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Titel: Wer ist Alexej Nawalny und was ist sein politisches Programm? Nur wenige stellen sich diese essentielle Frage.

Datum: 22. Februar 2021 um 8:10 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Strategien der Meinungsmache
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Journalistische Recherchen sind zeitlich aufwendig. Im «Fall Nawalny» berichten viele Medien zu simpel – ein gutes Beispiel, was es braucht, um an mehr Informationen zu kommen. Christian Müller / 21.02.2021Dieser Beitrag ist von Infosperber übernommen. Danke für den Hinweis an den Autor Christian Müller.

Der für Russland zuständige Auslandredaktor der NZZ, Andreas Rüesch, hat am Samstag, 13. Februar 2021, als Aufmacher auf der NZZ-Frontseite einen Leitartikel zu Russland publiziert. Das Thema war Nawalny und Putins Zukunft. In seinem Text kommen die Wörter «Opposition» und «Oppositionelle» zwar etliche Male vor, aber Rüesch hat – absichtlich oder fahrlässig – darauf verzichtet, zu sagen, wie denn diese Opposition in Russland überhaupt aussieht.

Dass Nawalny gegen Putin Opposition macht, wissen wir ja nun alle. Aber wofür steht Nawalny? Was ist das politische Programm dieses Putin-Kritikers, der mitten in der Covid-19-Pandemie und trotz aller Corona-bedingten Versammlungsverbote zu Demonstrationen aufrief? Und wer steht hinter Nawalny? Ist er der richtige Mann, von den westlichen Ländern zum Freiheitshelden hochstilisiert zu werden?

Am 20. August 2020 wurde, wie vermutet wird, Nawalny vergiftet. Seither sind sechs Monate vergangen. Und noch immer wird er behandelt, als ob er «die» Opposition in Russland vertrete. Selbst das «Echo der Zeit» von Schweizer Radio SRF, etwas vom Besten, was man in puncto internationaler Information «konsumieren» kann, hat erst kürzlich, am 16. Februar, in einem kurzen Bericht aus der russischen Provinz zum ersten Mal durchblicken lassen, dass Nawalny nicht einfach «der» Repräsentant der Opposition ist, sondern, im Gegenteil, von gewissen Gruppierungen der Opposition sogar klar abgelehnt wird – mit gutem Grund.

Wo gibt es unabhängige Informationen?

Den westlichen NATO-freundlichen Medien ist es gelungen, in der breiten Bevölkerung die Behauptung, in den russischen Medien gäbe es nur eine, vom Kreml diktierte Ansicht, in ein – vermeintliches –«Allgemeinwissen» zu verwandeln. Informationen aus Russland werden deshalb a priori als Propaganda und als falsch abgetan. Wer Russisch versteht und spricht, weiss natürlich, dass dies nicht der Realität entspricht. Nichtsdestotrotz gelten Infos aus Russland generell als unglaubwürdig und können deshalb für Recherchen westlicher Journalisten kaum gebraucht werden. Wo also zusätzliche Informationen holen?

Infosperber hat am 30. Januar darauf aufmerksam gemacht, dass Mark Episkopos, ein Mitarbeiter des (konservativen) US-amerikanischen Polit-Magazins «The National Interest» etwas genauer hingeschaut und darauf hingewiesen hat, dass Nawalny nicht in jeder Hinsicht derjenige Oppositionelle ist, der vom Westen unterstützt werden sollte, weil er in den vergangenen Jahren auch politische Gruppen unterstützt hat, die mitnichten westliche Werte vertreten. Gerade auch, weil Mark Episkopos kein Russland-Freund ist, sind seine Beobachtungen beachtenswert.

Ein paar weitere Beispiele

Eine sehr interessante und informative Analyse hat die Zeitschrift «Jacobin» publiziert: «How a Russian Nationalist Named Alexei Navalny Became a Liberal Hero», verfasst vom russischen Oppositionellen Alexey Sakhnin. Darin macht der politisch linksstehende Aktivist darauf aufmerksam, dass Nawalny keineswegs die Interessen der grossen Mehrheit der russischen Bevölkerung vertritt, sondern einfach für die Interessen einer anderen «Elite» kämpft.

Wer also mehr über Nawalny und sein Programm wissen möchte, sucht deshalb weiter und findet über die Website «Natylie’s Place: Understanding Russia» ein einstündiges Homeoffice-Gespräch eines US-amerikanischen Journalisten mit eben diesem Alexey Sakhnin in Moskau und zusätzlich mit einer in New York lebenden Russin, Katya Kazbek, einer Journalistin, die ihrerseits eine interessante Website betreibt. Und wieder erhält man neue, interessante Infos über Nawalny und zur Frage, was eigentlich sein Programm ist und welche Interessen er denn in Wirklichkeit vertritt. (Natylie Baldwin ist oft lesenswert, hier zu ihrer Biographie.) Das Video mit dem Gespräch kann hier angeschaut werden.

Auf einer anderen Plattform sagt Katya Kazbek wörtlich:

«Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass sich die Einstellung der grossen Mehrheit der Russen zu dem Giftanschlag und seinen Folgen von deren Darstellung in der westlichen Presse deutlich unterscheidet, wie aktuelle Umfragen zeigen: Während Nawalny für viele Menschen undurchsichtig bleibt und viele neutral bleiben, sind die Menschen ihm gegenüber im Allgemeinen vorsichtiger und misstrauischer, als sie vorsichtig und misstrauisch gegenüber der russischen Regierung oder gar Putin persönlich sind. Nawalnys Popularität ist zwar im Zuge des mutmasslichen Giftanschlags etwas gewachsen [ ]. Sie liegt aber immer noch hinter der von Putin und sogar hinter der von Wladimir Schirinowski, dem Führer der rechtsextremen LDPR, zurück.»

Katya Kazbek an anderer Stelle:

«Damals gab Nawalny sich offen als Nationalist zu erkennen und nahm an nationalistischen Kundgebungen teil. Er begann in der liberalen, marktorientierten Partei Jabloko, wurde aber wegen seiner nationalistischen Ansichten rausgeschmissen. Dann gründete er seine Bewegung «Das Volk», die sich gegen illegale Einwanderung richtete, und er nahm unverhohlen fremdenfeindliche Videos auf, in denen er Menschen aus dem Südkaukasus mit Zahnlöchern und Migranten mit Kakerlaken verglich: Eines dieser Videos ist immer noch auf seinem verifizierten YouTube-Kanal zu sehen.»

Oder an anderer Stelle:

«Im Grunde passt er seine Politik dem an, was opportun erscheint, aber auch das scheint seiner Sache nicht ausreichend zu helfen. Er ist nicht Nazi genug für die Ultra-Rechten, er ist zu rechts für Linke, er verschreckt einige Liberale mit seiner Pro-Waffen-Haltung und mit seiner unsicheren Position betreffend die Krim, die beide für die Liberalen wichtige Themen sind. Er scheint nur bei denen volle Unterstützung zu finden, die mit allen Mitteln Putins Regierung weghaben wollen und sich um seine Ansichten und um seine Politik nicht wirklich kümmern.»

Wer sich für die Beziehungen zwischen den USA und Russland speziell interessiert, findet auf der Plattform usrussiaaccord.com täglich neue Berichte, Kommentare und auch Videos aus den verschiedensten US-Medien zu eben diesem Thema, die auf diesem Weg dann meist auch ohne bezahltes Abonnement zugänglich sind.

Ein israelischer Filmproduzent hat noch anderes gesehen

Sucht der recherchierende Journalist Informationen zu einer speziellen geopolitischen Situation oder zu einer bestimmten Person, lohnt es sich oft, auch israelische Quellen abzuklopfen, um andere Perspektiven mitzukriegen. So findet man etwa auf Haaretz tatsächlich einen Beitrag eines Filmemachers, der ein aktualisiertes Portrait von Nawalny machen wollte. Ein paar kurze Sätze daraus zu Nawalnys Persönlichkeit:

«Trotz dieser Bilder, die die menschliche Seite Nawalnys zeigen, bleibt der Eindruck eines etwas teflonartigen Charakters, eines Mannes, der keine Gelegenheit für ein Selfie mit seinen Anhängern und Bewunderern auslässt, aber lieber mit seinem Telefon beschäftigt ist, wenn sie ihm ihren Schmerz und ihre Hoffnungen entgegenschreien. [ ] Dieser unser Eindruck kommt wahrscheinlich daher, dass er der Filmcrew nicht erlaubte, die äussere Schicht der Kampagne zu durchbrechen und ihn in intimen Situationen zu sehen – mit seiner Familie, Freunden oder in persönlichen Momenten der Reflexion. Der Dokumentarfilm lässt die Zuschauer mit der Frage zurück, ob Nawalnys Kommunikationsproblem nicht doch ein tieferes, ein persönliches Problem widerspiegelt.»

Es gibt auch deutschsprachige Zusatzinformationen

Auch in deutscher Sprache gibt es zusätzliche Infos über Nawalny, wenn man sie sucht. Auf der Website Anti-Spiegel etwa kämpft der deutsche Thomas Röper, der seit langem in Russland lebt, zwar vor allem gegen die völlig einseitigen Darstellungen des Nachrichten-Magazins «Der Spiegel», aber oft tut Röper das eben, indem er berichtet, wie es wirklich war oder wie es ist. Und da kann man dann auch über Nawalny Dinge erfahren, die man sonst in den deutschsprachigen Medien kaum lesen kann. Etwa wie sich Nawalny vor Gericht verteidigte, nachdem er von einem 94-jährigen Veteranen wegen Verleumdung eingeklagt worden war. Nawalny hatte ihn in einem Video als «Verräter» und «Arschkriecher» bezeichnet. Ein ebenfalls lesenswerter Artikel.

Lesenswert sind auch immer die täglichen Analysen der deutschen Plattform «German-Foreign-Policy», zu Nawalny und zur Opposition in Russland zum Beispiel hier.

Und Informationen aus Russland?

Und wenn man schliesslich, allen Zweifeln zum Trotz, doch auch noch schaut, was russische Medien zu Nawalny sagen, dann gibt es neben seinen Geldschiebereien und seinen Aufrufen zu Demonstrationen trotz Corona-bedingten Versammlungsverboten mindestens zwei Punkte, die sonst kaum erwähnt werden. Darunter die Information, dass Nawalny Unmengen Geld – vermutlich aus dem Inland und aus dem Ausland – erhalten habe, und zwar in Form von Bitcoins, was es unmöglich mache, herauszufinden, woher das Geld komme. Bitcoin-Zahlungen, deren Herkunft nicht eruiert werden kann? Infosperber hat sich sowohl bei einer Schweizer Firma, die im Bereich von Kryptowährungen aktiv ist, als auch beim Finanzdepartement in Bern dazu kundig gemacht. Beide Stellen zeigten wenig Freude an der Medienanfrage, aber beide bestätigten schliesslich, dass es zwar nicht erlaubt ist, etwa aus der Schweiz Bitcoins anonym zu verschicken, aber dass es technisch eben doch möglich ist. Warum wird Nawalny in den westlichen Medien nachgerade hochgejubelt, ohne dass danach gefragt wird, woher er sein Geld hat? In den USA etwa müssen Zahlungen an eine Partei transparent gemacht werden.

Und schliesslich ein anderer Punkt, dem man ebenfalls nur auf russischen Plattformen begegnen konnte: Die bestrenommierte britische medizinische Zeitschrift «The Lancet» hat bekanntlich die Gelegenheit bekommen, die Resultate der Blutuntersuchungen nach Nawalnys Ankunft in der Berliner Klinik «Charité» einzusehen. Und was sieht man dort? Die Ärzte vom «Charité» fanden noch nichts, das zwingend auf eine Vergiftung hinwies. Es war, zwei Wochen später, erst das Labor der – der NATO zugehörigen – Deutschen Bundeswehr, das den Giftstoff Novichok entdeckte. Wer sich schon ein bisschen mit den Methoden der Geheimdienste, zum Beispiel mit der CIA, beschäftigt hat, der weiss aber, dass diese Geheimdienste zu ziemlich allem fähig sind, was einem Feind schaden kann. Zumindest taucht dann diese eine Frage auf: Wenn man dem russischen Geheimdienst zutraut, Nawalny vergiften zu wollen (oder es zumindest versucht zu haben), ist es dann abwegig, es auch für möglich zu halten, dass ein westlicher Geheimdienst dort Novichok findet, wo er mit diesem «Fund» seinen Intimfeind – ganz im Sinne moderner hybrider Kriegsführung – besonders hart treffen kann? Novichok ist zu Sowjetzeiten als Gift für Massenmorde entwickelt worden, eignet sich für den Mord einer Einzelperson aber überhaupt nicht. Aber dieses Gift hat den «Vorteil», dass es imagemässig nur mit Russland in Verbindung gebracht wird und dass eine Vergiftung mit Novichok also automatisch auf russische Vergifter schliessen lässt. (Infosperber hat den Bericht in «The Lancet» ebenfalls nachgelesen (er ist nur registrierten Usern voll zugänglich), die zeitliche Differenz von zwei Wochen zwischen den beiden Blutuntersuchungen wird dort bestätigt.)

Wer ist Nawalny? Was ist sein Programm? Vom wem wird er unterstützt?

Eine kurze «wahre» Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Eine Quintessenz aus den oben zitierten und weiteren Informationen aus verschiedensten Quellen zu Nawalny aber gibt es: Nawalny ist nicht der Repräsentant «der» Opposition, denn «die» russische Opposition gibt es nicht. Nawalny geht es darum, selbst Macht zu erlangen. Um dies zu erreichen, nimmt er Unterstützung von allen Seiten an, öffentliche und geheime, von links und von rechts. Was er dann wirklich tun würde, wenn er selbst die Macht erlangte, ist völlig offen – und den meisten westlichen Regierungen und Medien aber offensichtlich gleichgültig. Die meisten Redaktionen versuchen auch nicht ansatzweise, etwas mehr über diesen Mann zu erfahren. Es genügt ihnen, zu wissen – und natürlich das dann auch zu schreiben –, dass Nawalny gegen Putin auftritt und also aus westlicher Sicht zu unterstützen oder gar zu verehren ist.

So simpel ist der heutige Journalismus geworden. Siehe Andreas Rüesch am 13. Februar auf der Frontseite der NZZ.

Eine kleine Entschuldigung gibt es

Was den Journalistinnen und Journalisten, den Redaktorinnen und Redaktoren zugutezuhalten ist: Seit wegen der Werbung im Internet die Erlöse aus der Werbung in den klassischen Medien dramatisch eingebrochen sind, werden, als Sparmassnahme, viele Redaktionen zusammengelegt und alle werden personell ausgedünnt. Für eingehende Recherchen bleibt den Journalisten kaum mehr Zeit. Das können sich nur noch Journalisten leisten, die schon in Pension sind und sich die Zeit dazu freiwillig nehmen.

Titelbild: Rosfoto.ru / Shutterstock


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