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Titel: Wir sind in den Händen von Irren. Oder von verantwortungslosen Zynikern. Oder beides.

Datum: 27. Oktober 2010 um 17:07 Uhr
Rubrik: Euro und Eurokrise, Finanzkrise, Schulden - Sparen, Strategien der Meinungsmache
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Diese Überschrift ruht seit einiger Zeit auf meinem Laptop. Ich habe die Kennzeichnung der herrschenden Verhältnisse und Personen als „irre“ nicht zu gebrauchen gewagt, weil auch ein Teil der NachDenkSeiten-Nutzer eine solche Charakterisierung für zu grob hält. Jetzt ermunterte der Luxemburger Außenminister zum Gebrauch und lieferte auch noch eine richtige Begründung für diese Kennzeichnung. Albrecht Müller.

Irrsinnig ist der Plan, als Konsequenz aus der Finanzkrise einzelne Völker und Staaten unter Strafe zu stellen. In der öffentlichen Debatte ist von „härteren Strafen für Haushaltssünder“ die Rede. Die deutsche Bundeskanzlerin macht sich, jetzt im Verein mit dem französischen Präsidenten, besonders stark für die Verschärfung der Regeln des so genannten Stabilitätspaktes durch Änderung des europäischen Grundlagenvertrags. (Siehe z.B. Anlage.) Dagegen wandte sich unter anderem Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Ich zitiere die Frankfurter Rundschau vom 26.10. 2010:
„Da straft man ja Staaten, da straft man Völker, da erniedrigt man sie.“

Und weiter schreibt die FR: „Luxemburg warnt davor, die erst 2009 in einem mühevollen Ratifizierungsprozess vereinbarten EU-Regeln aufzuschnüren. Dies sei „irrsinnig“. Es drohe die Gefahr, dass sich die EU erneut Monate und Jahre nur mit sich selbst beschäftige.“

Endlich nennt mal ein Politiker in Verantwortung den Wahnsinn beim Namen, der darin liegt, dass Staaten untereinander vereinbaren, die Entscheidungsfreiheit ihrer Völker und Regierungen zu beschränken. Damit wird die Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen und Regierungen eingeengt.
Deutschland ist Vorreiter bei diesem Irrweg. Hierzulande rühmt man sich zum Beispiel der „Schuldenbremse“, obwohl dies eine sinnlose Beschränkung des Entscheidungsspielraums künftiger Generationen und künftiger Politiker ist. Diese Schuldenbremse wie auch die Regeln des Stabilitätspaktes verhindern, wenn sie wirklich angewandt werden und wirken, dass sich Völker zum Beispiel für eine offensive Beschäftigungspolitik entscheiden, oder auch für eine Ausweitung öffentlicher Leistungen, oder für die steuerliche Finanzierung von Sozialleistungen.

Der Irrsinn wird schon daran sichtbar, dass diese Regeln meist nicht eingehalten werden, auch von Deutschland nicht. Deutschland hat schon mehrmals gegen die Regeln verstoßen. Deutschland hat die 3% Grenze überschritten. Deutschland hatte in den letzten Jahren eine höhere Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt als das jetzt gedemütigte und zu einem harten Sparkurs zulasten seines Volkes gezwungene Spanien.

Der Irrsinn wird weiter daran sichtbar, dass die Verschärfung der so genannten Stabilitätsregeln ihren Erfolg selbst zunichte machen wird. Es ist immer wieder empirisch nachgewiesen worden, dass der Abbau von Defiziten vor allem dann möglich ist, wenn die Konjunktur gut läuft. Das hat sich in Deutschland 2007 und 2008 gezeigt, es hat sich in den 1990er Jahren in anderen Ländern, in den USA, in Großbritannien, in Schweden gezeigt. Dieses Wissen jedoch wird von den Verantwortlichen einfach ignoriert. Wir haben es mit Ignoranten zu tun, mit Politikern, die die Realität nicht mehr wahrnehmen und sich nur noch daran orientieren, was in ihren Kreisen und bei Teilen des Volkes populär ist.

Sparen – darüber konnten Sie schon oft in den NachDenkSeiten lesen – ist zumindest in einer großen Schicht von Multiplikatoren populär. Es ist auch mit Macht durch die Boulevardblätter und das Fernsehen populär gemacht worden. Jenseits aller sachlichen Erfahrungen und Erwägungen. Die Welt der Multiplikatoren und die Welt eines Teils des Volkes ist angefüllt mit falschen Vorurteilen – vor allem mit dem Vorurteil, Sparabsicht und Sparerfolg seien quasi identisch. Man müsse nur sparen wollen, dann könne man. Das funktioniert aber nicht. Siehe oben. Und dennoch bleibt Sparen populär. Darauf setzt Frau Merkel und ihre Gefolgschaft.
Sie ist nicht an einer sachlichen Lösung der Probleme in der Eurozone interessiert, sondern an der Popularität ihrer Aktionen und Entscheidungen. Dabei greift sie auch auf miese Aversionen gegen andere Völker zurück. Es ist populär, gegen die Südländer zu polemisieren. Und dabei schrecken manche Politiker auch nicht vor der absurden Vorstellung zurück, man könne ganze Staaten in die Insolvenz treiben.
Interessant ist in diesem Kontext, dass sie diese ihre Vorstellungen an vergleichsweise kleinen Ländern erproben. An den eigentlichen Haushalts- und Schuldensünder, an die USA, wagen sie sich nicht heran. Das zeigt übrigens auch, dass es sich bei den jetzigen Vorstößen um Spielereien und nicht um verantwortungsvolle Politik handelt.

Angela Merkel kann dabei auf ein Netz von gleichgesinnten Irren zurückgreifen. In den Medien. In der Wissenschaft. Bei der Bundesbank. Beispielhaft Bundesbankpräsident Weber. Er hat am 19.5.2010 in einer Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages „die Härtung des bestehenden Regelwerks“ gefordert. Seine Stellungnahme war vom gleichen Geist geprägt, der heute zu den Schwierigkeiten in Europa führt.

Um das, worum es in der Sache gehen müsste, um den Euroraum zu konsolidieren, geht es in den öffentlichen Debatten und in den Vorstößen auf europäischer Ebene schon lange nicht mehr. Dabei wäre eine sachliche Politik zu Gunsten einer Stabilisierung und Weiterentwicklung Europas und der Eurozone gar nicht so schwierig, wenn man zur Sachlichkeit bereit wäre:

  • Wir müssten unsere Wirtschaftspolitik einschließlich der Lohnpolitik besser abstimmen und dazu ent-ideologisieren
  • Wir müssten auf diese Weise die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen und der Wettbewerbsfähigkeit langsam reduzieren.
  • Wir müssten den Einfluss der Spekulanten auf die Staatsfinanzierung gegen Null bringen. Deren Förderer ist übrigens die deutsche Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel an der Spitze. Die Verschärfung der Stabilitätsregeln dient vor allem dem Zweck, diese Herrschaften zu beruhigen und bei Laune zu halten. Statt dessen sollte man ihnen das Handwerk legen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben einer neuen Politik der Förderung des europäischen Zusammenwachsens.

Wie irrsinnig die Sorge der deutschen Bundeskanzlerin um das Sparen bei uns und bei andern Völkern ist, können Sie auch daran erkennen, dass quantitativ mögliche Sparerfolge in keinerlei Relation zu der Großzügigkeit der Rettungspakete steht, die für die Banken bereitgestellt wurden und werden. Mit einem „gigantischen Sparpaket“ von 80 Milliarden bis zum Jahr 2014, so verkündete die Bundesregierung im Juni soll Deutschland aus der „Schuldenkrise“ kommen. 80 Milliarden. Das klingt gut, selbst wenn es gestreckt ist über drei Jahre. Aber es klingt eben überhaupt nicht gut, wenn man weiß, dass die Bundesregierung alleine im Jahr 2008 und 2009 98 Milliarden für die Rettung von Banken ausgegeben hat.
Diese Zahl – 98 Milliarden in zwei Jahren für die Banken und weitere vermutlich hunderte Milliarden für die Rettung dieser Spekulanten – zeigt deutlich, dass der gesamte Sparkurs der Bundesregierung Schall und Rauch ist. Es ist nicht ernst gemeint. Es wird spekuliert darauf, dass die Mehrheit des Volkes und auch die Multiplikatoren die Relationen nicht kennen.

Der Irrsinn ist nicht beschränkt auf das Thema Sparen und Stabilisierung des Euroraums. Es gilt auch für Stuttgart 21 und für den Umgang mit der Kernenergie und den Umgang mit den zugewanderten Menschen und so weiter. Überall Zynismus und Unsachlichkeit und Meinungsmache.

Anlage:
26. Oktober 2010, 17:07 Uhr
Euro-Stabilität
Merkels Schuldenplan verärgert Europa
Von Christoph Schult und Hans-Jürgen Schlamp, Brüssel
So viel Streit war selten in der EU, und Deutschland trägt mit Schuld daran: Gemeinsam mit Frankreich hat Angela Merkel neue Schuldenregeln für Europa vorgeschlagen – doch andere Staaten rebellieren. Der Brüsseler Gipfel am Ende der Woche droht zu scheitern, die Sicherung des Euro gerät aus dem Blick.

Quelle: Spiegel


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