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Titel: Deutschland ist gut vorbereitet für das Corona-Virus? Das ist Augenwischerei

Datum: 26. Februar 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik
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Ausgehend vom neuen Ausbreitungscluster in Norditalien hat sich das „neue Corona-Virus“ SARS-CoV-2 nun auch in Mitteleuropa festgesetzt. Meldungen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kroatien und natürlich allen voran Italien selbst legen nahe, dass eine Isolation auf die mittlerweile abgeriegelten Regionen nicht mehr möglich ist. In Deutschland gibt man sich derweil selbstbewusst und zweckoptimistisch – das deutsche Gesundheitssystem sei eines der besten der Welt und ohnehin bestens vorbereitet. Ach ja? Ist es nicht vielmehr so, dass unsere kaputtgesparten Krankenhäuser schon im Normalbetrieb an der absoluten Kapazitätsgrenze arbeiten und die übrigen öffentlichen Einrichtungen, die nötig wären, um eine Pandemie effizient einzudämmen, hoffnungslos kaputtgespart wurden? Wieder einmal betrügen wir uns selbst und wahrscheinlich werden diesmal viele Menschen diesen Selbstbetrug mit ihrem Leben bezahlen müssen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie gefährlich ist Covid-19, die Lungenerkrankung, die durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelöst wird? Das Bundesgesundheitsministerium stapelt hier vergleichsweise tief und zieht Parallelen zwischen Covid-19 und der saisonalen, „normalen“ Grippe. Auch Bundesgesundheitsminister Spahn übt sich im Tiefstapeln. Noch in seiner Ansprache vom Montag verglich auch er die Folgen von Covid-19 mit denen der normalen Grippewelle: „Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Ärzte und Pflegekräfte und alle, die im Gesundheitswesen tätig sind, bewältigen jedes Jahr Grippewellen, die das Gesundheitssystem zumindest vor vergleichbare Herausforderungen stellen“. Es wäre schön, wenn Spahn Recht hätte. Doch alle Zahlen, die uns zur Zeit zur Verfügung stehen, bieten keinen Anlass für Gelassenheit.

Die gute Nachricht ist, dass China das Virus offenbar durch die rigorosen Abriegelungen und Schutzmaßnahmen weitestgehend eingedämmt hat. Die Zahl der Neuinfektionen geht seit Wochen zurück, doch leider haben sich in Südkorea, Japan, Iran und Norditalien mindestens vier neue Infektionscluster gebildet, von denen jeweils vergleichbare oder sogar schlimmere Infektionswellen ausgehen könnten wie vom chinesischen Cluster in Wuhan.

Ist Covid-19 wirklich mit der „normalen Grippe“ zu vergleichen? Hier sollte man als erstes endlich damit aufhören, die Grippe zu bagatellisieren. Die echte Grippe hat wenig mit den „grippalen Infekt“ zu tun, der die meisten von uns immer wieder für ein paar Tage im Jahr mit Erkältungssymptomen ans Bett fesselt. Die echte Grippe ist indes eine vergleichsweise gefährliche Krankheit, die nach Schätzungen – da es keine verpflichtende Diagnostik gibt, muss man sich hier auf Schätzungen verlassen – des Robert Koch Instituts in Jahren mit starken Grippewellen in Deutschland schon mal rund 25.000 Menschenleben fordert. So zynisch es ist: Da es sich bei den Opfern zumeist um sehr alte, gesundheitlich vorbelastete Patienten handelt, ist das öffentliche und politische Interesse für diese Opfer vergleichsweise gering. Und genau im Punkt der demographischen Risikobewertung scheint es in der Tat Parallelen zu Covid-19 zu geben.

Nach den hauptsächlich aus China stammenden Zahlen sind mehr als 80% der bisherigen Todesopfer über 60 Jahre alt, mehr als 75% der Todesopfer hatten teils schwere Vorerkrankungen – vor allem Herzkrankheiten, Diabetes und Krebserkrankungen. Bei den unter 40-Jährigen ist die Todesrate mit unter 0,2% vergleichsweise gering. Es ist aus China kein einziger Todesfall bekannt, bei dem der Patient jünger als 9 Jahre war – hier gibt es einen erfreulichen Unterschied zur Grippe, die auch für Neugeborene oft tödlich ist. Abgesehen davon, dass auch ältere und erkrankte Menschen natürlich wertvoll sind und man ihre Gesundheit mit allen Mitteln schützen muss, führen diese Zahlen jedoch auch auf einem weiteren Feld in die Irre. Denn – immer vorausgesetzt, die chinesischen Zahlen sind korrekt – selbst die „niedrige“ Todesrate der unter 40-Jährigen liegt mit 0,2% doppelt so hoch wie die Sterblichkeitsrate der gesamten(!) Bevölkerung bei einer normalen Grippewelle. Die Sterblichkeitsrate der über 70-Jährigen liegt bei 8,0%, die der über 80-Jährigen bei 14,8%. Das heißt nichts anderes, als das in China jeder siebte Infizierte, der älter als 80 Jahre war, an Covid-19 gestorben ist.

Doch all diese Zahlen sind unter Vorbehalt zu betrachten. Wie hoch die statistische Sterblichkeitsrate wirklich ist, ist zur Zeit nur sehr schwer seriös zu sagen. Zum einen gibt es bei einer „laufenden“ Pandemie immer das Problem, dass man die Todesziffern mit der Zahl der aktuell Erkrankten ins Verhältnis setzt und damit tendenziell zu niedrig ansetzt. Andererseits muss jedoch immer davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer der nicht bekannten Erkrankten viel höher ist als die Dunkelziffer der nicht korrekt diagnostizierten Todesopfer, was die offiziellen Todesziffern tendenziell zu hoch ansetzen würde. Offiziell gibt das chinesische NHC die Sterblichkeitsrate mit 2,1% an. Diese Ziffer schwankt jedoch extrem. So beträgt sie im Epizentrum Wuhan 4,9% und in den entlegeneren chinesischen Provinzen nur 0,16% und liegt hier in der Tat schon fast auf „Grippeniveau“. Man darf jedoch spekulieren, dass gerade in den entlegeneren chinesischen Provinzen die Dunkelziffern ungleich höher sind und die Daten aus Wuhan und der Hubei-Provinz wohl die verlässlichsten sind. Und wenn man dies als Maßstab nimmt, liegt die Sterblichkeitsrate von Covid-19 zwischen 3,1% und 4,9%. Zum Vergleich: Die berühmte „Spanische Grippe“ hatte eine Sterblichkeitsrate von 2,5% und damals waren die Rahmenbedingungen weitaus schlechter. An der „normalen“ Grippe stirbt in Deutschland rund jeder 1.000. Infizierte. Setzt man die Wuhan- und Hubei-Zahlen an, würde indes jeder 20. bis 30. Infizierte an der Krankheit sterben. Gemessen an diesem krassen Unterschied wirkt die Gelassenheit von Spahn und Co. vollkommen deplatziert.

Doch es gibt gerade für die Bewertung der Belastbarkeit der nationalen Gesundheitssysteme noch eine weitere verstörende Zahl aus China. Glücklicherweise ist es in der Tat so, dass rund 80% aller Infektionen mild, teils sogar sehr mild und fast symptomfrei verlaufen – vor allem bei jüngeren und gesunden Patienten scheinen die Symptome meist vergleichsweise harmlos zu verlaufen. Hier ist eine Isolation in der eigenen Wohnung sicherlich ausreichend – vorausgesetzt, die Krankheit wird erst einmal diagnostiziert. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch auch, dass 20% aller Infektionen nicht mild verlaufen und meist stationär behandelt werden müssen. Hier liegen dann meist Lungenentzündungen oder schwere Atembeschwerden vor. Jede zwanzigste Infektion verlief nach chinesischen Daten sogar „kritisch“ – hier sprechen wir dann von Atemversagen, septischen Schocks und Multiorganversagen, also schwersten Symptomen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen.

Wenn man also Prognosen zur Frage, ob das deutsche Gesundheitssystem auf einen flächendeckenden Ausbruch von Covid-19 so „problemlos“ wie auf eine Grippewelle reagieren kann, aufstellen will, muss man sich auch die Frage stellen, ob die deutschen Krankenhäuser 20% der Infizierten stationär und 5% sogar intensivmedizinisch betreuen könnten. Und dies muss man leider ohne Wenn und Aber verneinen.

Schon im „Normalbetrieb“ arbeiten die meisten Kliniken des Landes am äußersten Rande der Leistungsfähigkeit. Der Personalmangel ist massiv. 17.000 Vollzeitpflegestellen sind nicht besetzt, vier von fünf Krankenhäusern finden keine Ärzte für vakante Posten. Jedes dritte deutsche Krankenhaus musste im letzten Jahr Intensivbetten sperren und Fachbereiche von der Notversorgung abmelden! Alleine im vergleichsweise reichen Baden-Württemberg mussten im letzten Jahr zwei von drei Krankenhäuser ganze Abteilungen ganz oder teilweise schließen. Und wenn es zu einer „normalen“ Grippewelle kommt, heißt dies in der betrieblichen Praxis oft, dass die Stationen aus allen Nähten platzen. Nur, dass bei einer „normalen“ Grippe in der Regel trotz anderslautender Empfehlungen keine besondere Isolation vorgenommen wird. Würde man bei einer nationalen Covid-19-Epidemie in den Krankenhäusern Isolierstationen und isolierte Intensivstationen einführen, müsste sich aufgrund des massiven Mehraufwands auch die Zahl der eingesetzten Ärzte und Pfleger massiv erhöhen, vielleicht gar verdoppeln. Doch woher soll dieses Personal kommen? Wie will man die faktische Zahl der Stationen erhöhen, wenn man bereits im Normalbetrieb Stationen wegen Personalmangels schließen muss?

Dieses Problem ist übrigens bekannt und hausgemacht. Das Finanzierungssystem für Krankenhäuser (DRG) vergütet ausdrücklich nur behandelte Fälle und sieht keine Vorsorgekapazitäten für Epidemien und Katastrophen vor. Das privatisierte deutsche Krankenhaussystem wurde auf betriebswirtschaftliche Rentabilität optimiert und nicht auf mögliche Puffer im Falle eines Falles. Dass weder Jens Spahn noch die zahlreichen „Experten“, die zu diesem Thema befragt werden, dies thematisieren und Alarm schlagen, ist unverständlich und zeigt letztlich nur, wie sehr die potentiellen Gefahren von Covid-19 unterschätzt werden.

Sicherlich sind ganze Schubladen voll mit Ablaufplänen und RKI sowie die Landesgesundheitsämter haben sicherlich auch schlaue Konzepte entwickelt. Aber was nutzen die besten theoretischen Pläne, wenn sie in der Praxis nicht umgesetzt werden, nicht umgesetzt werden können? Es gibt auch unzählige Hygienerichtlinien und Vorschriften, wie beispielsweise Patienten mit multiresistenten Keimen oder Erkrankungen wie dem Norovirus in deutschen Kliniken isoliert werden sollten. In der Praxis sind solche Richtlinien jedoch das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, da sie aufgrund der Personalnot gar nicht umgesetzt werden können. Man lügt sich hier selbst in die Tasche und jeder Beteiligte weiß dies auch. Die Gesundheitsämter wissen das auch und schauen weg. Das wird bei einer wirklich gefährlichen Krankheit wie Covid-19 aber nicht so leicht sein.

Und es ist ja nicht nur das Gesundheitssystem. Um weitere Ansteckungen zu verhindern, werden – das zeigen die Beispiele Wuhan und nun auch Norditalien – weit gefasste Absperrungen und Abriegelungen ganzer Städte und Regionen nötig sein. Wie sollen die Bundesländer dies mit ihrem von der Schwarzen Null ruinierten Personalbestand umsetzen? Soll die Polizei, die heute schon 22 Millionen Überstunden vor sich hinschleppt, diesen Job übernehmen? Oder werden dann wieder Stimmen laut, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen? Da kann man wirklich nur hoffen, dass unsere Nachbarn ihren Job gut machen und es für uns nicht allzu arg kommt. Denn Deutschland ist ganz sicher in der Praxis alles andere als „gut vorbereitet“ für eine kommende Pandemie.

Ist das alles Panikmache? Nein. Im Gegenteil. Man könnte an dieser Stelle auch Experten zitieren, die die Situation noch viel kritischer beschreiben.

“Die Zahl der Berichte aus verschiedenen Ländern in den letzten 36 Stunden zeigt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die Mensch-zu-Mensch-Infektion mit SARS-CoV-2 die Sorgen bestätigt hat, dass das Virus auf seinem Weg ist, eine Pandemie auszulösen.“
Prof. Dr. Benhur Lee, MD
Professor of Microbiology
Icahn School of Medicine at Mount Sinai (ISMMS)
Feb. 21, 2020

„Ich glaube, es ist wahrscheinlich, dass wir auf eine globale Pandemie zulaufen. Wenn diese Pandemie eintritt, werden wahrscheinlich 40% bis 70% der Weltbevölkerung im kommenden Jahr infiziert
Prof. Marc Lipsitch
Prof. of Epidemiology, Harvard School of Public Health
Head, Harvard Ctr. Communicable Disease Dynamics
Feb. 14, 2020

“Dies ist wirklich ein globales Problem, das nicht in ein oder zwei Wochen verschwinden wird. […] Ich glaube, wir sollten uns auf das Äquivalent einer sehr, sehr bösen Grippewelle einstellen; vielleicht die schlimmste Grippewelle, die wir in modernen Zeiten erlebt haben“. Prof. Marc Lipsitch
Prof. of Epidemiology, Harvard School of Public Health
Head, Harvard Ctr. Communicable Disease Dynamics
Feb. 11, 2020

Muss es wirklich so schlimm kommen? Natürlich nicht. Häufig verlieren Viren ihre Virulenz von Generation zu Generation und schwächen sich dabei von alleine ab. Häufig ebben derartige Wellen auch mit steigenden Außentemperaturen von alleine ab. Dann ginge es vor allem darum, sich Zeit zu kaufen und man müsste wahrscheinlich der chinesischen Regierung tausende Dankesschreiben überreichen, hat die rigorose Isolation der Provinz Hubei die Ausbreitung doch massiv verlangsamt.

Dies sind jedoch allesamt Faktoren, die eintreten können oder eben nicht; In schā’ Allāh. Sie haben jedoch nichts mit der angeblich so guten Vorbereitung Deutschlands auf das Virus zu tun. Hier ist bestenfalls Zweckoptimismus angesagt und wahrscheinlich werden es am Ende die Ärzte, Pflegekräfte, Polizisten und andere „kleine Staatsdiener“ sein, die durch ihren Einsatz am Rande der Leistungsfähigkeit die Lücken kitten, die eine neoliberale Politik mit ihrem Privatisierungs- und Sparwahn erst hat entstehen lassen. Ein Dankeschön von Jens Spahn wird ihnen sicher sein. Und dann wird man wohl auch in der öffentlichen Kommunikation alles auf den Grippevergleich setzen. Dann war Covid-19 halt „nur“ eine sehr schwere Grippe, wie der Virologie Marc Lipsitch es formuliert. Eine Grippewelle, die diesmal in Deutschland deutlich mehr als 25.000 Todesopfer mit sich bringt. Dass diese Opfer zum Teil auch zu vermeiden wären und letztlich auch Opfer des Neoliberalismus und der Schwarzen Null sind, wird indes sicherlich eine „Außenseitermeinung“ sein. So läuft das Spiel und darauf sind wir in der Tat gut vorbereitet.

Titelbild: Stockcrafterpro/shutterstock.com


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