NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Kongress: Öffentlichkeit und Demokratie

Datum: 5. Oktober 2010 um 10:49 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, Finanzkrise, Medien und Medienanalyse, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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Über das vergangene Wochenende fand in Berlin der von vielen Initiatoren getragene Kongress „Öffentlichkeit und Demokratie“ [PDF – 2.5 MB] in Berlin statt. In einem der vielen Arbeitskreise habe ich mit Wolfgang Storz und Sven Giegold über das Thema „Wirtschaftsjournalismus und Finanzkrise“ diskutiert. Ausgangspunkt war die Studie von Storz und Arlt „Wirtschaftsjournalismus in der Krise“. Hier die Langfassung meines Statements. Wolfgang Lieb

Lassen Sie mich vorweg sagen, ich finde die kritische Analyse von Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt über den Wirtschaftsjournalismus in der Krise außerordentlich wichtig und verdienstvoll. Es ist die einzige mir bekannte Studie mit der ganz konkret an Hand von zahllosen Quellen und Belegen aus sieben Leitmedien über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten das Versagen des Wirtschaftsjournalismus vor der Finanzkrise, beim Ausbruch der Krise und – etwas abgemildert in der Kritik – bei der Aufarbeitung der Krise herausgearbeitet wurde.

Diese Studie ist mutig, denn es gibt kaum einen Berufsstand, der auf eine öffentliche Selbstkritik so abwehrend reagiert, wie den Journalismus. Es gibt sicherlich innerhalb der einzelnen Redaktionen Kontroversen und sogar Streit, aber der bleibt sozusagen in der Familie. Inhaltliche Einzelkritik von außen führt bekanntermaßen zur Solidarisierung unter Kollegen und gilt gleich als „Medienschelte“. Eine Medienkritik etwa durch einen Politiker wird nach aller Erfahrung dem Kritiker tausendfach heimgezahlt. Der sog. Vierten Gewalt fehlt – anders als den drei anderen Gewalten – ein institutionelles kritisches Widerlager, wenn es um journalistisches Versagen geht. Es fehlt m.E. anders als das unter Wissenschaftlern geradezu ein Lebenselement ist eine journalistische Diskussionskultur. Die Selbstkontrolleinrichtungen sind da relativ zahnlos. Letztlich bleibt die moralische Selbstverpflichtung auf das berufliche Ethos und auf journalistische Standards. Medien machen keine Gesetze und sie wählen keine Regierungen, aber sie üben Einfluss auf die öffentliche und damit auch auf die politische Debatte aus. Wer prüft, welche ökonomischen Interessen die Medienunternehmen dabei möglicherweise haben? Wo verläuft die Grenze zwischen Aufklärung und Kontrolle der Mächtigen einerseits und der Meinungsbeeinflussung oder gar Manipulation anderseits?

Nebenbemerkung: Etwas anderes gilt für zivilrechtliche Widerrufs- oder Unterlassungsansprüche. Die Methoden, die dabei oftmals von privater Seite eingesetzt werden, grenzen oft schon an eine zivilrechtliche Zensur. Buchautoren oder Blogbetreiber können ein langes Klagelied darüber singen.

Die Kritik der Studie ist niederschmetternd, wenngleich sie mich als Mitherausgeber der kritischen Netzzeitung „NachDenkSeiten“ nicht im Geringsten überrascht hat. Albrecht Müller und ich und viele andere Autoren unseres Blogs sind seit wir im November 2003 unseren Dienst ins Netz stellten, an vielen Einzelbeispielen belegt zu ähnlich vernichtenden Urteilen über den wirtschaftspublizistischen Mainstream gekommen. Mit Fakten und fundierten Argumenten dagegen zu halten, sozusagen gegen den Strom zu schwimmen und damit Meinungsvielfalt zu vergrößern und Blicke hinter die Kulissen der Meinungsbeeinflussung zu werfen, betrachten wir deshalb auch als unsere Hauptaufgabe.

Was Arlt und Storz als journalistisches Versagen gegenüber der Finanzkrise belegt haben, gilt leider nicht nur für dieses Thema. Wir haben die gleiche unkritische Begleitung, ja sogar eine massive Unterstützung bei der Verkündung und Umsetzung der Agenda-Politik erlebt, in nahezu allen Wirtschaftsredaktionen gibt es eine massive Ablehnung des Mindestlohns, unkritisch ist der Umgang mit der Demographie-Debatte oder bei der Propagierung der Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Man könnte noch viele andere Themen nennen, wo wir eine Verarmung der veröffentlichten Debatte feststellen könnten. Dass kaum ein Journalist vor der Finanzkrise gewarnt hat, geschweige denn diese vorausgesehen hat, hat das allgemeine Versagen des Wirtschaftsjournalismus nur verifiziert.

Fairerweise muss man allerdings hinzufügen, dass dieser Vorwurf genauso auch die Politik und schon gar die herrschende Lehre in den Wirtschaftswissenschaften trifft.

Noch heute wird in den allermeisten Medien die Bankenrettung unkritisch gelobt und bis jetzt hat kaum ein Medium hinterfragt, was eigentlich das „systemische Risiko“ einzelner mit viel Geld geretteten Banken ausmachte. Einzig der Tagesspiegel hat einmal die Liste der Einlage- und Kreditgeber der HRE publik gemacht und da konnte man berechtigte Zweifel anmelden, ob diese Bank „systemrelevant“ ist. Bis heute werden Bürgschaften und Kapitalzuschüsse ohne öffentliche Debatte in geheim tagenden Gremien erteilt. Da werden über Nacht, ohne öffentliche Diskussion mal eben 40 Milliarden-Garantien für die HRE gewährt, ohne dass vorher eine Debatte stattfindet. Nicht nur das Parlament, sondern auch die Presse lässt sich das bieten.

So kritisch Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz an Hand der Berichterstattung über die Finanzmarktpolitik und die journalistische Aufarbeitung der Finanzkrise mit den untersuchten Medien umgehen und so wichtig ihre gut belegten Befunde sind, so sehr sind sie als Journalisten – verständlicherweise – Gefangene ihrer zugrunde gelegten Wertmaßstäbe, nämlich den Maßstäben eines qualitativ hochwertigen Journalismus.

Die Autoren plädieren deshalb im Ergebnis für eine öffentliche Debatte über die Produktionsbedingungen im Journalismus und geben dazu Anstöße. Ich halte diese Debatte für wichtig und richtig, ich fürchte allerdings, dass eine auf den Journalismus beschränkte Diskussion zu kurz greift.

Dabei bleibt z.B. das Phänomen ausgespart, dass sich in den letzten Jahrzehnten Verlage und von ihnen eingesetzte Chefredakteure mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen geradezu verbündet haben. Ja, noch mehr, einzelne Verlagshäuser versuchen erkennbar oder verdeckt die Politik vor sich her zu treiben. Ich nenne dafür nur als Beispiel die Sarrazin-Kampagne von Bild oder dem Spiegel.

Albrecht Müller ist in seinem Buch „Meinungsmache“ diesen Phänomenen ausführlich nachgegangen. Mir fehlt die Zeit, das hier ausführlicher darzulegen.

Die Annäherung, ja die teilweise unkritische Identifikation eines großen Teils gerade der Verantwortungsträger in den Medien mit den Eliten in Politik und Wirtschaft war zwar nicht Gegenstand der Studie, doch sie erklären eigentlich erst ihre Befunde.

Zu einer umfassenden Analyse der Verfassung des Wirtschaftsjournalismus gehörte neben dem in der Studie genannten „Schmiergeld der Nähe“ zu den Subjekten und Objekten der Berichterstattung m.E. weiter der Einfluss des krebsartig wuchernden Lobbyismus und die Wirkung der wirtschaftsnahen Think-Tanks und ihrer Propagandaagenturen auf die veröffentlichte Meinung.

Es müssten darüber hinaus auch die Mechanismen durchleuchtet werden, wie etwa die Bertelsmann Stiftung oder die Initiative Neue Marktwirtschaft ihr journalistisches „Agenda-Setting“ betreiben und wie wenig distanziert mit interessenbezogenen sog. „Experten“ in den Medien umgegangen wird.

In kaum einer Talkshow fehlt ein „Botschafter“ der INSM. Hans-Olaf Henkel, Arnulf Baring, Oswald Metzger und wie die „Botschafter“ dieser arbeitgeberfinanzierten PR-Organisation auch heißen mögen, werden höchst selten als wirtschaftsliberale Polit-Lobbyisten, sondern meist als „Experten“ eingeführt. Wenn man nur auf die Mainstream-Medien schaute, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in Deutschland nur ein paar Dutzend Ökonomen mit Reputation gäbe. Es werden immer dieselben gefragt und zitiert, also die Sinns, die Straubhaars, die Franzens, die Zimmermanns, die Hüthers, die Miegels und höchst selten und oft nur als Alibi noch Bofinger oder Horn mit abweichender Meinung.

– Man fragt nicht nach dem Interessensbezug etwa von Herrn Raffelhüschen zur Versicherungswirtschaft,
– es interessiert offenbar nicht, wer die angeblich unabhängigen Forschungsinstitute finanziert, woher die Hauptauftraggeber kommen oder wer mit welcher wirtschaftspolitischen Ausrichtung in deren Beiräten sitzt.
– Niemand macht transparent, dass etwa das „Institut zur Zukunft der Arbeit“ weitgehend von der Deutschen Post AG ausgehalten wird, dass dessen Chef Klaus Zimmermann gerne in Anzeigen für die INSM posiert, dass sich etwa der geschasste Bundesagentur-Chef und jetzige Präsident des selbst ernannten Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustellerdienste Florian Gerster oder Thilo Sarrazin „Policy Fellows“ dieses angeblich unabhängigen Wirtschaftsforschungsinstituts sind.
– Es lohnte sich fast immer einmal die Aufsichts- und Beiräte z.B. des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, des „Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung“ in Mannheim oder wie die neoliberalen Think-Tanks alle heißen mögen.
– Dass das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit ist und schon deshalb dem politische vorgegebenen Auftrag der Bundesagentur nicht in die Parade fahren kann, weiß kaum jemand.
– Dass das frühere Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) aus der öffentlichen Förderung durch die Leibniz-Gemeinschaft herausgefallen ist, weil seine wissenschaftlichen Ergüsse zu dünn waren, hat dem publizistischen Renommee von Thomas Straubhaar und dessen nunmehr komplett privat gesponserten Institut unter dem neuen Namen HWWI offenbar nicht geschadet.

Ich will nun gar nicht bestreiten, dass einige dieser Institute eine hohe Reputation haben und viele ihrer Studien wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, aber die allermeisten Wirtschaftsjournalistinnen und –journalisten haben offenbar vergessen oder haben nie darüber nachgedacht, dass die Wirtschaftswissenschaft keine „harte“ sondern eine Gesellschaftswissenschaft ist, mit zahllosen Schulen und kontroversen Lehrmeinungen.
Zu welch unterschiedlichen Ergebnissen Ökonomen kommen und wie weit ihre wissenschaftlichen Befunde von der Realität abweichen können, kann man regelmäßig etwa an den Konjunkturprognosen ablesen.

Dass ökonomische Studien einem Erkenntnis leitenden Interesse, ja sogar einem unmittelbaren Interessensbezug auf einen Auftraggeber unterliegen können, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Ideologiekritik oder Ideologieverdacht wird sogar als Verschwörungstheorie beiseite geschoben. In den Medien heißt es immer nur „wie eine wissenschaftliche Studie des So-und-so-Instituts festgestellt hat“ und das wird dann meist als wissenschaftlicher Befund genommen oder jedenfalls unkommentiert berichtet.

Es wäre falsch und unfair, wenn man einzelnen Wirtschaftsjournalisten den Vorwurf machte, sie seien zu unkritisch mit ihrer eigenen Wissenschaft oder sie würden sich sogar bewusst oder unbewusst für bestimmte Interessen oder für eine bestimmte Politik einspannen lassen. Man macht es sich zu leicht, wenn man die oft festzustellende Selbstgleichschaltung mit Konspiration erklären wollte. Natürlich gibt es Macht und natürlich gibt es auch die massive direkte oder indirekte Einflussnahme des „großen Geldes“, aber die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt und der Verlust an kritischer Distanz erklärt sich vermutlich erst, wenn man das „Weltbild“ zur Kenntnis nimmt, das die übergroße Mehrheit der Ökonomen in den letzten 30 Jahren von „der Wirtschaft“ geschaffen hat. Ohne das dauernde ideologische Trommelfeuer der herrschenden Auffassung in der Volkswirtschaftslehre hätte es den klaren Sieg des Neoliberalismus niemals gegeben.

„Konform, uniform, chloroform“ oder „die neue Scholastik in Wissenschaft und Medien“ so lautet die Überschrift eines Kapitels in Heribert Prantls Büchlein „Kein schöner Land“ in dem er die „Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens“ nachzeichnet und beschreibt wie die neoklassische Ökonomie in Deutschland nicht nur zur vorherrschenden sondern zur allein herrschenden Lehre geworden ist. Nämlich mit dem Bedeutungsverlust der Makroökonomie zugunsten der Mikroökonomie, also zugunsten der Unternehmerlogik, mit der Verdrängung von Neokeynesianern durch angbebotsorientierte Theorien und mit dem Rückgang der empirischen Nationalökonomie aus der sich übrigens die Hälfte der amerikanischen Nobelpreisträger der Ökonomie rekrutierten.

Man muss ja nicht gleich Anhänger von Paul Krugman, Joseph Stiglitz, Jamie Galbraith, Jean-Paul Fitoussi oder wie die amerikanischen, französischen oder britischen Ökonomen auch alle heißen mögen, die die „invisible hand“ oder die Selbststabilisierung der Märkte bestreiten.
Aber solche Stimmen, die in den USA oder Frankreich auch in den großen Medien Rückhalt finden, sind bei uns rar. Natürlich schreiben bei uns etwa Robert von Heusinger oder Thomas Fricke gegen den Mainstream an, doch in den großen Wirtschaftsredaktion wird die Wirklichkeit häufig unter die herrschenden wirtschaftspolitischen Dogmen subsumiert. Marc Beise oder Nik Piper von der Süddeutschen sind dafür Musterbeispiele. Es gilt der Satz: Umso schlimmer für die Praxis, wenn sie nicht mit unserer Theorie übereinstimmt.

Wir sind geradezu umzingelt von interessengeleiteten Think-Tanks, die reflexartig ihre Geschützrohre in Stellung bringen, wenn ihre neoliberalen Glaubenssätze von der Wirklichkeit widerlegt werden. Ich könnte mit vielen Beispielen belegen, wie als Denkfabriken getarnte Propaganda-Agenturen regelmäßig mit ihren sog. Studien versuchen, die Stimmung im Lande zu beeinflussen. Wenn Sie an Belegen dafür interessiert sind, könnte ich ihnen gerne viele Beispiele demonstrieren.

Hier nur ein Beispiel (Siehe dazu mehr): Als das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar dieses Jahres die Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt hat und die Stimmung im Lande in Richtung auf eine Erhöhung zu kippen drohte, warnte das Kieler Institut für Weltwirtschaft schon tags darauf vor einer solchen Anhebung.

Am 20. Februar veröffentlichte – natürlich exklusiv – die Wirtschaftswoche eine natürlich noch „unveröffentlichte“ ZEW-Studie unter der Überschrift „Kürzung von Hartz IV motiviert zur Jobsuche“. Auch das „Institut zur Zukunft der Arbeit“ (IZA) reagierte prompt und kramte eine alte Studie aus dem Jahre 2007 hervor, die vor einer Aufweichung von Hartz IV warnte.

Schon im Vorfeld der Karlsruher Entscheidung veröffentlichte die ach so seriöse FAZ Berechnungen des Karl-Breuer-Instituts, also des wissenschaftlichen Schreibtischs des sich selbst so nennenden „Bundes der Steuerzahler“, dessen Mitglieder zu 60 bis 70 Prozent aus Unternehmen und dem gewerblichen Mittelstand kommen. Nach der in der FAZ veröffentlichten Tabelle, die wenige Tage auch in der Bild-Zeitung abgedruckt war, ergab sich, dass sich für viele Beschäftigten ihre Arbeit nicht lohne. Pech für FAZ und Bild war nur, dass sich auf kritisches Nachfragen, selbst das angebliche Forschungsinstitut von den veröffentlichten Ergebnissen distanzieren musste.

In diesem Trommelfeuer der Think-Tanks darf natürlich der regelmäßig „Ordnungspolitische Einspruch“ des Direktors des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln im Handelsblatt nicht fehlen, der selbstverständlich im Verfassungsgerichtsurteil (Zitat) „keinerlei Aufforderung zu einer Anhebung der Regelsätze nach Hartz IV“ sieht.

Und natürlich schickte die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ihre Botschafter Arnulf Baring und den „Neidtheoretiker“ Norbert Bolz ins Feld.

Durch diesen Theaterdonner dringen nachdenklichere Stimmen nicht mehr durch und nach einem wochenlangen Dauerfeuer ist die Stimmung im Lande wieder auf die passende Linie gebracht.

Statt Vorsicht und Abstand erleben wir bei vielen Journalisten Nähe und Kooperation mit Wirtschaft und Politik, wir beobachten Kampagnen- statt kritischen Journalismus, Nachplappern statt Analyse. Vor allem aber gibt es eine Verneigung vor den Mächtigen und nur wenig Empathie für die Schwächeren in dieser Gesellschaft.

Ich weiß, dass ich mit meinem Urteil bei vielen Journalisten und Journalistinnen in die Nesseln setze, denn mir werden dann regelmäßig einzelne Beispiele entgegen gehalten, die belegen sollen, dass ich Unrecht habe, aber dennoch will ich meine These aussprechen: Ein beachtlicher Teil der schreibenden und sendenden Zunft lässt sich oft mehr nolens als volens in gezielt inszenierten Kampagnen der Meinungsbeeinflussung einspannen. Kampagnenjournalismus ist geradezu zu einem beherrschenden Charakteristikum geworden.

Wir haben das auf den NachDenkSeiten etwa am Beispiel der kollektiven Miesmache des „Standorts“ Deutschland zur Durchsetzung der neoliberalen Strukturreformen belegt. Ein Land das schon damals zu den führenden Exportnationen gehörte wurde zum Problem erklärt, das nur noch durch einen „Ruck“ aus der Misere geführt werden könne. Wir haben das erlebt, als die beiden Tarnworte „Globalisierung“ und „demographische“ Entwicklung unisono als unausweichliche Zwänge für eine Welle von Unternehmenssteuersenkungen und damit gleichzeitig für ein Ausbluten des Wohlfahrtsstaates, für Privatisierung und Deregulierung, für die Zerstörung der Arbeitslosenversicherung und für den Rückbau der gesetzlichen Rente als Grundsicherung und den Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge erklärt wurden.

Bei manchen Themen, wie etwa der Rente mit 67 kann man geradezu eine freiwillige Selbstgleichschaltung bei den Leitmedien beobachten. Am 15. August erklärte z.B. Jörg Schönenborn im Presseclub vor laufender Kamera, dass er keine Journalisten in den „gängigen Medien“ gefunden habe, die zum Thema Rente mit 67 eine kritische Position in der Runde hätten einnehmen können. Die eingeladenen Journalistinnen und Journalisten kamen über die gängige Betrachtung nicht hinaus. Wie eine Gebetstrommel wurde wiederholt:

Da immer mehr Alte auf weniger Arbeitsfähige kommen, müsse das Renteneintrittsalter angehoben werden und/oder die Renten könnten nicht mehr steigen. Die vielen anderen Stellschrauben zur Lösung des Problems werden einfach ignoriert. Etwa die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die Erhöhung der Erwerbsquote insbesondere von Frauen und die Verringerung der Arbeitslosigkeit wie auch die Möglichkeit, den 8,6 Millionen Menschen, die nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes gerne mehr arbeiten würden, Arbeit zu verschaffen, alle diese politisch beeinflussbaren Variablen werden als Mittel zur Lösung des Problems schlicht ausgeblendet. Auch die möglichen Veränderungen der Finanzierungsbasis durch Einbeziehung von bisher nicht herangezogenen Beitragszahlern oder gar die Erwägung einer Wertschöpfungsabgabe werden in der Regel nicht in betracht gezogen.

Ich könnte zu vielen anderen Themen ähnlich eindimensionale Argumentationsrituale nennen. Zu diesem – wie ich es nenne – Kampagnenjournalismus – aus Zeitgründen nur noch ein ganz aktuelles Beispiel:

„Wirtschaftswunder“, „Aufschwung XL“, „besser als andere Länder“, „Arbeitskräfte werden knapp“, „Zuwanderung ist nötig“, „der Aufschwung ist eine Folge der so genannten Reformpolitik“, solche Botschaften lesen und hören wir derzeit in fast allen Medien.

Nun will ich gewiss nicht beklagen, dass die Wirtschaft wieder etwas wächst und ich kann als ehemaliger Regierungssprecher nur zu gut verstehen, dass eine Regierung und zumal ein Wirtschaftsminister erfreuliche Daten als Erfolge der eigenen Politik darstellen wollen, muss man aber als kritischer Journalist gleich wie etwa Spiegel-Online Überschriften wie „Jubel über schwarz-rot-goldenes Jobwunder“ oder „Wirtschaftsmärchen“ wie Bild, oder „Wir sind bald wieder so stark wie vor der Krise“ so das manager-magazin produzieren oder wie der Focus titeln „Ja der Aufschwung ist da!“? Muss man Brüderle wie die BZ gleich als neuen Ludwig Erhard hochjubeln?

Das sind keine Einzelbeispiele, wenn Sie bei Google-News-Suche die Suche „Wirtschafts- oder Jobwunder“ finden Sie hunderte von Einträgen mit dem gleichen Tenor vor allem natürlich auch in den kleinen Regionalzeitungen, die im Meinungstrend der Leitmedien einfach mitschwimmen (müssen).

Ich will Sie jetzt nicht mit einer Latte relativierender Daten und Statistiken langweilen, Sie können diese in den Einträgen der NachDenkSeiten der letzten Tage in Ruhe und im Detail nachlesen.
Aber müsste man im Sinne eines kritischen Journalismus nicht wenigstens auch darauf hinweisen, dass das angebliche „Wirtschaftswunder“ bei den Arbeitnehmern nicht ankommt.

Müsste man, wenn man die IWF-Prognose für ein über dreiprozentiges Wachstum in Deutschland zitiert, nicht auch auf die Darstellung der Einkommensentwicklung im EU-Vergleich hinweisen, wo unser Land bei der durchschnittlichen jährlichen Zunahme der realen Bruttoverdienste je Arbeitnehmer in den letzten 10 Jahren mit 0,1 Prozent das weit abgeschlagene Schlusslicht bildet?

Müsste man nicht an die triviale Tatsache erinnern, dass wer heftig abstürzt auch wieder viel aufzuholen hat und deshalb hinzufügen, dass das BIP-Wachstum im 2. Quartal 2010 noch um minus 2,7 Prozent unterhalb des Niveaus vor dem letzten Quartal vor Ausbruch der Krise Anfang 2008 liegt?

Müsste man nicht kritisch anmerken, dass die wirtschaftliche Belebung ganz überwiegend weiter dem Export geschuldet ist?

Müsste man, wenn man über das „Jobwunder“ jubelt, nicht wenigstens so ehrlich sein, dass dem Zuwachs von 284.000 sozialversicherungspflichtigen Stellen im Vorjahresvergleich eine Zunahme von 174.000 sozialversicherungspflichtigen Teilzeitjobs und von 177.000 Leiharbeiterjobs gegenüber stehen.

Was soll man von dem von der Wirtschaft verkündeten und von den Medien kräftig hinausposaunten Fachkräftemangel halten, wenn zur gleichen Zeit das Statistische Bundesamt ermittelt, das sich rund 9 Millionen Menschen mehr Arbeit wünschen und damit der Volkswirtschaft ungenutzte Arbeitskraft in großem Umfang verloren geht . Rund neun Millionen Menschen wünschen sich (mehr) Arbeit
Es gäbe noch zahllose weitere Daten und Statistiken, die jedermann zugänglich sind, die man der aktuellen Beschönigungs-Kampagne dagegen oder zumindest daneben stellen müsste. Doch das erforderte ein wenig Gedächtnis oder wenigstens ein klein wenig Suchaufwand und das ist halt anstrengender als eben nur die regierungsamtlichen oder die Verlautbarungen einschlägiger Verbände zu reportieren.

Ich fasse die Ergebnisse zu denen Albrecht Müller in seinem Buch Meinungsmache gekommen ist zusammen und spitze zu:

  • Die Medien verlieren ihre vom Grundgesetz geadelte kritische Distanz
  • Wir erleben zunehmend Kampagnen- statt kritischem Journalismus
  • Wir müssen mehr und mehr Kommerz statt Aufklärung beobachten
  • Die Berichterstattung wird immer stärker geprägt durch Nähe und Kooperation mit Wirtschaft und Verbänden statt durch Vorsicht und Abstand
  • Nur wenige Journalisten und meist in nicht meinungsführenden Medien legen sich mit den Mächtigen an, es gibt einen Verlust an Empathie mit den Schwächeren.
  • Wir erleben Nachklappern und Nachplappern statt eigenen Recherche, Analyse und sachverständigem Nachfragen.

Anmerkung zum Kongress Öffentlichkeit und Demokratie

Wie man schon dem Tagungsprogramm [PDF – 2.5 MB] war der Kongress in eine Vielzahl von Arbeitskreisen aufgeteilt. Man hätte sich Vierteilen müssen, um wenigstens einen Teil der interessanten Diskussionen verfolgen zu können. Als Teilnehmer musste man sich ganz gezielt seine Themen aussuchen. Dennoch fand ich die meisten der von mir besuchten Arbeitskreise gut besetzt und die Diskussionen waren interessant.
Typischer- und bedauerlicherweise waren allerdings nur ganz wenige professionelle Journalisten anwesend. Dafür mag es viele Erklärungen geben, aber das ist auch ein Indiz dafür, dass es unter den Journalisten der „Hauptmedien“ nur wenig Interesse gibt, kritisch über die eigene Arbeit zu diskutieren.

Gefreut habe ich mich darüber, dass s ich ganz viele Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten im Publikum gefunden haben und dass ich Gelegenheit hatte mit einigen etwas ausführlicher zu sprechen.


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