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Titel: Von der „Afghanisierung“ des Krieges

Datum: 2. Juli 2021 um 14:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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Was hat die NATO in den letzten zwanzig Jahren in Afghanistan erreicht? Die Antwort ist bitter: Praktisch nichts. Das Scheitern der Militärintervention war vorhersehbar. Realistische Szenarien nach dem Abzug der internationalen Truppen sind es ebenso. Der Krieg wird fortgeführt werden – auf Schultern der Afghanen. Von Emran Feroz.

Nach zwei Jahrzehnten soll der längste Krieg der amerikanischen Geschichte beendet werden. Vor wenigen Wochen verkündete Joe Biden den vollständigen Abzug seiner Truppen aus Afghanistan. Als Stichtag nannte er ein symbolträchtiges Datum, den 11. September 2021. Nun wurde bekannt, dass die rund 3.500 verbliebenen Truppen – die genaue Anzahl ist aufgrund der Intransparenz des Pentagons praktisch unbekannt – bereits im Juli abziehen sollen.

Ein Ende des Krieges am Hindukusch ist allerdings nicht in Sicht. Trotz des US-Taliban-Deals, der im Frühling 2020 im Golfemirat Katar unterzeichnet wurde, haben sich die Kampfhandlungen sogar intensiviert. Während sich die internationalen Truppen aus den meisten Gefechten heraushalten, ist eine zunehmende „Afghanisierung“ des Krieges zu beobachten, sprich, Afghanen töten Afghanen. Allein den letzten Wochen wurden Hunderte Sicherheitskräfte sowie Taliban-Kämpfer bei Gefechten getötet. Doch wie gewohnt, sind die meisten Opfer Zivilisten. Laut den Vereinten Nationen wurden zwischen Januar und März 2021 mindestens 1.783 afghanische Zivilisten getötet oder verletzt.

Währenddessen liefen die innerafghanischen Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung von Präsident Ashraf Ghani alles andere als erfolgreich ab. Ein Grund hierfür ist auch der nahezu vollkommene Ausschluss der afghanischen Zivilgesellschaft sowie Menschen- oder Frauenrechtlern. Stattdessen sind es Taliban-Führer, Warlords oder korrupte Politiker, die in erster Linie ihren Egos freien Lauf lassen. Warum es zu solchen Zuständen überhaupt erst gekommen ist, darf nicht vergessen werden. Immerhin war es die westliche Staatengemeinschaft, die im Laufe ihrer „Demokratisierungsmission“ viele der genannten Akteure hofiert hat. Offensichtlich ist auch, dass viele dieser fragwürdigen Akteure bereits nach anderen Unterstützern Ausschau halten.

Der westliche Rückzug bedeutet nämlich kein Ende der ausländischen Einmischung. Andere Staaten, die schon bereitstehen und das Vakuum füllen wollen, sind China, Iran, Pakistan und Indien. Auch andere Staaten wie die Türkei treten nun mehr in den Vordergrund. Vor wenigen Tagen wurde etwa bekannt, dass die NATO nach ihrem Abzug die Verantwortung für den Kabuler Flughafen Ankara übergeben will. Da es sich allerdings bei der Türkei um einen NATO-Mitgliedsstaat handelt, befände sich der Flughafen nach dem Abzug weiterhin mehr oder weniger in den Händen des Militärbündnisses.

Umso vorhersehbarer ist eine Fortführung des „längsten Krieges“, der für viele Afghanen ohnehin nur die eine Seite der Medaille darstellt. In Afghanistan herrscht nämlich nicht „erst“ seit zwanzig Jahren Krieg, sondern seit vier Jahrzehnten. Ein Rückblick in die Vergangenheit könnte auch verdeutlichen, welche Szenarien nach dem Abzug eintreten könnten. 1989 verließ der letzte sowjetische Soldat Afghanistan. Die kommunistische Diktatur von Mohammad Najibullah in Kabul konnte sich allerdings drei weitere Jahre halten. Sowjetische Militär- und Geheimdienstberater verblieben in Kabul, während regierungsfreundliche Milizen zunehmend an Einfluss gewannen. Gestürzt wurde die Regierung erst, nachdem der Geldfluss aus Moskau gestoppt wurde und die Mudschaheddin-Rebellen daraufhin die Hauptstadt erobern konnten.

Dass Washington seine Verbündeten in Kabul vollkommen fallenlassen wird, ist unwahrscheinlich. Weiteres Kriegsgerät, darunter etwa bewaffnete Drohnen, sollen eine Einnahme Kabuls durch die Taliban verhindern. Hierfür sollen einigen Berichten zufolge auch Hunderte von weiteren ausländischen Truppen zuständig sein. Sie sollen nach dem Abzug in der Hauptstadt verbleiben, um etwa ausländische Botschaften zu sichern. Präsent sind auch Söldner, afghanische CIA-Milizen und anderweitiges „Sicherheitspersonal“, das in diesen Tagen rekrutiert wird. Dass die westlichen Botschaften sich nicht mehr sicher fühlen, wurde erst vor Kurzem abermals deutlich. Die australische Botschaft wird demnächst nämlich ihre Pforten schließen und abziehen. Die Taliban reagierten auf die Nachricht und garantieren einen „sicheren Abzug“. Währenddessen müssen die meisten Afghanen weiterhin durch den Krieg leiden.

Vormerken: Am 30. August erscheint Emran Feroz´ neues Buch „Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror“ im Westend Verlag.

Titelbild: RedhoodStudios/shutterstock.com


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