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Titel: Deutschland in der EU: Führender ArbeitsUnrechts-Staat

Datum: 4. November 2020 um 8:57 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Erosion der Demokratie
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In seinem jetzt veröffentlichten Buch „EU-Imperium: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ schildert Werner Rügemer die Organisation des ArbeitsUnrechts in der EU seit den Vorstufen in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG): Akteure wie Jean Monnet (US-Banker, bis heute gefeierter „Gründervater Europas“), Walter Hallstein (NS-Jurist, erster Präsident der Europäischen Kommission), Jean-Claude Juncker (Regierungschef der größten Finanzoase in der EU, Kommissionspräsident), Grundlagentexte, Richtlinien, Subventionspraktiken, Gerichtsurteile, Komplizenschaft und Vollzugsdefizite in Justiz und Kontrollbehörden. Im Vorwort geht Rügemer auf den Klassencharakter der vorherrschenden Ideologie ein. Im 2. Teil des Buches schildert Rügemer weithin unbekannte Formen sowohl des ArbeitsUnrechts wie auch neuer Gegenwehr in einem Dutzend EU-Mitglieds-, Anwärter- und assoziierter Staaten wie Spanien, Kroatien, Ungarn, Polen, Litauen, Österreich, Skandinavien, Schweiz und Nordmazedonien. Die NachDenkSeiten veröffentlichen das Kapitel über Deutschland als führenden ArbeitsUnrechts-Staat in der EU.

Der deutsche Arbeitnehmer: fremdbestimmt, persönlich abhängig

Die Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich ab 1990 durch die Übernahme der ehemaligen DDR zum führenden ArbeitsUnrechts-Staat in der EU.

Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.“ So heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) § 611a Arbeitsvertrag.

Ist das deutlich genug? Sozialpartnerschaft? Freiheit? Nein. Wenn es rechtlich und täglich im kapitalistischen Unternehmen hart auf hart kommt, entpuppt sich der Kern: Der „Arbeitnehmer“ ist „fremdbestimmt“, „weisungsgebunden“ und „persönlich abhängig“, arbeitet „im Dienste eines anderen“.

Grundgesetz: Tierschutz ja, Arbeitsschutz nein

Das Grundgesetz 1949 der Bundesrepublik Deutschland fiel hinter Arbeits-Standards zurück, die in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg erreicht worden waren. Im Grundgesetz fehlen alle Bestimmungen aus der Weimarer Verfassung zu Gewerkschaftsrechten, Betriebsräten, Meinungsfreiheit im Unternehmen, gleicher Lohn für Frau und Mann. Hinsichtlich des Arbeitsrechts ist also die Behauptung, das Grundgesetz habe sich an der Weimarer Verfassung orientiert, eine Lüge.[1] Später wurden zeitgeistig-populistisch Umwelt- und Tierschutz aufgenommen, aber nicht der Schutz der Arbeitenden am Arbeitsplatz.[2]

Wirtschaftsverfassung: Feige und rechtsbrüchig ausgeklammert

Die nach dem Krieg von Gewerkschaften und auch der britischen Militärregierung geforderten Wirtschaftskammern, in denen Unternehmer und Beschäftigte gleichberechtigt vertreten sein sollten, wurden von den USA abgelehnt. Aus Feigheit wurde das Thema im Grundgesetz ausgeklammert. 1956 beschloss die Adenauer-Regierung das Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern. Alle Unternehmen, auch die allerkleinsten, sind Zwangsmitglieder: Zwangsbürokratie ist also mit „freier Marktwirtschaft“ vereinbar. Gleichzeitig bleibt die große Mehrheit der in Industrie- und Handel Tätigen, die abhängig Beschäftigten, ausgesperrt. Das Gesetz war als vorläufig gedacht. Die endgültige Regelung sollte später kommen – aber feige und rechtsbrüchig haben alle Bundesregierungen dies verhindert. So gilt die Vorläufigkeit auch 64 Jahre später immer noch: Eine ewige Vorläufigkeit. Unrechts-Staat.[3]

Keine Entschädigung für Zwangsarbeiter

Die Bundesrepublik machte sich zum Nachfolgestaat des NS-Staates. Aber zu Entschädigungen für die Millionen Zwangsarbeiter und zur Rückgabe von arisiertem Eigentum – im Grundgesetz kein Wort. Arisiertes Eigentum wurde nur in wenigen und nur in individuellen Einzelfällen zurückgegeben oder teilweise entschädigt, aber vor allem nicht bei großen Unternehmen. Zudem hat nur Druck aus dem Ausland dies bewirkt. Arisierte Kunst steht immer noch in deutschen Museen, meist versteckt im Depot.

Verfassungsbruch mit der Ex-DDR

Laut Einigungsvertrag von 1990 muss die Bundesrepublik ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch beschließen. Ein solches gab es in der DDR, während die BRD die Arbeitsrechte auf drei Dutzend verschiedene, zu verschiednen Zeiten und Bedingungen beschlossene Arbeitsgesetze verstreut hatte (Betriebs-Verfassungs-Gesetz/BetrVG, Mitbestimmung, Kündigung, Arbeitszeit, Behinderung, Hartz I bis IV…) und immer noch hat. 30 Jahren später gibt es das Arbeitsgesetzbuch immer noch nicht. Und die abhängig Beschäftigten im eroberten Gebiet Ostdeutschland werden immer noch schlechter bezahlt als in Westdeutschland: Mit Qualifikation, mit Arbeitsleistung und mit Gleichheit vor dem Gesetz hat das nichts zu tun: Ostdeutschland ist eine modernisierte Kolonie innerhalb Deutschlands. Ebenso sind die über eine Million Beschäftigten kirchlicher Unternehmen sowie Beamte von allgemeinen Arbeitsrechten ausgenommen.

Die Vier Hartz-Gesetze: Verrechtlichtes ArbeitsUnrecht

Deutschland führt in der EU bei der Verrechtlichung des ArbeitsUnrechts. Dies begann systematisch ab 2004 erneut mit den vier Hartz-Gesetzen zu Niedriglohn-, Teilzeit- und befristeten Jobs, zu erweiterter Leiharbeit, dann zum noch niedrigeren Status des Werkvertrags. Dazu gehört die drastische Bestrafung der Arbeitslosen bis hin zum Entzug des Arbeitslosengeldes, verbunden mit dem Zwang, auch schlecht bezahlte und weit entfernte Arbeit anzunehmen, selbst wenn sie nur kurzfristig ist. Unter der Arbeitsministerin von der Leyen wurde den Arbeitslosen noch der Beitrag zur Rente gestrichen. Deutschland schuf so den größten ArbeitsUnrechts-, Niedriglohn- und Niedrig-Rentensektor in der EU.

Namensgeber Peter Hartz war SPD-Mitglied und Funktionär der IG Metall. Er leitete im Auftrag der SPD-geführten Bundesregierung die Kommission, die mit McKinsey die Hartz-Gesetze entwarf. Im Vorstand des VW-Konzerns hatte Hartz mithilfe systemischer Korruption der Betriebsratsspitze die Niedriglöhnerei im Autokonzern eingeführt.[4]

Die Regelungen wurden in andere EU-Staaten wie Frankreich, Belgien, Spanien, Italien, Griechenland und Osteuropa übernommen.[5]

Die Amerikanisierung der Arbeitsverhältnisse

Die Hartz-Gesetze waren am US-Vorbild des job orientiert:[6] Freie Verfügung des Unternehmers über die abhängige Arbeitskraft, „fremdbestimmt, persönlich abhängig, im Dienste eines anderen“ (BGB).

Seit den 1970er Jahren haben extrem gewerkschaftsfeindliche US-Unternehmen wie UPS und McDonald’s die Bundesrepublik als Einstiegs-Standort für ihre Expansion in der EU genutzt. Kein anderer EU-Staat hat in solchem Umfang wie die Bundesrepublik die professionelle Dienstleistung des Union Busting – Verhindern und Behindern von Betriebsräten – aus den USA übernommen. US-Kanzleien wie Allen & Overy, Hogan Lovells, Freshfields und DLA Piper unterhalten dazu in Deutschland eigene Abteilungen, deutsche Kanzleien wie CMS Hasche Sigle und Kliemt&Vollstädt übernahmen die Methoden.

Mindestlohn, Überstunden: Millionenfach nicht bezahlt

Deutschland führte als der letzte wichtige EU-Staat den gesetzlichen Mindestlohn ein, zudem im Verhältnis zur Kaufkraft in niedriger Höhe. Und zudem lassen es Justiz und Regierungen zu, dass der Mindestlohn von Unternehmern millionenfach nicht gezahlt oder unterlaufen wird, straflos. Auch die etwa eine Milliarde unbezahlte Überstunden pro Jahr können sich die Unternehmer straflos als jährliches erpresstes Milliarden-Geschenk aneignen.[7]

Führend bei der Benachteiligung von Frauen

Trotz bzw. wegen des modischen Hypes für „Frauenrechte“ und der Aushängefigur der weiblichen Regierungschefin sind Frauen im deutschen Arbeitsleben besonders benachteiligt. Sie bilden die große Mehrheit der prekär Beschäftigten und der erzwungen Unter-Beschäftigten (unfreiwillige Teilzeit-Arbeit und Arbeit auf Abruf).

Bei der Ungleichheit der Arbeitseinkommen stehen deutsche Frauen mit 20,5 Prozent niedrigerem Einkommen an 26. Stelle der 28 EU-Staaten; nur in Tschechien und Estland sind die Frauen-Einkommen noch niedriger.[8]

Ebenfalls liegen deutsche Frauen beim Anteil in Führungspositionen nur im unteren EU-Drittel.[9]

Deutschland: Der „Schweinestall Europas“

Das verrechtlichte ArbeitsUnrecht ist offen hin zu verschiedenen Formen der Kriminalität, wie sich beim straflosen Nichtbezahlen des niedrigen Mindestlohns zeigt. Deutschland wurde mit EU-Beihilfen zum Führungsstaat bei der Mehrfachausbeutung von Fleischarbeitern: Betrügerische Werkverträge (gefakete Leiharbeit); gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen; unbezahlte Überstunden; Abzüge für Vermittlungskosten, Fehlverhalten, Transporte und überhöhte Mieten (Mietwucher): modernisierte Sklaverei. Die Betroffenen bleiben angstvoll stumm und wagen nicht, vor Gericht zu gehen.

Bis zu 80 Prozent der Beschäftigten sind Werkvertragler. Marktführer Tönnies bezog sie aktuell von mindestens 12 verschiedenen Vermittlern. Die Arbeiter kommen aus den durch die EU verarmten Staaten: Hohe Arbeitslosigkeit, niedrigste Niedrig- und Mindestlöhne, in Moldau 200 Euro im Monat. Sie kommen oft für zwei, drei Jahre, dann werden sie erschöpft ausgetauscht.[10]

So rückte Deutschland zum „Schweinestall Europas“ auf, wie die Unternehmer-Postille Handelsblatt schrieb.[11] Deshalb gründeten die Schlachtkonzerne Vion aus den Niederlanden und Danish Crown aus Dänemark im führenden ArbeitsUnrechts-Paradies große Schlachthäuser – zuhause sind die deutschen Praktiken verboten. Deutschland, von der EU gefördert, zog das ArbeitsUnrecht an und wurde nach den USA der größte Exporteur von Billigfleisch.

Minimaler Gesetzesvollzug: Nur 1,3 Prozent Betriebsräte

Eine andere Form des verrechtlichten Unrechts ist die massenhafte Nicht-Umsetzung von Gesetzen, wie schon beim Mindestlohn. „Mit in der Regel mindestens 5 ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern werden Betriebsräte gewählt“ heißt es in § 1 des BetrVG. In Deutschland gibt es 2,16 Millionen Betriebe mit über 10 Beschäftigten: Wenn wir diese zugrundelegen (und nicht schon die Betriebe ab 5 Beschäftigten), dann stellen die 26.000 bei der letzten BR-Wahl im Jahr 2018 zustande gekommenen Betriebsrats-Gremien[12] lediglich 1,3 Prozent dar.

Vor allem in der Auto- und Pharmaindustrie werden die Betriebsrats-Vorsitzenden durch hohe Managergehälter korrumpiert (Siehe das Hartz-System bei VW). Und eine hochbezahlte Union Busting-Dienstleistungsbranche ist auf die Be- und Verhinderung der anderen, kämpferischen Betriebsräte angesetzt. So bleibt vom guten Gesetz wenig übrig.

Die Be- und Verhinderung von Betriebsräten durch Unternehmer und ihre Beauftragten ist nach § 119 BetrVG eine Straftat: Sie steht einsam an der Spitze der von der Justiz nicht verfolgten Straftaten.[13] Das BetrVG unterliegt einem ähnlichen Vollzugsdefizit wie der sexuelle Missbrauch in der (systemrelevanten) Katholischen Kirche.

Keine Meinungsfreiheit für abhängig Beschäftigte

In den Unternehmen herrscht keine Meinungsfreiheit, sondern erpresstes Schweigen. Auch Whistleblower (Hinweisgeber) haben keinen Schutz, ein Gesetz dazu existiert in Deutschland trotz jahrzehntelanger Forderungen immer noch nicht.

Selbst wer gerichtsfest belegte Betrügereien der Geschäftsführung an die Staatsanwaltschaft meldet, kann rechtskonform wegen Störung des Betriebsfriedens gekündigt werden. Vor den Arbeitsgerichten gilt hier „der Schutz von Geschäftsgeheimnissen“ und die obrigkeitsstaatliche „Treuepflicht des Arbeitnehmers“.[14]

Die Bundesrepublik ist der einzige EU-Staat, der 1972 mit einem formellen „Radikalenerlass“ 3,5 Millionen öffentliche Angestellte – oder solche, die es werden wollten – durch den Inlandsgeheimdienst wegen vermutetem „Linksextremismus“ überprüfen ließ, 1.250 Personen nicht in den öffentlichen Dienst übernahm und 250 entließ. Das gegenteilige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird in Deutschland nicht beachtet.

Aufbrüche gegen Ausbeutung und Entrechtung

Deshalb sind bisher Aufbrüche in größerem Umfang und mit längerfristiger Wirkung kaum möglich. Wichtige Ansätze sind etwa die konzentrierten, von verdi organisierten, auch internationalisierten Kämpfe gegen den Gewerkschaftshasser Amazon[15] und die Streiks von Krankenhausbeschäftigten für mehr Stellen unter dem Motto „Mehr von uns ist besser für alle“.[16]

Die Aktion gegen ArbeitsUnrecht unterstützt und dokumentiert die heute teilweise zu gefährlichen Abenteuern gewordenen Wahlen zu Betriebsräten, vor allem in Bereichen, in denen Gewerkschaften kaum präsent sind, etwa bei Essenslieferdiensten und Supermarktketten. Die Aktion gegen ArbeitsUnrecht hat durch ihren bundesweiten Kampagnentag „Schwarzer Freitag der 13.“, der 2019 gegen den Fleischkonzern Tönnies gerichtet war, zu dessen Entlarvung als besonders krimineller Ausbeuter beigetragen.[17]

Werner Rügemer: EU-Imperium: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. Papyrossa-Verlag Köln 2020, 320 Seiten, 19,90 Euro


[«1] Vgl. Isaf Gün u.a. (Hg.): Gegenmacht statt Ohnmacht. 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz, Hamburg 2020

[«2] Werner Rügemer: Arbeitsrechte? Die Blindstelle im Grundgesetz, arbeitsunrecht.de 23.5.2019

[«3] Werner Rügemer: Kölner IHK lässt Kammer-Kritiker überwachen, arbeitsunrecht.de 6.12.2017

[«4] Werner Rügemer/Elmar Wigand: Die Fertigmacher. ArbeitsUnrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung, 3. aktualisierte Auflage, Köln 2017, S. 177f.

[«5] Werner Rügemer: Travail et Non-Travail dans l’Union Européenne, in: Les Possibles 11/2016 (attac Frankreich)

[«6] Peter Hartz: Job-Revolution. Wie wir neue Arbeitsplätze bekommen können. Frankfurt/Main 2001

[«7] Werner Rügemer: Unternehmer als straflose Rechtsbrecher, in: K.-J. Bruder u.a. (Hg.): Gesellschaftliche Spaltungen, Gießen 2018, S. 207-222

[«8] Eurostat: Pressemitteilung 38/2018 zum Internationalen Frauentag, 7.3.2018

[«9] Frauen in Führungsetagen: Deutschland unter EU-Durchschnitt, destatis.de/Europa, abgerufen 22.6.2020

[«10] Werner Rügemer: Das System Tönnies muss gestoppt werden! arbeitsunrecht.de 12.9.2020

[«11] Fleischbranche vor Zeitenwende, Handelsblatt 24.6.2020

[«12] Betriebsratswahlen erleichtern, aktive Beschäftigte besser schützen, Deutscher Bundestag Drucksache 19/1710, 18.4.2018

[«13] Rügemer/Wigand: Die Fertigmacher, S. 48ff.

[«14] Hinweisgeberschutz: transparency.de/themen/hinweisgeberschutz/, abgerufen 22.6.2020

[«15] Sieben Jahre Streiks: verdi erneuert Kampfansage gegen Amazon, heise.de 14.5.2020

[«16] Mehr von uns ist besser für alle, klinikpersonal-entlasten.verdi.de

[«17] Rügemer: Das System Tönnies a.a.O. sowie weitere Berichte dazu auf diesem blog


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