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Titel: 100 Jahre Leonhard Mahlein

Datum: 10. April 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Gedenktage/Jahrestage, Gewerkschaften
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„Wir müssen als Gewerkschafter dazu beitragen, dass wieder eine öffentliche Grundsatzdebatte über Gesellschaftsfragen und über Machtstrukturen geführt wird“. Es geht nicht nur um ein historisches Datum. Es lohnt sich, an die Arbeit eines Menschen, eines Gewerkschafters zu erinnern. Leonhard Mahlein hat zusammen mit Tausenden von Kolleginnen und Kollegen Geschichte geschrieben, Zeichen gesetzt, die nicht in einer Chronologie verstauben sollten. Während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Industriegewerkschaft Druck und Papier hat eine „technische Revolution“ stattgefunden: die Einführung des Computers in Büros und Redaktionsstuben. Im Verhältnis zu dem technischen Sprung, den wir heute erleben, mag der erstmalige Einsatz des „Rechnergesteuerten Satzsystems RTS“ in der Druckindustrie als Schrittchen erscheinen. In Wirklichkeit ging es um Grundsatzfragen, waren die Folgen bedeutsam: zehntausende Arbeitsplätze gingen verloren, journalistisches Handwerk drohte zur Texterfassung degradiert zu werden. In dieser Gefahrensituation war die Gewerkschaft besonders gefordert: Es ging um die Erhaltung von Arbeitsplätzen, um die Sicherung beruflicher Qualifikation und die Verhinderung des Abbaus journalistischer Freiheit. Von Hermann Zoller.

Um für die Gestaltung der Tariflandschaft rechtzeitig in ihrem Sinne die Weichen zu stellen, hatten die Unternehmer schon zwei Jahre zuvor, 1976, versucht, durch ein Lohndiktat die Tarifautonomie zu beschneiden. Dem Engagement der Mitglieder der IG Druck und Papier ist es jedoch zu verdanken, dass dieser Angriff abgewehrt werden konnte.

Die technischen Veränderungen, mit denen wir es heute zunehmend zu tun haben und die noch tiefergreifende Folgen haben können, fordern von den Gewerkschaften viel Einsatz, um schlimme Folgen zu verhindern. Auch die Politik ist freilich gefordert, aber den Gewerkschaften kommt in diesem Prozess, der auch nicht ohne Auseinandersetzungen ablaufen wird, eine große, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle zu. Deshalb lohnt es sich, an den Kampf der IG Druck und Papier und ihren damaligen Vorsitzenden Leonhard Mahlein zu erinnern.

Hermann Zoller, Pressesprecher und Chefredakteur der IG Druck und Papier hat aus Anlass des 100. Geburtstags von Leonhard Mahlein eine Würdigung geschrieben, die wir nachstehend veröffentlichen.

Den Arbeitskampf um die Einführung der „Neuen Technik in der Druckindustrie“ hat Leonhard Mahlein in einem Beitrag für die damals noch erschienenen „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ (05/1978) analysiert. Ihn zu lesen, ist auch heute noch ein Gewinn.

Leonhard Mahlein wurde in Nürnberg am 4. April 1921 geboren. Sein Vater arbeitete bei der Bahn als Hilfsarbeiter in der Güterabfertigung. Er war Mitglied in der KPD, wurde 1935 verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Schon diese Erlebnisse prägten „Loni“ Mahlein für sein weiteres Leben. Nach dem Abschluss der Volksschule begann er die Lehre eines Buchdruckers. Diese musste er allerdings unterbrechen – wegen „politischer Unzuverlässigkeit“. Er wurde zum Kriegsdienst eingezogen und 1941 mehrfach verwundet. Schwer verletzt kam er nach Kriegsende heim. Wie selbstverständlich trat auch er der KPD bei, die er dann im Nürnberger Jugendparlament vertrat. In seinem Beruf schaffte er es, die Meisterprüfung zu bestehen: im Praktischen mit der Note eins, im Theoretischen mit 1,5. Am 18. Dezember 1985 verstarb Leonhard Mahlein überraschend an einem Herzinfarkt.

Seine gewerkschaftliche Laufbahn begann Leonhard Mahlein mit einem Engagement als Jugendleiter in der IG Druck und Papier Nürnberg; eine Funktion, die er von 1946 bis 1949 bekleidete. Im Betrieb wurde er zum Vorsitzenden des Betriebsrats gewählt. Von 1951 bis 1956 arbeitete er als Fachlehrer an der Grafischen Fachschule Nürnberg.

1952 trat Leonhard Mahlein aus der KPD aus. In seiner Partei gab es eine Diskussion über die „Gewerkschaftsfrage“: Sollte er als Parteifunktionär die Politik der KPD in der Gewerkschaft vertreten oder sollte er als gewählter Gewerkschaftsfunktionär in die Partei hineinwirken? Angesichts dieses Zwiespalts entschied sich Mahlein für die Einheitsgewerkschaft.

Im Jahr 1956 entschloss sich Leonhard Mahlein, Mitglied der SPD zu werden. Im selben Jahr wurde er zum 2. Vorsitzenden der IG Druck und Papier in Bayern gewählt. 1965 wurde er dann 1. Vorsitzender. Bereits drei Jahre danach, 1968, wurde Leonhard Mahlein von den Delegierten des 8. Ordentlichen Gewerkschaftstages in Koblenz zum Vorsitzenden der IG Druck und Papier gewählt. Diesem Erfolg waren stürmische Debatten und sechs Wahlgänge vorausgegangen. Diese Funktion hatte er bis 1983 inne.

Die Unabhängigkeit der Gewerkschaften war für Leonhard Mahlein ein ganz zentraler Punkt und zog sich wie ein roter Faden durch seine Politik. Dazu gehörte, dass er sich besonders für eine breite Mitbestimmung und die Abschaffung des Tendenzschutzparagraphen einsetzte.

In seiner Zeit als Vorsitzender führte die IG Druck und Papier drei wichtige Arbeitskämpfe. 1973 wurde eine Lohnerhöhung um 10,8 Prozent erreicht – und eine zusätzliche Anhebung der unteren Lohngruppen und der Ausbildungsvergütungen. Erkämpft wurde dieses Ergebnis durch den ersten Flächenstreik in der Druckindustrie nach mehr als 20 Jahren.

Zum härtesten Arbeitskampf in der Geschichte der IG Druck und Papier kam es 1976. Die Unternehmer reagierten mit massenhaften Aussperrungen. Dennoch konnte nach drei kampfreichen Wochen unter Vermittlung des nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministers Friedhelm Farthmann eine Erhöhung der Tariflöhne um sechs Prozent sowie Einmalzahlungen durchgesetzt werden. Für Leonhard Mahlein ging es dabei nicht nur um die „Sechs vorm Komma“. Wichtig war ihm das politische Signal, dass sich die Gewerkschaften von der Politik nicht vorschreiben lassen dürfen, in welchem Maße Lohnerhöhungen abzuschließen sind. Die damals politisch gesetzte „Lohnleitlinie“ von 5,4 Prozent wurde von der IG Druck und Papier bzw. ihren kampfbereiten Mitgliedern erfolgreich durchbrochen.

Zwei Jahre später, 1978, kommt es in der Druckindustrie zum nächsten schweren Arbeitskampf, bei dem die Unternehmen erneut auch vor Aussperrungen nicht zurückschreckten. Im Frühjahr dieses Jahres konnte die IG Druck und Papier schließlich den geforderten „Tarifvertrag zur Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme (RTS)“ in der Druckindustrie und in den Verlagen erreichen.

Bei dieser Tarifauseinandersetzung wurde erstmals eine „bewegliche Form der Streikführung“ praktiziert. So konnte man Arbeitskämpfe länger durchstehen, vor allem aber wurde es den Unternehmern so erschwert, ihrerseits Aussperrungen auszuführen. Nach dem Arbeitskampf bewertete Mahlein die Auseinandersetzung so: „Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass die Tarifforderungen der IG Druck und Papier unmittelbar nur einen kleinen Teil der Mitgliedschaft betrafen, nämlich die Schriftsetzer, sowie, was die Arbeitsbedingungen anging, die Journalisten. Dass es gelang, die Arbeiter und Angestellten auch der übrigen Abteilungen, zum Beispiel in der Druckerei und in der Weiterverarbeitung, zu geschlossenem und solidarischem Einsatz für die bedrohten Schriftsetzer zu bewegen, gehörte zu den innerorganisatorischen Erfolgen des Streiks.“

Trotz aller Härte beim Kampf um Lohnprozente: Loni Mahlein verstand die Gewerkschaften nicht als „Lohnmaschinen“, sondern auch als „politische Bewegung“ der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich für eine Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft einsetzt. Deshalb war er auch in der Friedensbewegung aktiv und setzte sich als Präsident der Internationalen Grafischen Föderation (IGF), der er von 1976 bis 1985 war, für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes ein.

Seine politischen Grundpositionen beschrieb Leonhard Mahlein 1985 auf dem Kongress der Internationalen Grafischen Föderation in Helsinki:

„Es muss Aufgabe der Gewerkschaften sein, deutlich zu machen, welche gesellschaftliche Zukunft sie sich vorstellen und welchen Platz die abhängig Beschäftigten dort einnehmen wollen. Wir müssen als Gewerkschafter dazu beitragen, dass wieder eine öffentliche Grundsatzdebatte über Gesellschaftsfragen und über Machtstrukturen geführt wird. Wir müssen dazu beitragen, dass der Zustand der aktiven Hilflosigkeit, der immer öfter für politisches Handeln kennzeichnend ist, überwunden wird.“

Um fortzufahren:

„Es muss zu einer Repolitisierung der gewerkschaftlichen Arbeit kommen und damit zur Aufhebung der Diskrepanz zwischen den Forderungen und Zielen und der tatsächlichen pragmatischen Politik. Die Gewerkschaften werden sich den Problemen nur wirkungsvoll stellen und den negativen Folgen der Krise für ihre Arbeit entgegenwirken können, wenn sie sich theoretisch und praktisch nicht nur als Interessen-Organisation, sondern als politischer Verband mit eigenen verbindlichen Zielsetzungen darstellen.

Politisierung der Gewerkschaften heißt nicht Parteinahme für oder gegen eine bestimmte Partei oder gar Installierung der Gewerkschaften als Ersatzpartei. Politisierung heißt eindeutig Parteinahme für eine interessenbezogene Politik zugunsten der abhängig Beschäftigten und gegen die einseitig konservativ-reaktionäre Politik zugunsten des Kapitals.

Politisierung der Gewerkschaften heißt nicht zuletzt die Umsetzung einer solchen Politik im Interesse der Beschäftigten wie der Arbeitslosen mit allen zur Verfügung stehenden gewerkschaftlichen Mitteln. Schließlich erzwingt die konservative Politik des Sozialabbaus, die Einengung der gewerkschaftlichen Rechte als auch die Verschärfung der Interessengegensätze von den Gewerkschaften selbst eine offensive, gesamtpolitische Antwort. Tarifpolitik allein kann die Wirtschaftskrise nicht lösen; aber sie kann – eingebettet in ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept der Gewerkschaften – einen aktiven Beitrag zu einer sozialen, arbeitnehmerorientierten Krisenbewältigung leisten.“

Ein wichtiges Anliegen war Leonhard Mahlein die Zusammenführung aller Beschäftigten in der „Medienwirtschaft“ zu einer Mediengewerkschaft. Ein erster Schritt auf diesem Weg war für ihn der Beitritt der Mitglieder des Verbands deutscher Schriftsteller (VS), der 1973 erfolgte. Ein wesentlicher Schritt, neue Strukturen für eine Mediengewerkschaft zu entwickeln, folgte dann am Vorabend des 12. Ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Druck und Papier 1980 in Augsburg: Alfred Horné für die Rundfunk-Fernseh-Film-Union in der Gewerkschaft Kunst und Leonhard Mahlein für die IG Druck und Papier unterzeichnen einen Kooperationsvertrag, der auf die Bildung einer einheitlichen Mediengewerkschaft im DGB angelegt ist. Am 3. Dezember 1985, wenige Tage vor seinem Tod, erlebte Mahlein noch den Gründungsakt der IG Medien.

Franz Kersjes, langjähriger Begleiter von Mahlein und Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen, fasst das Wirken von „Loni“, wie er von den Mitgliedern genannt wurde, so zusammen: „Er galt vielen Freunden, aber auch seinen politischen Gegnern als typischer Repräsentant der Arbeiterbewegung, der geprägt worden war durch Erfahrungen aus Zeiten von Wirtschaftskrisen und sozialem Elend, von faschistischem Terror und Krieg. Mahleins Klassenbewusstsein und die Fähigkeit zu präziser Analyse der wechselnden Kräftekonstellationen zwischen Kapital und Arbeit bestimmten sein gewerkschaftliches und politisches Bewusstsein. In der ‚Roten Broschüre’, wie er den Bericht des Hauptvorstandes der IG Druck und Papier zur ‚Rolle und Aufgaben der Gewerkschaften im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts’ aus dem Jahr 1974 nannte, findet sich einer seiner Grundsätze: ‚Gewerkschaftliche Kampfpraxis und die Konfliktstrategie von Vertrauensleuten, Betriebsräten und Engagierten sind wichtige Mittel der Bewusstseinsbildung. Unverzichtbar ist jedoch die Erkenntnis, dass ohne progressive Theorie keine progressive Praxis möglich ist. Die Praxis braucht eine fortschrittliche Theorie, sonst wäre sie gewerkschaftliche Handwerkelei.’“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sehen, dass in der Nach-Corona-Zeit auf die Arbeitnehmer große Belastungen zukommen werden. Die Unternehmer und ihre politischen Helfer werden versuchen, die Folgekosten auf die Arbeitnehmer abzuwälzen: Wir sitzen alle in einem Boot; wir müssen gemeinsam die Folgen tragen – das werden die Etiketten sein, unter denen Vernichtung von Arbeitsplätzen, Lohnabbau, berufliche Dequalifizierung und Zurückschnitt des Sozialstaates versucht werden wird. Damit stehen die Gewerkschaften vor wichtigen Abwehrkämpfen. Erfahrungen können helfen, sich rechtzeitig darauf einzustellen.

Titelbild: © Verdi

Lesen Sie bitte auch den Artikel „Streik in der Druckindustrie: Erfolgreicher Widerstand“, den Leonhard Mahlein 1978 in den Gewerkschaftlichen Monatsheften veröffentlicht hat.


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