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Titel: Krieg, Bürgerkrieg oder Militärdiktatur

Datum: 16. Januar 2020 um 14:39 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Ressourcen
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Die Entwicklung des US-Iran-Konflikts nach der Ermordung von Ghassem Soleimani. Die Ermordung von Ghassem Soleimani auf Befehl von Donald Trump war eine offene Kriegserklärung der USA an Iran. Dieser von vielen Kommentatoren geteilten Einschätzung kann man ohne Wenn und Aber zustimmen. Mit der Ermordung des hochrangigen iranischen Generals verfolgen Kriegstreiber und Hegemonialkräfte der USA weiterhin, ihr Projekt des amerikanischen Jahrhunderts voranzubringen. Dazu gehört das Ziel, die vollständige Kontrolle über den Mittleren Osten und dessen für die US-Hegemonie existenziellen Ölressourcen niemals aus der Hand geben zu wollen. Dass die Ermordung des iranischen Generals eine völkerrechtswidrige und menschenrechtsverletzende Handlung war, steht außer Zweifel. Von Mohssen Massarrat.

Seit der Machtübernahme der US-Neokonservativen mit George W. Bush sind wirkungsmächtige Kräfte aus dem Umfeld des militärisch-hegemonialen Komplexes der USA sehr zielstrebig dabei, die großen ölreichen Zentralstaaten im Mittleren und Nahen Osten, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Völker der Region und den Weltfrieden – wie unten näher dargelegt – buchstäblich zu zerschlagen. In diesem Kontext erscheint mir die Annahme von Thomas Röper plausibel, dass der US-Außenminister Mike Pompeo Donald Trump zur Ermordung von Ghassem Soleimani gedrängt und diesen gar aufs Glatteis geführt hat. Röper zeichnet überzeugend nach, wie seit Oktober 2019 auf Putins Initiative hin ein Erfolg versprechender Entspannungsprozess zwischen Saudi Arabien und Iran in Gang gekommen war, in dem Soleimani wie der irakische Ministerpräsident Abid Abd Al Mahdi eine zentrale Vermittlungsrolle übernehmen sollten[1]. Dass nach Darstellung des FR-Journalisten Karl Doemens selbst das Pentagon über Trumps plötzliche Kehrtwendung nach offensichtlich anfänglicher Ablehnung der Ermordung Soleimanies „perplex war“[2], unterstützt Röpers These. Es ist tatsächlich kein Geheimnis mehr, dass auch Mike Pompeo – außer dem geschassten, ebenso Trump zu einem Iran-Krieg permanent drängenden John Bolton – den mächtigen Kräften des militärisch-hegemonialen Komplexes sehr nahe steht. Dass gerade John Bolton zu den ersten gehörte, der dem Präsidenten zu seiner Tat beglückwünschte, spricht Bände. Offensichtlich haben die ganz persönlichen Motive Trumps, vor allem Ablenkung von seinem Amtsenthebungsverfahren und auch der Verbesserung seiner Chancen zur Wiederwahl, bei seiner Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt. Für diese Vermutung spricht m. E., dass der US-Präsident an beiden US-Kammern vorbei gehandelt hat, um einer sehr wahrscheinlichen Blockade seiner Entscheidung vorzubeugen. Trumps Handlung wirft angesichts seiner unübersehbaren Folgen für den Weltfrieden übrigens ein Licht auf das politische System eines die Welt beherrschenden Staates, das es dem Präsidenten ermöglicht, aus rein egoistischen innenpolitischen Motiven heraus den Weltfrieden aufs Spiel zu setzen.

USA wollen hörige Kleinstaaten im Mittleren Osten

Dass es nach der Ermordung von Soleimani bisher nicht zu einem flächendeckenden Krieg zwischen USA und Iran gekommen ist, hat mit der moderaten Reaktion von Irans Machthabern zu tun, die vermieden haben, sich zu einer unüberlegten und den Krieg beflügelnden Aktion hinreißen zu lassen. Eine aus Rachegefühlen geleitete militärische Reaktion Irans hätte den Kriegstreibern in den USA in die Hände gespielt und wäre geeignet gewesen, die gesamte Region in Chaos und Anarchie zu stürzen.

Der Mittlere Osten stand schon immer wegen seiner immensen Ölressourcen im Visier von hegemonialpolitischen Interessen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts sahen die politischen Eliten des British Empire in der Stärkung von Zentralstaaten mehr Vorteile, um für die gesamten Territorien dieser Staaten neokolonialistische Verträge zur Ausbeutung der Ölressourcen zu schließen, als mühevoll mit den regionalen Stammesfürsten Geschäfte zu machen. Diese Intention mag auch erklären, warum die Kolonialstaaten Großbritannien und Frankreich nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1916 im Sykes-Picot-Abkommen zahlreiche von Stammesfürsten beherrschte arabische und kurdische Regionen in überwiegend künstlich zusammengebastelte Zentralstaaten zusammengefasst haben. Irak, Syrien, Jordanien, Libanon und Saudi Arabien wurden mit genau dieser Intention gegründet.

Unter den veränderten Bedingungen der Aufkündigung von alten neokolonialistischen Knebelverträgen und der Entstehung der OPEC hat die neue Hegemonialmacht USA um die Wende des 20. zum 21. Jahrhundert dagegen ein dezidiertes Interesse daran, starke zentralistische Ölstaaten in konkurrierende und sich gegenseitig bekriegende Kleinstaaten zu zerstückeln. Die USA verfolgen im Mittleren Osten, was oft übersehen wird, weit über die eigene Energieversorgung hinaus umfassende hegemonialpolitische Interessen: Die Kontrolle dieser Region setzt die USA in die ungemein starke Position, ihre eigenen westlichen Verbündeten, vor allem die EU, Japan, Südkorea u. a., die von den Ölimporten aus dem Mittleren Osten abhängig sind, mit dem Vorwand der militärischen Sicherheit der Energieversorgung in Schach zu halten. Die massive Ablehnung von North Stream 2 durch die USA beruht auch auf deren Befürchtung, sie könnten ihre Kontrollmöglichkeiten der EU-Energieversorgung schrittweise aus der Hand geben. Des Weiteren ist die Kontrolle der mittelöstlichen Ölstaaten die Grundvoraussetzung für die Abwicklung des Ölhandels in Dollar und die Zementierung der US-Währung als Weltwährung. Durch diese mehrschichtig wirkenden hegemonialpolitischen Hebel verfügen die USA über umfassende Interventionsmöglichkeiten in mehrere Richtungen und sind in der Lage, ihre Politik von divide et impera sehr wirkungsvoll durchzusetzen[3].Aus diesen Gründen werden sich die USA aus dem Mittleren Osten, entgegen anderweitigen Behauptungen, aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht zurückziehen.

Die Zerschlagung starker Ölstaaten im Mittleren Osten dient im Lichte dieser Analyse, wie oben erwähnt, der mittel- und langfristigen Festigung der weltweiten US-Hegemonie. Die aktuelle Entwicklung in Libyen und Irak belegen eindrucksvoll diese These. Durch die Zerschlagung des zentralistischen Gaddafi-Staates und die Schaffung von zwei rivalisierenden Machtzentren in Libyen wurden die Ölkonzerne in eine höchst komfortable Position gehievt, diese neuen Machtzentren wirkungsvoll gegeneinander auszuspielen. Diese Machtzentren nehmen hinreichend Ölrenten ein, um Waffen zu kaufen und gegeneinander Krieg zu führen. Damit ist also eine unsichtbare Zwangsjacke eines sich selbst steuernden teuflischen Kreislaufs Öl gegen Waffen etabliert, dem die innerlibyschen Kontrahenten auf absehbare Zeit nicht werden entrinnen können.

Dieses Modell funktioniert in einer noch schrecklicheren Weise auch im Irak, einem Land, in dem Saddam Husseins zentralistischer Staat zerschlagen und durch einen gänzlich instabilen und von den USA vollständig abhängigen schwachen Staat ersetzt wurde. In diesem neuen Irak funktioniert die Ölausbeutung unter der Regie der US-Ölkonzerne blendend, während die Iraker unter erbärmlichen Armutsbedingungen leben müssen. Auch hier wetteifern zwei Machtzentren um die Gunst der Ölkonzerne, das schiitische Machtzentrum in Bagdad und die kurdisch-nationalistischen Kräfte im Nordirak. Die Gefahr einer Abspaltung von Irakisch Kurdistan, die da lauert und die fragile Beziehung zwischen den Machtzentren ständig in Mitleidenschaft zieht, ist mit Händen zu greifen.

Zu dieser Strategie der Zerstückelung gehört auch das massive Wettrüsten zwischen Saudi Arabien und Iran, das die USA in den letzten 10 Jahren mit aller Macht geschürt haben und weiter aufrechterhalten. Im Grunde ist dieses Wettrüsten die Fortsetzung des Wettrüstens zwischen dem monarchistisch regierten Iran und dem Irak von Saddam Hussein, das die USA nach dem ersten Ölpreissprung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre akribisch geschürt haben. Auch während des achtjährigen Iran-Irak-Krieges in den 1980er Jahren, der m.E. nahezu zwangsläufig aus diesem Wettrüsten hervorging, haben die USA und Israel beide Kriegsparteien systematisch mit Waffen beliefert, um den Krieg möglichst lange aufrechtzuerhalten und damit beide Staaten zu schwächen und zu Verlierern zu machen.[4]

Es war und ist immer noch der vielfach dokumentierte Plan der US-Hegemonialkräfte, nach Afghanistan, Irak und Libyen auch den syrischen und vor allem den iranischen Zentralstaat – einem den US-Interessen im Mittleren Osten am stärksten entgegengesetzten Staat – in möglichst viele schwache regionale Kleinstaaten zu zerstückeln. Der Umstand, dass alle diese Staaten Vielvölkerstaaten sind, beflügelt diese heimtückische Politik, die für die Region jedoch Umweltzerstörung, Bürgerkriege und Millionen von Toten hervorbringt.

Nicht nur die USA, sondern auch Israel verfolgt aus anderen Gründen weitestgehend dieselbe Spaltungspolitik im Mittleren und Nahen Osten. Zu dieser Strategie gehört, dass Israel bisher alle Versuche zu einem nachhaltigen Frieden mit den Palästinensern torpedierte, die Spaltung innerhalb von deren Reihen forcierte und auch alle Bemühungen zur Annäherung und Einigung aller politischen Gruppen für einen Staat in Gesamt-Palästina erfolgreich unterminierte. Zu Israels Spaltungspolitik gehören auch die andauernden Versuche, die Volksgruppen im Libanon – Moslems gegen Christen, Sunniten gegen Schiiten u.a.m. – aufzuwiegeln und durch mehrere Kriege das Land in seine ethnischen Teile zu zerlegen. Dazu gehören auch Bündnisse auf Zeit, die Israel mit den arabisch-sunnitischen Despoten in Ägypten und Saudi Arabien gegen den syrischen Vielvölkerstaat – übrigens den einzigen laizistischen Staat im Mittleren und Nahen Osten – geschlossen hat. In dieses Schema passen auch Israels Versuche, die kurdisch-nationalistischen Separatisten bei der Abtrennung von Irakisch-Kurdistan vom irakischen Staatsverband kräftig zu unterstützen.

Zu einer objektiven Analyse gehört, trotz komplexer Konfliktstrukturen im Mittleren Osten, die Berücksichtigung von hausgemachten Ursachen für den Erfolg der imperialistischen Interventionen in den letzten zwei Jahrhunderten. Die Völker und Staaten dieser Region sind durchaus nicht nur Opfer des Kolonialismus und Imperialismus. Interne nationalistische und religiöse Ideologien, Klasseninteressen reicher Eliten und mafiöse Machtstrukturen waren und sind heute noch für das Desaster und die blutigen Interventionen mitverantwortlich

Ghassem Soleimani als Architekt einer Gegenstrategie

Die Eliten der Islamischen Republik hätten rein theoretisch diese menschenverachtende westliche Zerstörungsstrategie mit der Politik der regionalen Kooperation und gemeinsamen Sicherheit – was m.E. eine eindeutig friedlichere und so gut wie keine sozialen und ökologischen Kosten verursachende Strategie darstellt – durchkreuzen können, was freilich unter den realpolitischen Bedingungen von diktatorischen Herrschaftsverhältnissen in nahezu allen betreffenden Staaten einem weltpolitischen Wunder gleichgekommen wär.[5] So setzte sich unter intensiver Mitwirkung der Regierung der Islamischen Republik Iran eine realpolitische Gegenstrategie durch, die der US-israelischen-Strategie der Zerschlagung zentralstaatlicher Strukturen diametral entgegengesetzt ausgerichtet war. Geboren wurde die Idee einer solchen Gegenstrategie in 2001. Die Al-Kuds-Brigaden – die Auslandsabteilung der iranischen Revolutionsgarden – unterstützten, ironischerweise unter aktiver Mitwirkung des jungen Ghassem Soleimani, den US-Krieg gegen die Taliban in Afghanistan, den die USA und ihre Verbündeten nach dem Terroranschlag vom 9. September 2001 in New York geführt haben. Gegen die Taliban hatten die USA und der Iran, zwar aus unterschiedlichen Motiven, jedoch immerhin ein gemeinsames Interesse. Ghassem Soleimani und seine Brigade hatten so am Sturz der Taliban in Afghanistan auf jeden Fall einen Anteil. Beinahe unmittelbar nach dem Sieg über die Taliban erklärte George W. Bush, der damals amtierende US-Präsident, den Iran zum Schurkenstaat und zur Achse des Bösen, der in der ganzen Welt Terroristen ausbilde und daher bekämpft werden müsse.

Die klerikale Elite des Iran hat diese Botschaft des US-Präsidenten als klare Kampfansage an die Islamische Republik interpretiert und angefangen, eine neue militärische Gegenmacht gegen die USA im Mittleren Osten zu schaffen. Dazu gehörte m.E. das ab 2003 forcierte Atomprogramm und der Aufbau einer paramilitärischen und mit den Mitteln der asymmetrischen Kriegsführung ausgestatteten Interventionsmacht für die gesamte Region mit den Al-Kuds-Brigaden als deren ausführendem Organ. Die zentrale Aufgabe der Al-Kuds-Brigaden bestand darin, einem Zusammenbruch zentralstaatlicher Institutionen in Irans Nachbarstaaten Libanon, Syrien und Irak entgegenzuwirken. Ghassem Soleimani war der Architekt dieser iranischen Gegenstrategie, der bis zu seiner Ermordung die Al-Kuds-Brigaden zu einer schlagkräftigen Gegenmacht gegen die USA und ihre Verbündeten, allen voran Israel, im Mittleren und Nahen Osten ausgebaut hat.

Eine objektive Betrachtung der Rolle der Al-Kuds-Brigaden im Mittleren Osten erfordert unweigerlich ihre Einordnung in den historisch realen Kontext, der darin besteht, dass sich der Iran und die USA nach der islamischen Revolution 1979 faktisch in einem unerklärten und schleichenden Krieg in der Region gegenüberstehen. Es handelt sich um eine militärische Auseinandersetzung mit ungleichen Kräfteverhältnissen, in der Iran seine militärische Schwäche nur durch die asymmetrische Kriegsführung ausgleichen kann. Indem jedoch die Kriegstreiber in den USA und ihre Verbündeten in Politik und Medien die Al-Kuds-Brigaden aus diesem historisch realen Kontext herausreißen, öffnen sie gewollt oder ungewollt ihrer moralischen Verurteilung und der Rechtfertigung der Ermordung von Ghassem Soleimani Tür und Tor.

Dass eine asymmetrische Kriegsführung auch eine Kriegsführung ist, die mit Gewalt und Blutvergießen einhergeht, gehört zu den Wahrheiten des Konflikts im Mittleren Osten. Die USA betreiben nach dem Anschlag auf das World Trade Centre in New York im Mittleren Osten einen offenen und blutigen Krieg mit bisher über 3 Millionen Toten. Sie haben zur Entstehung von Zwiespalt, Hass und religiösem Fanatismus in einem erheblichen Ausmaß beigetragen. Nicht dieser hegemonial getriebene Staatsterrorismus und die Politik der verbrannten Erde der USA wird, gerade nach Soleimanis Ermordung, in den westlichen Medien als die eigentliche Ursache der meisten Kriege und Konflikte im Mittleren Osten angeprangert, sondern die Al-Kuds-Brigaden, die als Reaktion auf die US-Politik in der Region erst groß geworden sind.

Es gibt keine moralische Rechtfertigung für einen wie auch immer gearteten Krieg, weder für den hegemonialen Krieg der USA im Mittleren Osten, noch für den asymmetrischen Krieg der Al-Kuds-Brigaden. Zu einer objektiven Analyse gehört allerdings, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden und die Kriegsauseinandersetzungen völkerrechtlich zu bewerten. Der US-Krieg im Irak 2003 war eindeutig ein Völkerrechtsbruch, die subversiven Interventionen der USA zum Sturz der syrischen Regierung ebenso. Nach allem, was man weiß, haben die Al-Kuds-Brigaden ihre Aktivitäten in Irans Nachbarstaaten nicht gegen, sondern mit Zustimmung, im Falle Syriens und Irak gar mit dem ausdrücklichen Wunsch der jeweiligen Regierungen durchgeführt. Jedenfalls ist bisher nicht bekannt, dass diese Regierungen die Anwesenheit von Soleimanis Brigaden offiziell als illegal und unerwünscht erklärt hätten. Ohne eine Zustimmung der Regierungen, ohne enge Kooperation oder gar die Unterstützung der Bevölkerungen wären militärische und politische Erfolge Soleimanis undenkbar gewesen. Ihre Auflistung mag untermauern, dass es dem General in allererster Linie darum gegangen ist, der Spaltungs- und Zerschlagungspolitik der USA und Israels entgegenzuwirken.

Soleimani hat am Aufbau der Hizbollah-Miliz im Libanon und zum Sieg der schiitischen Gotteskrieger im 33-tägigen Krieg gegen Israel in 2006 und damit zur Beendigung der andauernden israelischen Militärinterventionen im Libanon entscheidend beigetragen. Es war auch Soleimani, der durch den Aufbau von schlagkräftigen Milizen in Syrien und die intensive Überzeugungsarbeit bei Putin den Zusammenbruch vom System Assad verhindert hat. Als die irakischen Kurden dabei waren, unter dem Beifall von Netanjahu den eigenen kurdischen Staat im Nordirak auszurufen und damit die endgültige Zerschlagung des Zentralstaats im Irak zu besiegeln, war es Soleimani, der den Kurdenführer Barzani von seinen Spaltungsplänen – und zwar ohne Gewaltanwendung und durch seinen charismatischen Einfluss – abbringen konnte. Und schließlich ist es der Verdienst dieses im Westen verhassten Generals aus Iran, dem es 2015 gelang, durch die Zusammenführung der zersplitterten schiitischen Milizen im Irak und der eigenen Al-Kuds-Brigade den Vormarsch der IS-Truppen, die bis auf wenige hundert Kilometer vor Bagdad vorgerückt waren, zu stoppen und zurückzuschlagen.

Aus der Sicht von USA, Israels und des Westens insgesamt war Soleimani der Unruhestifter und Terrorist und jemand, der die Region destabilisierte. Aus der Sicht langfristiger Interessen der nationalen und territorialen Souveränität der Staaten in der Region war er dagegen jemand, der einer von außen betriebenen wirklichen Destabilisierung des Mittleren Ostens erfolgreich entgegengetreten ist. Vor allem war es unbestritten ein Verdienst Soleimanis, die große Gefahr der Ausbreitung der vom Westen und von Erdogans Türkei nachweislich finanzierten und militärisch hochgerüsteten IS-Kämpfer Einhalt zu gebieten.

Das Dilemma für die Demokratiebewegung im Iran

Es stimmt allerdings auch, dass es der klerikalen Herrschaft im Iran mit ihrer Gegenstrategie in allererster Linie darum geht, den Fortbestand ihrer eigenen Macht zu sichern. Dazu müssen sie jedoch die territoriale Integrität und nationale Souveränität Irans verteidigen, regionale Verbündete suchen und robuste Allianzen schließen. Ohne Sicherheit für Iran als Ganzes kann es auch keine Sicherheit für die gegenwärtige islamische Herrschaft geben. Die Elite der Islamischen Republik nutzt diese Wechselbeziehung für den Fortbestand der eigenen Herrschaft. Die Hunderttausenden Regimegegner, die neben den Regimetreuen an den Trauerfeierlichkeiten von Ghassem Soleimani teilnahmen, taten dies, weil Soleimani nach ihrem Verständnis vor allem wegen der Niederschlagung der IS-Truppen im Irak und Syrien, auch für die Sicherheit Irans sein Leben geopfert hat. Befürworter und Gegner der Islamischen Republik innerhalb von Iran sitzen, wenn es um den Erhalt des Staatsverbandes mit allen darin lebenden Völkern geht, ob sie wollen oder nicht, so gesehen im selben Boot – ein verhängnisvolles Dilemma für die inneriranische Demokratiebewegung.

Für die Herrschenden im Iran ist es opportun, die Sicherheit des Staates in den Vordergrund zu stellen, um Regimegegner in die Defensive zu treiben. Diese wollen jedoch keine USA-hörige Regierung anstelle der gegenwärtigen Herrschaft. Gleichwohl sind sie dem Risiko ausgesetzt, vor den Karren der USA und ihrer iranischen Söldner für einen Regime Change eingespannt zu werden. Trumps Solidaritätsbekundung per Twitter an die Adresse der Regimegegner auf den Straßen von Teheran gehen exakt in diese Richtung. Den Kriegstreibern in den USA geht es darum, den berechtigten Widerstand der Millionen Menschen gegen die klerikale Herrschaft im Iran für die Veränderung der inneriranischen Kräfteverhältnisse zu kanalisieren, koste es, was es wolle. Dass durch ihre propagandistische und vielleicht begleitend auch subversive Intervention von außen Iran eher ins Chaos, in Bürgerkrieg und in die Zerstücklung des Landes getrieben werden könnte, steht m. E. nicht im Widerspruch, sondern in Übereinstimmung mit den Zielen der US-Hegemonialkräfte.

Das empörende Verhalten der Verantwortlichen der Islamischen Republik mit ihren drastischen Lügen nach dem Absturz des ukrainischen Flugzeugs mit 176 Menschen an Bord arbeitet diesen Kräften in die Hände. Angesichts des Fehlens einer politisch organisierten und bei der Bevölkerung anerkannten Führung ist es m.E. so gut wie ausgeschlossen, dass der Widerstand auf den Straßen zum Systemwechsel führen wird. So oder so, der Spielraum aller gesellschaftlichen Kräfte des Irans für einen Systemwechsel zur Demokratie ist dramatisch geschrumpft. Es stehen angesichts der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse m. E. zwei Alternativen an: Entweder errichten die mächtigen Revolutionsgarden in naher Zukunft eine Militärdiktatur, um ihre eigene Macht und die der religiösen Herrschaft zu retten. Oder aber es kommt zu einer politischen Vernetzung zwischen den unzufriedenen Strömungen im Machtapparat des Systems selbst mit dem systemkritischen Widerstand. Letztere Alternative dürfte mit erheblich geringeren sozialen Kosten einhergehen und wäre m.E. auch für die Demokratieentwicklung im Iran die eindeutig bessere Alternative. Eine demokratische Entwicklung im Iran und dessen Nachbarstaaten kann nur das Werk der eigenen Bevölkerungen sein.

Titelbild: Rainer_81/shutterstock.com


[«1] anti-spiegel.ru/2020/waren-geheimverhandlungen-zwischen-dem-iran-und-saudi-arabien-der-grund-fuer-den-us-angriff/

[«2] Die Frankfurter Rundschau v. 6. Januar 2020

[«3] Ausführlicher siehe Mohssen Massarrat, Superimperialistische Globalisierung. (im Erscheinen)

[«4] Ausführlicher siehe Mohssen Massarrat, 2018: Neue Entwicklungen im Mittleren Osten: Saudi Arabien und Iran, in: Lühr Henken (Hrsg), 2018: Abrüsten statt Aufzurüsten, Kassel

[«5] Aus dieser zusammen mit den politischen Aktivisten der deutschen Sektion Ärzte gegen den Atomkrieg und für soziale Verantwortung (IPPNW) gewonnenen Einschätzung entwickelte eine gemeinsame Arbeitsgruppe das Konzept einer ständigen Konferenz der mittel- und nahöstlichen Staaten für regionale Kooperation und gemeinsame Sicherheit (KSZMNO). Vgl. dazu hier.
Glücklicherweise entwickelte sich nach langen Umwegen, jedenfalls im Iran und in der Region, das Bewusstsein für regionale Kooperation, das sich am besten im Vorschlag des iranischen Präsidenten Hassan Rouhani in der UN-Vollversammlung im November 2019 für eine gemeinsame Initiative der Anrainerstaaten am Persischen Golf für die Sicherheit der Öltransportrouten in der Wasserstraße von Hormuz widerspiegelt.


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