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Titel: Warum wir den Vorwurf „Lügenpresse“ ernstnehmen sollten.

Datum: 31. August 2020 um 8:00 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Medienkritik, Wertedebatte
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Die Journalistin Gabriela Uhde hat aus Anlass des Demonstrationsgeschehens und des Umgangs unserer Medien damit einen Kommentar für die NachDenkSeiten geschrieben, den wir Ihnen zum Abschluss des Demonstrationswochenendes und zur Einstimmung auf viele Berichterstattungen und Kommentierungen des Geschehens gerne zur Kenntnis geben. Albrecht Müller.

Warum wir den Vorwurf „Lügenpresse“ ernstnehmen sollten.
Von Gabriela Uhde[*]

Am Samstagabend um 19.20 Uhr stand in den EPG-Informationen[**] zur „Heute“-Sendung als Stichwort über die dort behandelten Themen: „Demonstration gegen Corona-Maßnahmen – Veranstaltung aufgelöst“.

Das war, freundlich gesprochen, irreführend. Es konnte den Eindruck erwecken, dass die gesamten Aktivitäten der DemonstrantInnen in Berlin eingestellt worden wären. Wer das las, wurde also falsch informiert.

Denn tatsächlich war mittags ein Demonstrationszug in Berlin in der Friedrichstraße aufgelöst worden, doch die Kundgebung an der Siegessäule war zu diesem Zeitpunkt noch in vollem Gange und wurde wie geplant erst spät am Abend beendet.

Vier Wochen zuvor hatte sich Dunja Hayali für ihre ZDF-Sendung auf der Demonstration derselben „Querdenker 711“ den Vorwurf „Lügenpresse“ anhören müssen. Sie empörte sich darüber, dass diese Rufer damit die Pressefreiheit mit Füßen traten.

Das passt schlecht zusammen.

Wer wirklich daran interessiert ist, guten Journalismus zu betreiben, muss in der Lage sein, nicht nur Hintergründe zu entdecken, sondern auch stets sich selbst kritisch zu hinterfragen.

Und dann muss man feststellen: Ja, in den Medien werden tatsächlich Lügen verbreitet. Tagtäglich. Hinter so manch öffentlich gegebenem Ehrenwort versteckten sich üble Machenschaften.

Wie oft werden Politiker zitiert oder kommen im Fernsehen selbst zu Wort, die ihre Haut retten wollen, nachdem sie Unredliches getan haben? Wie viele Bürgermeister stellen der Leserschaft die Situation in ihrer Kommune anders dar, als sie in Wahrheit ist?! Die Agierenden selbst mögen es vielleicht nicht so sehen, sehen sich in einer Verteidigungslage, in der ihnen jede Notlüge erlaubt scheint. Doch es ist und bleibt eine Lüge, wenn man die Wahrheit verdreht.

Auch das Weglassen eines Teils der Realität ist eine Lüge. Denn dies bedeutet, dass das Gesamtbild verfälscht dargestellt wird. Wir wissen alle, dass kein Mensch die ganze Wahrheit erkennen, geschweige denn abbilden kann. Sich aber bewusst auf einem Auge blind zu stellen, ist nur eine schlechte Angewohnheit, die man sehr schnell ablegen kann.

Ja, es gibt eine „Lügenpresse“. Und: Ja, das darf man sagen. Denn nur, indem ein Missstand öffentlich benannt wird, kann man Abhilfe schaffen.

Der erste Schritt zur Abhilfe ist, sich die Wahrheit einzugestehen. Der zweite Schritt besteht im Willen zur Veränderung, der dritte in der Untersuchung, warum es dazu gekommen ist.

„Mann beißt Hund“ – Welcher Journalist, welche Kollegin kennt diesen Satz nicht, der angeblich vom Herausgeber der „New York Sun“, John B. Bogart, stammt. Will heißen: Nur das, was ungewöhnlich ist, taugt, als Nachricht in der Zeitung veröffentlicht zu werden. Diesem Gesetz folgt die Sensationspresse. Damit verkauft sie ihre Blätter.

Für den Rest der Presselandschaft sollte dieser Satz freilich nicht gelten. Denn deren LeserInnen wollen vor allem eins: sich über das, was vor ihrer Haustür und was in der Welt geschieht, informieren.

Unermüdlich bekräftigen Polizeisprecher, dass die wenigsten Verbrechen in der Stadt alte Omas betreffen, denen die Handtasche geklaut wird, sondern dass die meisten Straftaten junge Männer vor allem untereinander begehen. Dennoch traut sich kaum eine Frau nach Einbruch der Dunkelheit noch allein vor die Türe.

Verleger und Chefredakteure sagen: Die Polizeimeldungen sind das, was am meisten gelesen wird. Natürlich wollen wir, dass unser Blatt gelesen wird. Aber wir müssen uns auch unserer Verantwortung darüber klar sein, dass wir das Weltbild vieler Menschen prägen.

Eine Zeitung ohne Polizeimeldungen ist möglich.

Egon Erwin Kisch rief die Journalisten seiner Zeit auf, ihre Redaktionen zu verlassen und hinauszugehen, um sich das Geschehen „live“ anzuschauen. Berühmt ist sein Zitat: „Nichts ist erregender als die Wahrheit.“

Den ersten Schritt hatte Dunja Hayali gemacht. Sie ging hinaus, sah sich die Demonstration mit eigenen Augen an. Und man fragt sich, warum sie diejenigen, die „Lügenpresse“ skandierten, nicht gefragt hat, wie sie zu dieser Meinung gekommen sind. Es mag vielleicht nicht gerade sehr einladend klingen, mit einem diffamierenden Begriff konfrontiert zu werden, aber als Vollblut-Journalistin steckt man die persönliche Befindlichkeit weg und versucht, die Hintergründe herauszufinden.

Seit Jahrzehnten ist es Usus in der deutschen Medienlandschaft, dass über Demonstrationen im eigenen Land auf immer gleiche Art und Weise berichtet wird: Wieviele Teilnehmer es gab (nach Angaben der Polizei und nach Angaben der Veranstalter), wie viele Polizeikräfte vor Ort waren und ob es zu Gewalt und Festnahmen kam. Am perversesten ist der oft zu lesende Satz „Zu gewalttätigen Ausschreitungen ist es nicht gekommen“. Das widerspricht den Grundsätzen des journalistischen Handwerks: Wir haben zu schreiben, was passiert, nicht das, was nicht passiert ist. Es entsteht dadurch leider der Eindruck, als bedauere der/die SchreiberIn, dass nicht doch etwas Aufregendes passiert ist.

Von den inhaltlichen Fragen und Forderungen, die die Leute auf der Demo laut äußern, erfährt man in den Mainstream-Medien so gut wie nichts. Anders als bei sonstigen Veranstaltungen, wo die Redebeiträge ausführlich zitiert, die Absicht der Vortragenden, ihr Fachwissen, ihre Anregungen für alle, die nicht dabei waren, komprimiert mitgeteilt wird.

Meist wird über Demonstrationen im Ausland mehr inhaltlich berichtet, als über jene im Inland. Weil die hiesigen vorrangig Kritik an unserer Regierung äußern. Es ist natürlich immer leichter, jemand anderem zu sagen, wie er sich zu verhalten habe. Es ist einfacher, der Regierung eines anderen Staates zu sagen, sie solle die Freiheitsrechte der Bevölkerung respektieren. Wer über die Kritik an der eigenen Regierung auf gleiche Weise berichtet, fährt sich den Ruf des Nestbeschmutzers ein und seine Karriere kann er sich abschminken.

Nun darf sich aber eine Presse, die sich wirklich als „Vierte Macht“ im Staate versteht, nicht an den Interessen der Regierung orientieren, sondern muss das, was die Menschen mit ihrem Recht auf Meinungsäußerung auf einer Demonstration sagen, auch weitertragen, parallel zu den geäußerten Einschätzungen von Politikerseite in den Berichten.

Ein Anfang wäre vielleicht, wenn man über Demonstrationen dieser Größenordnung wie vorigen Samstag in Berlin im ZDF in einer Sondersendung berichtet, in der die wesentlichen Redebeiträge zusammengefasst und im O-Ton zu hören sind. Dies für all jene, die nicht dabei waren und die nicht die Zeit haben, sich alle Videos in voller Länge anzuschauen. Damit sie sich in kurzer Zeit möglichst umfassend über das Geschehene informieren können. Das ist die Aufgabe des Journalismus: Das Material zu liefern, aufgrund dessen sich die mündige Bürgerschaft dann ihre eigene Meinung bilden kann.

Wir haben uns offenbar schon so sehr daran gewöhnt, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie klischeehaft über Demonstrationen berichtet wird. Wir würden es erst dann merken, wenn man über eine Gemeinderatssitzung ebenso schreibt: „Es waren 30 Gemeinderätinnen und -räte anwesend, im Zuschauerraum saßen weitere acht Personen. Zu gewalttätigen Ausschreitungen ist es nicht gekommen.“


[«*] Gabriela Uhde ist seit fast 40 Jahren Journalistin (Volontariat 1981-1983) und hat u.a. für die „Stuttgarter Zeitung“ und die Politikredaktion des SDR-Fernsehens gearbeitet.

[«**] EPG – Elektronischer Programmführer. Zum ZDF siehe hier.


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