchen wegen überfüllten Zügen, alten Ersatz-Zügen, Zügen, die total ausfallen, Zügen, die nur als Halbzüge fahren. Fahrplan ade. Es ist wirklich dramatisch, was sich dieser Konzern erlaubt, erlauben kann, erlauben darf. Nicht nur, dass regelmäßig Züge komplett ausfallen, 140 000 waren es 2017, es gehen auch regelmäßig ICEs auf Fahrt, die nicht richtig gewartet werden, Züge, bei denen zum Beispiel die Druckluftbremsen ausgeschaltet sind, das Bremsvermögen sich deswegen verringert und die Züge nicht mehr so schnell fahren dürfen. Fahrplan ade.

Die Reisenden scheinen sich an Verspätungen, Überfüllungen und Zugausfälle gewöhnt zu haben.

Leider. Fatalistisch akzeptiert man so Vieles. Man akzeptiert heute fast klaglos, dass Türen oft nicht aufgehen. Dazu sagte Bahnvorstandsmitglied Ronald Pofalla, ohne rot zu werden, dass ICEs, die beispielsweise auf der linken Seite kaputte Türen haben, vorzugsweise mit der rechten Seite am Bahnsteig halten sollen. Vielleicht ist es kriminell, was Pofalla da von sich gibt? Denn: Was passiert mit den Reisenden, die im Unglücksfall aus den Zügen fliehen wollen, deren Türen sich aber nicht öffnen lassen? Rütteln sie verzweifelt an den kaputten Türen? Ein seriöses Unternehmen, dem die Fahrgastsicherheit am Herzen liegt, würde niemals einen Zug mit schadhaften Türen auf die Strecke schicken. Würde ein Flugzeug eine Starterlaubnis bekommen, obwohl eine Tür defekt ist? Undenkbar. Aber Zugtüren, die sich nicht öffnen lassen, sind inzwischen Standard bei dieser Bahn. Apropos Flugzeug: Ohne Inlandsflüge – und das ist eines der bestgehüteten Geheimnisse dieser Bahn AG – wäre die Lage der Bahn noch desolater: Fast jeden Tag, kein Witz, traurige Wahrheit, fliegt die Bahn Lokomotivführer mit der Lufthansa oder einer anderen Luftlinie  hin und her  durch Deutschland, von Hamburg nach München, von München nach Berlin, von West nach Ost: Sie müssen einspringen, werden rumgehetzt, weil bei dieser maroden Bahn überall Lokführer fehlen. Wenn es dieses unökologische Rumgefliege nicht gäbe, die Verspätungsstatistik der Bahn wäre noch verheerender.

Noch verheerender?

Es ist absurd: In über 140 Ländern ist dieser Konzern aktiv – zu Lande, zu Wasser, in der Luft. Aber hierzulande stümpert dieser Konzern, der von den Steuerzahlern mit weit über 10 Milliarden Euro jährlich subventioniert wird, unfassbar herum.

Die Bahn hat in den letzten Jahren viel in ihre Auslandstätigkeit investiert. Warum ist die Bahn überhaupt im Ausland tätig?

Bahnchef Mehdorn sagte mir in einem Gespräch dazu mal: „Wir müssen im Ausland angreifen. Es gilt das Gesetz des Stärkeren.“ Sein Nachfolger Grube erklärte apodiktisch: „Im Jahr 2020 wollen wir das weltweit führende Mobilitäts- und Logistikunternehmen sein“. Die Bahnchefs Mehdorn und Grube hatten Weltmachtfantasien. Und um die durchzusetzen, ist die Bahn in den vergangenen Jahren ausgeplündert worden. Das ist keine Polemik. Dass die Deutsche Bahn heute so jämmerlich daherrumpelt, sich in einem Zustand befindet, der für eine Wirtschaftsnation peinlich ist, hängt sehr konkret mit diesen Auslandseinsätzen der Bahn zusammen.

Warum?

Die verschlingen nicht nur viel Geld, sie verschlingen auch logistische Ressourcen: Wer sich mit Korruptionsfällen etwa in Griechenland oder mit Kartellstreitigkeiten weltweit beschäftigen muss, der hat einfach wenig Zeit, sich hierzulande noch richtig um Züge zu kümmern.

Wann hat die Bahn damit angefangen, im Ausland zu investieren?

Als Mehdorn, was für die Bahnkunden wahrhaft ein riesiges Unglück war, 1999 unter der Regierung Schröder/Fischer an die Macht kam, sagte er: „Unser Markt ist nicht Deutschland. Unser Markt ist die Welt“. Sätze, für die er sofort hätte entlassen werden sollen. Aber dieser Bahn-Azubi an der Spitze der Bahn, der aus der Auto- und Luftfahrtindustrie kam, durfte walten, wie er wollte. Ein Grund: Die rotgrüne Regierung wollte die Staats-Bahn loswerden, wollte sie unbedingt an die Börse bringen, sie privatisieren.

Sozialdemokraten und Grüne im Einsatz des Neoliberalismus.

Das gab diesem Bahnchef, der letztlich nichts anderes war als ein überbezahlter Totengräber der Bahn hierzulande, die Möglichkeit und die Macht, mit der Deutschen Bahn wie mit einem Privatkonzern umzuspringen, wie eine Aktiengesellschaft zu agieren. Das Verrückte: Mit der nahezu unbegrenzten Staatsknete im Hintergrund begann er in einem Anfall von imperialem Größenwahn weltweit Unternehmen aufzukaufen. Seine Gier nach einem Weltkonzern erinnert fatal an Jürgen Schrempps Traum von der DaimlerChrysler-Welt AG. Seinen alten Rivalen Schrempp wollte Mehdorn übertrumpfen. Er wollte groß sein, richtig groß, ein ganz Großer – wie sein Vorbild Napoleon: „Dass er klein und dick wie ich war, ist reiner Zufall“. Mehdorn – ein Master of the Universe. Wegen seines Größenwahns leiden die Bahnkunden noch heute, und sie werden noch lange leiden.

Wie kam es dazu?

Noch 1999 wurden mehr als 95 Prozent des Umsatzes der Bahn AG und mehr als 90 Prozent mit der Schiene erwirtschaftet. Heute macht die Bahn über 50 Prozent ihres Umsatzes im Ausland – und gut 50 Prozent ihres Gesamtumsatzes macht sie mit Geschäften, die nichts mit dem Bahnfahren zu tun haben.

Das sagt einiges aus.

In der Tat. Erklärtes Ziel des Bahnchefs Mehdorn war es, hauptsächlich „mit Non-Rail-Aktivitäten“ Umsätze zu erzielen. Man muss sich diese Frechheit dieses Gedankens mal vorstellen: Ein vom Staat hochbezahlter Bahnchef erklärt, dass ihm die Züge nicht allzu wichtig sind. Und genauso handelte er, von der Politik unterstützt: Er ließ – aus Kostengründen – tausende von Weichen und Kreuzungen rausreißen, er ließ Strecken stilllegen, unter seiner Ägide (und sein Nachfolger Grube machte fatalerweise genauso weiter) verkam und verlotterte die Bahn so fundamental, dass es fragwürdig ist, ob sie sich von seinem Tun jemals erholen kann. „Wie oft wird diese Weiche gebraucht?“ wollte er von seinen Bahnern in seinem Sparwahn wissen, der ihn an die Börse bringen sollte. Was? Nur zehnmal im Jahr? Raus damit! Und wieder war eine Ausweichmöglichkeit verschwunden. So agierte er, und das ist ein Grund, weshalb heute Zugverspätungen der Normalfall sind.

Was macht die Bahn im Ausland?

Alles Mögliche. Die Deutsche Bahn AG ist heute in über 140 Ländern unterwegs. Sie ist ein Konglomerat von fast 1000 Firmen, über neun engbedruckte Seiten zieht sich im aktuellen Geschäftsbericht ihre Auflistung. Die Palette reicht von der Bayern Express GmbH&P. Kühn GmbH bis zur Autobusni kolodovr d.o.o. Karlovac/Kroatien oder Kiinteistömaaliikenne Oy, Helsinki/Finnland – es ist ein hochkompliziertes Geflecht, das um den ganzen Globus reicht. Die Deutsche Bahn selbst ist bloß noch ein Anhängsel in diesem weltumspannenden Großreich, in dem die Sonne nie untergeht. Es ist erstaunlich, was diese Deutsche Bahn AG, die nicht in der Lage ist, hier in Deutschland ordentlich Züge fahren zu lassen, im Ausland so treibt: zum Beispiel Wein- und Minenlogistik in Australien, sie unterhält in Kopenhagen mit 350 Autos die weltweit größte Autoflotte für Carsharing, sie betreibt in Großbritannien Krankentransporte, sie lässt in London Doppeldeckerbusse fahren, sie steuert den Royal Train. Sie hält die Mehrheit an Kroatiens größtem Busbetreiber, sie baut eine Metro in Canberra, macht in vielen europäischen Ländern (etwa in Portugal, Polen, Dänemark, Spanien) mit ihren Bussen Konkurrenz zu den dortigen Staatsbahnen, bedroht also dort den staatlichen Schienenverkehr. Sie war in Saudi-Arabien am Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke beteiligt, sie elektrifiziert derzeit in Israel Bahnlinien (was hier dringend notwendig wäre!), sie baute in Katar Eisenbahnstrecken auf. Sie befördert 1,3 Millionen Tonnen Luftfracht rund um die Welt, transportiert inzwischen 2,17 Millionen Tonnen Seefracht auf allen Meeren, ist Marktführer im Schiffsverkehr zwischen China und den USA. Hierzulande aber hat die DB AG, was Fahrpläne  durcheinanderbrachte und Kunden verärgerte, ihre Schiffe, die auf dem Bodensee und nach Dänemark im Einsatz waren, längst veräußert.

Von welchen Investitionssummen ist auszugehen?

Von weit über zehn Milliarden Euro. So groß ist die Summe, dass sich die Investitionen nie amortisieren werden. Anders ausgedrückt: Die Zinsen für die teuren Einkäufe fressen die eh sehr mageren Gewinne auf. Einer, der das seit Jahren kritisiert, ist der Berliner Verkehrswissenschaftler Christian Böttger, Professor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft: „Die Strategie des weltweiten Konzerns ist gescheitert“, sagt er, „die Deutsche Bahn zahlt jedes Jahr drauf, und am Ende haftet der Steuerzahler“. Dass die Deutsche Bahn AG, die zu 100 Prozent im Staatsbesitz ist, im Klartext: den Bürgern gehört, also ein Volkseigener Betrieb ist, dass dieser Konzern seit Mehdorns Wirken weltweit private Unternehmen aufkauft – diese unternehmerische Ausrichtung ist von keinem Abgeordneten je abgesegnet worden. Die Bahn hat, natürlich mit Duldung der Politik, es einfach getan – und verstößt damit, so der Bundesrechnungshof, gegen den „grundgesetzlichen Gewährleistungsauftrag des Bundes“ hierzulande. Noch etwas: Dass Politiker dieses Aufkaufen von Firmen tolerieren, dass Politiker, für die Verstaatlichungen normalerweise Todsünden sind, dies bei der Bahn AG dulden und ermöglichen, verwundert. Es ist putzig, wie ein deutscher Staatskonzern mit deutscher Staatsknete weltweit private Unternehmen sozialisiert, sie also verstaatlicht. Die FDP müsste eigentlich den Bahn-Tower in Berlin stürmen. Man könnte das Handeln der Bahn AG eventuell akzeptieren, wenn ihre auch ordnungspolitisch fragwürdigen Aktionen große Gewinne einspielten. Milliarden Euro für eine funktionierende Bahn in Deutschland generierten. Aber so ist es ja nicht, im Gegenteil. Die Bahn hierzulande ist die Milchkuh für Auslandsabenteuer, die den Bürgern hierzulande nichts bringen außer: Zerfall.

Geld zur Investition in Deutschland stünde der Bahn also durchaus zur Verfügung.

Das Geld wäre da, aber hart gesagt: Seit Jahren wurde deinvestiert. Zwar bestreiten das die Bahnchefs rituell und betonen, dass sie jährlich 1,4 Milliarden in den Erhalt der Infrastruktur investieren, und Bahnchef Lutz möchte ja jetzt – mit Hilfe von Bundesmitteln – noch mehr investieren. Dass faktisch deinvestiert wurde, sieht man einfach am Zustand der Bahn: Alles ist in die Jahre gekommen. Die Bahnhöfe, die Loks, die Weichen, die Brücken, die Gleise. Ein Beispiel gefällig? 25 000 Brücken hat die Bahn, im Schnitt sind sie über 73 Jahre alt, 12 000 sind schon über 100 Jahre im Einsatz. Viele von ihnen sind so marode, wurden so wenig gepflegt, dass man sie abreißen und komplett erneuern muss – mindestens 1250 Bauwerke. Die Bahn AG: eine Schrottbahn. Aber hinter diesem Zerfall steckt System: Für den Erhalt und die Pflege ihrer Anlagen muss die Bahn AG selbst aufkommen. Ist aber etwas total verkommen, muss etwas ganz neu gebaut werden, dann zahlt das der Staat, also der Steuerzahler. Und so hat die Bahn kein großes Interesse, ihr Material kostenaufwendig in Schuss zu halten, ganz im Gegenteil. Wenn etwas neu gebaut wird, bekommt die Bahn AG bis zu 20 Prozent der Bausumme als Planungsaufsicht. Je teurer das Neue ist, desto besser für die Bahnbilanzen. Es ist verrückt. Wäre die Bahn AG ein Mensch, würde man sagen, dieser Mensch handelt unmoralisch, ihm ist alles egal, wenn er alles kaputt gemacht oder verkommen hat lassen, dann klaut er sich  halt das Geld, um den selbst verursachten Schaden zu beheben. So agiert der größte Staatskonzern des Landes. „Wir brauchen ein paar Milliarden Euro mehr!“, ruft er nun. Um Brücken zu reparieren, Signalanlagen aufzubauen, Gleise, Weichen zu rekonstruieren, wir brauchen noch mehr Geld, viel mehr Geld, um die Klimaziele zu realisieren! Es klingt vernünftig, ist aber bizarr: Da demontiert die Bahn seit Jahren ihre Infrastruktur, sie investiert hier zu wenig, verspielt Geld im Ausland, sie macht das System so schlank, dass es vor Schwäche fast kollabiert – dann ruft sie nach mehr Geld. Und bekommt es. Frech.

Schaut man als Außenstehender darauf, wie die Bahn agiert, kann man den Eindruck gewinnen, das Unternehmen kann schalten und walten, wie es will.

Die Bahn AG ist zu einem Staat im Staat geworden. Sie macht, auch mit Hilfe von Politikern beziehungsweise Ex-Politikern wie Ronald Pofalla, was sie will. Ein Beispiel: Seit ein paar Monaten sind – getrieben von der Fridays-for-Future-Bewegung – Klima und Ökologie die großen Politthemen in Berlin. Fast alle Politiker reden davon, dass mehr Güter auf die Schiene und mehr Menschen die Bahn benutzen sollen. Und was macht diese Bahn? Dieses Frühjahr verkauft sie zum Beispiel eine zwar stillgelegte, aber eine für die Zukunft sehr wichtige Nebenstrecke – die Steigerwaldbahn in Franken, knapp 50 Kilometer lang, rund 560 000 Quadratmeter Grund. Sie verscherbelt dieses überaus wertvolle Bahngelände für 700 000 Euro an einen Schrotthändler. Und das, obwohl die Städte Kitzingen und Schweinfurt, die dortigen IHKs die Strecke erhalten, sie für einen zukünftigen Schienenverkehr retten wollten. Der Schrotthändler hat vor ein paar Tagen angefangen, die Schienen, die viele, viele Euro wert sind, rauszureißen. Ein ökologisches Unding, was da passiert, aber auch ein politisches Unding. Es ist schon wundersam, wie dieser Staatskonzern das Öko-Mantra der Politik vorführen darf.

Sie beobachten das Unternehmen seit langem. Sehen Sie überhaupt an irgendeiner Stelle eine positive Veränderung?

Es gibt, leider, wenig Grund für Optimismus. Die Bahn, wie gesagt, ist in einem solch erbarmungswürdigen Zustand, dass es Jahrzehnte dauern wird, bis sie wieder ordentlich funktionieren kann. Es ist einfach viel zu viel zerstört, zu viel abgebaut worden. Es sind zu viele Mitarbeiter entlassen worden. Mit ihnen ist wertvolles Knowhow verschwunden. Dieses Bahnwissen ist zu oft ersetzt worden durch inkompetente, dafür aber sehr teure Berater von Berger und McKinsey. Es ist auch ersetzt worden durch Bahnchefs, die bei Amtsantritt keine Ahnung vom komplexen System Schiene hatten. Da waren, von der Politik so gewollt, jahrzehntelang Bahn-Azubis an der Spitze des Unternehmens, das in Sachen ökologischer Verkehrspolitik so wichtig ist. Unverantwortlich. Nun ist das Desaster da. Um so gut funktionieren zu können wie etwa die Bahn in der Schweiz, was für diese Industrienation das Minimum wäre, müsste das Streckennetz sofort um 25 000 Kilometer verlängert werden. Wie soll das möglich sein? In den vergangenen Jahren hat die Bahn sehr viel Land verkauft. Wo früher Schienen, Rangierbahnhöfe, Überholgleise, Bahn-Ausbesserungswerke waren, sind heute Bürohochhäuser, Logistikzentren, Parkplätze. Es ist Zeit für eine zweite Bahnreform. Es ist höchste Eisenbahn, das aberwitzige bürokratische Monstrum Deutsche Bahn AG zu zerschlagen. Unter dem Dach dieser Bahn AG agieren ja acht Bahn-Töchter, fast alles Aktiengesellschaften mit bürokratischem Wasserkopf, die jede für sich Gewinn machen sollen – zwangsläufig auf Kosten der anderen Bahn AGs.

Also steht auch die Struktur dem Erfolg im Wege?

Eindeutig. Diese Struktur lässt einen erfolgreichen Zugverkehr nicht zu. Nun bekommt, zumindest ist das so versprochen, die Bahn viel Geld, viele Milliarden Euro. Wohin das Geld geht, wird, so klagt der Bundesrechnungshof, nicht kontrolliert. Sehr wahrscheinlich verschwindet dieses Geld in verkehrlich und ökologisch so unsinnige Groß-Projekte wie Stuttgart 21, Münchens 2. Stammstrecke, der Fehmarnbelt-Unterquerung. Vielleicht sind also diese vielen Milliarden sogar kontraproduktiv? Denn sie werden helfen, antiquierte Projekte zu realisieren:  etwa die Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona. Dort soll mit Milliardeneinsatz ein optimal funktionierender Bahnhof, der mitten in der Stadt ist, in ein totes Industriegebiet verlegt und seiner Leistungsfähigkeit beraubt werden.  Und in Frankfurt soll unterm Main ein langer Tunnel gebuddelt werden – ebenfalls ein milliardenschweres Unterfangen. All diese Großprojekte sind verwerflich: unwirtschaftlich, dem Zugverkehr nichts bringend. Aber vor allem die Umwelt belastend: Beim Bau von einem Kilometer Eisenbahntunnel wird so viel CO2 freigesetzt, wie 26 000 Autos mit einer Laufleistung von 13 000 Kilometern im Jahr in die Luft pusten. All diese Großprojekte vereint dies: Sie erfreuen die Beton- und Tunnelbohrindustrie überaus. Dass es nicht wirklich besser wird, zeigt noch eine andere Idee der Bahn: Sie will nun eine neues Zugleitsystem einführen, das sogenannte ETCS-System. Ein fragwürdiges Unterfangen. Die Schweiz macht mit diesem System negative Erfahrungen – aber egal. Die Bahn hierzulande hat ein perfektes Zugleitsystem – auch egal. Das Neue muss her, koste es, was es wolle. Diese Umrüstung ist unnötig wie ein Kropf. Sie verschlingt sehr viel Geld – rund 21 Milliarden Euro. Ein finanzieller Kraftakt, der mitverhindert, dass die Bahn sinnvoll auf dem Land und in den Metropolen ausgebaut wird. Eine Geldverschwendung, die aber die Elektroindustrie überaus erfreut. Wenn man so will: Extraprofite für Siemens – auf Kosten der Bahnkunden. Auf Kosten der Ökologie. Auf Kosten der Vernunft.

Titelbild: Joerg Huettenhoelscher/shutterstock.com

Lesetipp: Luik, Arno: Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn. Westend Verlag September 2019. 20 Euro.


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