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Titel: Wie autokratische Schulleiter die innerschulische Demokratie aushebeln können

Datum: 1. Juni 2021 um 13:02 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Erosion der Demokratie
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Schulen sind in Deutschland in einem gewissen Rahmen demokratisch verfasst, Mitglieder einer Schulgemeinschaft, also Lehrer, Schüler und deren Eltern, können über bestimmte Angelegenheiten ihrer Schule demokratisch mitentscheiden. Die Frage ist, ob und inwieweit dieser Rahmen in der Praxis mit Leben gefüllt wird — oder ob und inwieweit gewisse Kräfte in einer Schule diesen Partizipationsrechten entgegenwirken und die innerschulische Demokratie stören oder gar zerstören. Von Alexander Roentgen.

Zur Demokratie in Deutschland mit all ihren Stärken und Schwächen gehört es, dass gewählte Volksvertreter in gewissen Gremien zusammenkommen, sei es im Bundestag, in Landtagen oder Stadträten. Dort wird über Anträge (zum Beispiel Entwürfe von Gesetzen, Haushaltsplänen, Resolutionen) beraten und entschieden. Es ist nicht unwichtig und es muss geregelt sein, wer berechtigt ist, Anträge an das jeweilige Gremium zu stellen. In der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages heißt es (§§ 20 (4), 76 (1)):

Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages müssen auf Verlangen der Antragsteller auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt und beraten werden, wenn seit der Verteilung der Drucksache (§ 123) mindestens drei Wochen vergangen sind. […] Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages (§ 75) müssen von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein, es sei denn, daß die Geschäftsordnung etwas anderes vorschreibt oder zuläßt.

Gemäß Geschäftsordnung des Landtags Nordrhein-Westfalen (§ 70 (1)) darf jeder Abgeordnete Anträge stellen:

Jedes Mitglied des Landtags, jede Fraktion und jede Gruppe hat das Recht, Anträge zu stellen. Gesetzentwürfe müssen von mindestens sieben Mitgliedern des Landtags unterzeichnet sein.

Die Gemeindeordnung NRW sieht vor (§ 48 (1)):

Der Bürgermeister setzt die Tagesordnung fest. Er hat dabei Vorschläge aufzunehmen, die ihm innerhalb einer in der Geschäftsordnung zu bestimmenden Frist von einem Fünftel der Ratsmitglieder oder einer Fraktion vorgelegt werden.

Die Demokratie würde ausgehebelt und wäre erledigt, wenn gegen diese elementaren Rechte und Regeln verstoßen würde — zum Beispiel, wenn der Bundestagspräsident willkürlich nur Anträge einer ihm genehmen Fraktion auf die Tagesordnung aufnehmen würde.

Was für den Bundestag, Landesparlamente und Gemeinderäte gilt, gilt entsprechend für Mitwirkungsgremien von Schulen. Schulen sind in Deutschland in einem gewissen Rahmen demokratisch verfasst. Das Schulgesetz Nordrhein-Westfalen sieht unter anderem folgende Mitwirkungsgremien vor:

  • Die Schulkonferenz: Sie ist das oberste beschlussgebende Gremium einer Schule und entscheidet zum Beispiel über das Schulprogramm, Maßnahmen der Qualitätssicherung und Grundsätze zum Umgang mit allgemeinen Erziehungsschwierigkeiten (§ 65). An weiterführenden Schulen wie Gymnasien und Gesamtschulen setzt sie sich zu jeweils einem Drittel aus Lehrern, Schülern und Eltern zusammen (§ 66).
  • Die Lehrerkonferenz: Sie besteht aus den Lehrern sowie dem pädagogischen und sozialpädagogischen Personal. Sie “berät über alle wichtigen Angelegenheiten der Schule” (§ 68). Sie entscheidet im Wesentlichen über Angelegenheiten, die ausschließlich oder überwiegend die Lehrer und das pädagogische und sozialpädagogische Personal betreffen.
  • Den Schülerrat: Er besteht aus allen Klassen- und Jahrgangsstufensprechern. Er “vertritt alle Schülerinnen und Schüler der Schule” (§ 74).
  • Die Schulpflegschaft: Sie “vertritt die Interessen der Eltern bei der Gestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule. Sie berät über alle wichtigen Angelegenheiten der Schule” (§ 72).

All diese Mitwirkungsgremien “können im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu allen Angelegenheiten der Schule Stellungnahmen abgeben und Vorschläge machen” (§ 62). Stimmberechtigt sind die Mitglieder all dieser Mitwirkungsgremien; “auch die Mitglieder mit beratender Stimme können Anträge stellen” (§ 63). Sowohl die Lehrerkonferenz als auch die Schulpflegschaft als auch der Schülerrat können Anträge an die Schulkonferenz richten (§§ 68, 72, 74).

Dieser — am Beispiel von NRW in aller Kürze skizzierte — rechtliche Rahmen erlaubt, dass die Mitglieder einer Schulgemeinschaft, also Lehrer, Schüler und deren Eltern, über bestimmte Angelegenheiten ihrer Schule demokratisch entscheiden.

Die Frage ist, ob und inwieweit dieser Rahmen in der Praxis mit Leben gefüllt wird — oder ob und inwieweit gewisse Kräfte in einer Schule diesen Partizipationsrechten entgegenwirken und die innerschulische Demokratie stören oder gar zerstören: Welche und wie viele Anträge stellen einzelne Lehrer an die Lehrerkonferenz? Welche und wie viele Anträge stellen die Eltern-, Schüler- und Lehrervertreter an die Schulkonferenz? Ergreifen sie die Initiative oder nehmen sie eine eher passive Haltung ein, die sich darauf beschränkt, über Vorschläge der Schulleitung zu beraten und abzustimmen? Wie geht ein Schulleiter, der sowohl der Vorsitzende der Lehrer- als auch der Schulkonferenz ist, mit Anträgen um?

Im Artikel “Gremienarbeit — erfolgsversprechendes Führungsinstrument?” (friedrich-verlag.de) schreibt Cornelia Hörsting:

“Der Umgang mit den schulischen Gremien ist unabhängig von den rechtlichen Rahmenbedingungen aber auch eine Frage des individuellen Führungsverständnisses. Verstehe ich mein Handeln als eher partizipativ oder gar demokratisch, so ist eine möglichst weitreichende Mitbestimmung der Gremien nicht nur selbstverständlich, sondern auch gewünscht. In diesem Fall werde ich die Prozesse — soweit möglich — ergebnisoffen und mit großer Transparenz steuern oder auch nur begleiten. Darüber hinaus werde ich auch in informellen Gremien den Gedankenaustausch zulassen oder unterstützen.

Leite ich eher autoritär oder autokratisch, werde ich die Prozesse im Kontext der Gremienarbeit enger steuern und Mitbestimmung oder Mitwirkung auf das gesetzlich geregelte Minimum beschränken.“

Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass ein Schulleiter mit einem fragwürdigen Führungsstil sich nicht auf das ‚gesetzlich geregelte Minimum’ beschränkt, sondern seine Grenzen überschreitet und die Rechte von schulischen Mitwirkungsgremien oder ihrer Mitglieder verletzt.

Gelegentlich wird in der Presse über Querelen mit Schulleitern berichtet (siehe zum Beispiel “Protest gegen Schulleiter: Elternvertreter geben Amt auf und machen Probleme am MCG publik” und “Lehrer fordern sofortige Absetzung Gosemanns”). Dass ein Schulleiter gegen elementare demokratische Spielregeln verstößt und Partizipationsrechte anderer verletzt, solche Fälle sind nur rar dokumentiert. In der „Berliner Morgenpost“ (“Wer bestimmt über die Tagesordnung der Schulkonferenz”) schilderte 2011 die Mutter einer Schülerin:

„In der Sekundarschule meiner Tochter bin ich Elternvertreterin und Mitglied der Schulkonferenz. Zur letzten Sitzung hatte ich rechtzeitig zwei Anträge gestellt, der Direktor hat diese aber aus Zeitgründen nicht behandeln lassen.“

Und fragte:

„Hat die Schulleitung das Recht, einzelne Themen abzulehnen, und was kann ich dagegen unternehmen?“

Ein Mitglied vom Landeselternausschuss Berlin antwortete:

„Die Behandlung der Themen oder Anträge und deren Reihenfolge stehen nicht im Belieben der Schulleitung. Nach dem Auftrag des Schulgesetzes kann die Schulkonferenz über alle wichtigen Angelegenheiten der Schule beraten. […] Im anhaltenden Streitfall ist die Schulaufsicht die nächste Entscheidungsinstanz.“

Die Aufsichtsbehörden entscheiden allerdings nicht immer im Sinne der gesetzlich festgelegten demokratischen Prinzipien. Wie aus einem Gerichtsurteil hervorgeht, beantragten ein paar Lehrer an einer Schule in Baden-Württemberg im Jahre 2008, fünf bestimmte Gegenstände zur Beratung auf die Tagesordnung der Gesamtlehrerkonferenz aufzunehmen. Der Schulleiter weigerte sich. Die Lehrer reichten Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Das zuständige Regierungspräsidium wies die Beschwerde zurück. Die Lehrer zogen vor das Verwaltungsgericht Freiburg im Breisgau; dieses gab ihnen in zwei von fünf Punkten recht. Im Leitsatz des Urteils vom 21.4.2010 (Aktenzeichen 2 K 1359/09) heißt es:

„Der Schulleiter ist grundsätzlich dazu verpflichtet, den formellen Erfordernissen des § 12 Abs. 7 SchulG BW entsprechenden Anträgen auf Aufnahme in die Tagesordnung nachzukommen; etwas anderes gilt nur dann, wenn der Gesamtlehrerkonferenz bereits keine Befassungskompetenz für diesen Tagesordnungspunkt zusteht.“

In der Begründung des Urteils ist ferner zu lesen:

„Die Möglichkeit (und Verpflichtung) des Schulleiters, Anträge zur Tagesordnung abzulehnen, ist allerdings beschränkt auf solche Anträge, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in die Zuständigkeit der Gesamtlehrerkonferenz fallen. Der Schulleiter ist nämlich kein präventives Kontrollorgan für Beschlüsse der Gesamtlehrerkonferenz in dem Sinne, dass es ihm zustünde, bei einem nur möglichen Verstoß der zur Beratung und Abstimmung anstehenden Beschlüsse gegen Rechtsvorschriften ihre Behandlung in der Gesamtlehrerkonferenz zu verhindern.”

Ein Schulleiter ist folglich kein Alleinherrscher, der mit Anträgen der Mitwirkungsgremien willkürlich umgehen kann. Wie wichtig es ist, die Demokratie in einer Schule zu verwirklichen, darauf weist die Kultusministerkonferenz sehr deutlich hin. In ihrer bemerkenswerten Stellungnahme “Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule” (Fassung vom 11.10.2018) schreibt sie:

„Eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie musste und muss immer wieder erlernt, erkämpft, gelebt und verteidigt werden. Demokratie braucht überzeugte und engagierte Demokratinnen und Demokraten. […]

Schule muss ein Ort sein, an dem demokratische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt, vorgelebt und gelernt werden. […]

Eine demokratische Schul- und Unterrichtsentwicklung manifestiert sich […] in der Schulorganisation z. B. im Entwicklungsgrad von Mitwirkungsgremien […], in der aktiven demokratiefördernden Einstellung der Lehr- und Fachkräfte, im Führungsstil der Schulleitung […].“

Umgekehrt formuliert: Ein autokratischer Schulleiter, der die Rechte von schulischen Mitwirkungsgremien oder ihrer Mitglieder missachtet, handelt nicht nur rechtswidrig, sondern in hohem Maße antidemokratisch. Wenn die Schulaufsicht einem solchen Treiben nicht Einhalt gebietet, sondern es sogar noch rechtfertigt und wenn es im Lehrerkollegium nicht genügend überzeugte, engagierte und wehrhafte Demokraten gibt, ist die Demokratie an einer Schule erledigt.

Alexander Roentgen ist Diplom-Mathematiker und Lehrer in Nordrhein-Westfalen. Er gibt seit 2014 den Blog “Schule intakt” heraus.


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