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Titel: Putin: „Wir lassen kein Anti-Russland in der Ukraine zu“

Datum: 19. Juli 2021 um 10:02 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte
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In einem Grundsatzartikel erklärte der russische Präsident, Russen, Ukrainer und Weißrussen seien ein Volk, denn sie hätten eine gemeinsame Sprache, Religion und Geschichte. Putin erklärte, er werde es niemals zulassen, dass die Russischstämmigen in der Ukraine gegen Russland eingesetzt werden. Die deutschen Medien sticheln und werfen dem Kreml-Chef Großmachtambitionen vor. Von Ulrich Heyden, Moskau.

Die Aussage, Russen, Ukrainer und Weißrussen seien ein Volk, ist der Grundgedanke eines Grundsatzartikels, den der russische Präsident am 12. Juli auf der Website des Kreml in russischer, ukrainischer und englischer Sprache veröffentlichte. Der Artikel trägt die Überschrift „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“.

„Russen und Ukrainer sind ein Volk“. Diese Aussage von Wladimir Putin empört die großen deutschen Medien. ´Wie kann er sich nur erdreisten´, so der Unterton der deutschen Kommentatoren und Russland-Experten.

Der russische Präsident stelle die Souveränität der Ukraine in Frage. Der bekannte Schweizer Historiker Andreas Kappeler erklärte gegenüber der Deutschen Welle, Putins Aussagen seien nicht völlig neu. Er habe sich aber „radikalisiert“. Der Kreml-Chef drohe „mehrfach mit einem Eingreifen Russlands in der Ukraine, was er dann historisch und anderweitig legitimieren will“.

Eine letzte Warnung

Tatsächlich liest sich Putins langer, analytischer Artikel wie eine letzte intellektuelle Warnung an den Westen, die roten Linien in der Ukraine nicht zu überschreiten, und wie eine Aufforderung, die aggressive ukrainische Regierung zu zügeln. Mit militärischen Mitteln droht der russische Präsident nicht direkt. Allerdings muss man damit rechnen, dass Russland militärische Gewalt anwenden wird, wenn zum Beispiel die Menschen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk weiter beschossen werden. Putin kritisiert, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit verloren habe. Die Nato und westliche Staaten hätten faktisch die Kontrolle über die Ukraine übernommen. Putin weiter:

„Die Ukraine wird Schritt um Schritt in ein gefährliches Spiel gezogen. Das Ziel ist es, die Ukraine zu einer Barriere zwischen Europa und Russland und einen Aufmarschplatz gegen Russland zu machen.“

Für Millionen Menschen in der Ukraine sei die Politik, aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ zu machen, „nicht hinnehmbar“, schreibt der Kreml-Chef. Und weiter:

„Echte Patrioten in der Ukraine sind heute nur noch die, welche Russland hassen (…) Wir werden es niemals zulassen, dass unser historisches Territorium und die auf diesem Territorium uns nahestehenden Menschen gegen Russland eingesetzt werden.“

Zwangsassimilierung der Russen in der Ukraine

In der Ukraine vergeht kein Quartal, in dem nicht neue Maßnahmen gegen russische Kultur und Sprache beschlossen werden. Vor kurzem wurde auf Initiative von Präsident Wolodymir Selenski in der Rada ein „Gesetz über die indigene Bevölkerung“ verabschiedet. Zur indigenen Bevölkerung gehören nun nur noch Bevölkerungsgruppen in der Ukraine, die über keinen Staat außerhalb der Ukraine verfügen. Russen, Rumänen, Polen und Ungarn gehören jetzt ganz offiziell nicht mehr zur „eingesessenen Bevölkerung“, selbst wenn ihre Vorfahren über Jahrhunderte in der Ukraine lebten. Putin dazu:

„Der Kurs der zwangsweisen Assimilierung zur Formierung eines ethnisch reinen ukrainischen Staates ist vergleichbar mit der Anwendung einer Massenvernichtungswaffe gegen uns. Im Resultat dieser groben, künstlichen Trennung zwischen Russen und Ukrainern wird sich die Gesamtzahl des russischen Volkes um Hunderttausende, wenn nicht um Millionen verringern.“

Bereits in den letzten Jahren wurden einschneidende Gesetze und Anordnungen gegen die russische Sprache und Kultur erlassen. Anfang des Jahres trat ein Sprachengesetz in Kraft, das die Bürger verpflichtet, in der Öffentlichkeit nur noch Ukrainisch zu sprechen. Aus dem Unterrichtsprogramm an den Schulen ist die russische Sprache fast verschwunden. Die Tätigkeit der russisch-orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat wird massiv eingeschränkt.

Selenski-Berater: „Russische Elite hat Angst vor der Ukraine“

Ukrainische Politologen bezeichneten den Aufsatz von Putin als „Geschichtsfälschung“ mit „manipulierten Fakten“. Der Berater des ukrainischen Präsidenten, Michail Podoljak, schrieb im oppositionellen russischen Internet-Portal „Insider“, die Ukraine und Russland seien „zwei sich fremde Länder, welche die Geschichte und den eigenen Platz in der Geschichte völlig unterschiedlich bewerten.“ Es sei nichts Neues, dass die russische Führung „historische Klischees benutzt, die schon von der sowjetischen Macht verbreitet wurden.“ Die russische Elite würde nicht verstehen, was die Ukraine eigentlich ist. Und dieses Unverständnis führe bei der russischen Elite „zu Angst, Aggression und kriegerischen Handlungen.“

Unberücksichtigt bei ukrainischen Politologen und westlichen Kommentatoren bleiben Textpassagen in dem Putin-Artikel, die nicht in das Gruselbild vom „aggressiven Russland“ passen. Zur 1991 getroffenen Entscheidung der Ukraine, aus der Sowjetunion auszuscheiden, schreibt der Kreml-Chef:

„Alles ändert sich. Auch Länder und Gesellschaften. Und natürlich kann sich ein Teil eines Volkes im Laufe seiner Entwicklung – wegen einer Reihe von Gründen und historischen Umständen – in einem bestimmten Moment als eigene Nation empfinden und sich dessen bewusst werden. Was ich davon halte? Die Antwort kann nur sein: Mein Respekt. Wollen sie einen eigenen Staat gründen? Bitte!“

„Kiewer Rus“ – der größte Staat in Europa im 9. Jahrhundert

Putin beschreibt in seiner historischen Analyse, dass die drei ostslawischen Völker, Russen, Ukrainer und Weißrussen, eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Glauben haben. Es gab in dieser gemeinsamen Geschichte zwar viele Zerwürfnisse, insgesamt sei das Verhältnis der drei Völker aber von Ausgleich und gegenseitiger Hilfe bestimmt gewesen.

Das 862 nach Christi gegründete Fürstentum „Kiewer Rus“, welches 988 nach Christi von Fürst Wladimir christianisiert wurde, war zu seiner Zeit „der größte Staat in Europa“, schreibt Putin. Der Staat reichte vom Ladoga-See im Norden über Weliki Nowgorod und Moskau bis nach Kiew. Im Westen reichte der Staat von den Karpaten und Minsk bis nach Nischni-Nowgorod.

In diesem Staat waren „Ost-Slawen und andere Völker“ verbunden, schreibt der Kreml-Chef. Geleitet wurde der Staat von der Rjurik-Dynastie. Das Kiewer Rus zerfiel später wieder, aber im 17. Jahrhundert kam es erneut zu einer größeren Verbindung zwischen den Ost-Slawen.

Im Jahre 1653 baten die ukrainischen Kosaken um den Schutz des Zaren

Als Antwort auf die Polonisierung und Ausbreitung des katholischen Glaubens „bildete sich im16./17. Jahrhundert eine Befreiungsbewegung der Bevölkerung in der Dnjepr-Region.“ 1653 unterstellten sich die ukrainischen Kosaken unter Kosaken-Führer Bogdan Chmelnizki dem Schutz Moskaus. Von da an gehörte das zentrale Gebiet der heutigen Ukraine unter dem Namen „Klein-Russland“ zum russischen Imperium. Das Wort Ukraine – „am Rande gelegen“ – war zunächst nur eine geographische Bezeichnung.

Der südliche Teil der heutigen Ukraine gehörte bis zum russisch-türkischen Krieg 1774 zum Gebiet des tatarischen Krim-Khanats und des osmanischen Imperiums. Die Ukrainer – damals „Klein-Russen“ – leisteten ihren Beitrag zum Aufbau des russischen Imperiums, so Putin:

„Die Kleinrussen waren in vielem an der Schaffung eines gemeinsamen, großen Landes, an der Staatlichkeit, der Kultur und Wissenschaft beteiligt. Sie beteiligten sich an der Gewinnung und Entwicklung des Ural, Sibiriens, des Kaukasus und des Fernen Ostens. Übrigens hatten in der Sowjetzeit Ukrainer wichtigste Posten, auch höchste Ämter, in dem gemeinsamen Staat.“ Als Beispiele nennt Putin die KPdSU-Generalsekretäre Chruschtschow und Breschnew, „deren Partei-Tätigkeit mit der Ukraine eng verbunden war.“

1918, als die Deutschen die Ukraine okkupierten

In seinem Artikel zieht der russische Präsident eine Parallele zwischen der heutigen Zeit und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Ukraine sich 1918 als unabhängig von Russland erklärte:

„Die deklarierte Unabhängigkeit dauerte nicht lange. Einige Wochen später unterschrieb die Delegation der Rada einen separaten Vertrag mit den Ländern des deutschen Blocks. Weil sie sich in einer schwierigen Lage befanden, brauchten Deutschland und Österreich-Ungarn ukrainisches Brot und Rohstoffe. Um die großen Lieferungen sicherzustellen, erreichten sie, dass sie ihre Truppen und technisches Personal in die Ukrainische Volksrepublik schicken konnten. Faktisch nutzten sie das für eine Okkupation.“

„Lenin legte eine Zeitbombe“

Zur Politik von Lenin hat Putin ein äußerst kritisches Verhältnis. Den Gründer der Sowjetunion bezichtigt Putin des „nationalen Liberalismus“. Denn Lenin habe durchgesetzt, dass die Sowjetrepubliken das Recht haben, jederzeit aus der Staaten-Union auszutreten.

Stalin dagegen wird von Putin gelobt, da Stalin versucht habe, alle Staaten, die zum russischen Imperium gehörten – wie die Ukraine und die Staaten im Kaukasus und Mittelasien – in Russland mit Autonomierechten zu integrieren. Doch bei der Gründung der Sowjetunion im Jahre 1924 konnte sich Stalin nicht durchsetzen. Das sei verhängnisvoll gewesen, so der Kreml-Chef:

„Auf diese Weise wurde in unserem Staat eine gefährliche ´Bombe mit verzögerter Wirkung´ gelegt. Sie explodierte, als es mit der führenden Rolle der KPdSU, die sich auflöste, keinen Sicherheits- und vorbeugenden Mechanismus mehr gab. Es begann die ´Parade der souveränen Staaten´.“

Positiv bezieht sich Putin auf die Vertreter der antibolschewistischen, zaristischen Opposition, die sogenannten „Weißen“:

„Die Führer der weißen Bewegung traten für ein ungeteiltes Russland ein. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass viele Republiken, welche die Anhänger der Bolschewiken außerhalb Russlands gründeten, außerhalb Russlands liegen sollten.“

Lenin hatte in den 1920er Jahren durchgesetzt, dass man die 150 Nationalitäten der Sowjetunion bei der Entwicklung ihrer Kultur und Sprache unterstützen muss. Nur so lasse sich ein gemeinsamer Staat aufbauen. Viele sibirische und kaukasische Völker erhielten so das erste Mal ein Alphabet und Wörterbücher.

Zur sowjetischen Ukrainisierungspolitik der 1920er und 1930er Jahre äußert sich Putin skeptisch bis ablehnend. Der Kreml-Chef erkennt an, dass die Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren mit ihrer Politik der Förderung der nationalen Kulturen viel „zur Stärkung der ukrainischen Kultur, Sprache und Identität beigetragen hat“. Allerdings sei damals die Ukrainisierung „gegen den großrussischen Chauvinismus teilweise auch denen aufgezwängt worden, die sich nicht als Ukrainer bezeichneten.“

Die Bolschewiken seien mit ihrer Politik der Ukrainisierung zu weit gegangen, meint Putin. Als Beispiel bringt der Kreml-Chef die 1918 im südrussischen Zentrum der Schwerindustrie von russischen Bolschewisten gegründete Donezk-Kriwoj Rog-Republik, welche sich eigentlich Sowjet-Russland anschließen wollte.

Lenin überzeugte die Anhänger der Donezk-Kriwoj Rog-Republik, in der damals sieben Millionen Menschen lebten, allerdings davon, dass es besser sei, eine „sowjetische Ukraine“ zu bilden. Dahinter stand vermutlich die Absicht von Lenin, einer sowjetischen Ukraine ein stabiles ökonomisches Fundament, aber auch eine enge ökonomische und sprachliche Anbindung an Sowjet-Russland zu verschaffen.

Dass Putin die damalige Donezk-Kriwoj Rog-Republik in seinem Text so ausführlich erwähnt, hat wohl auch damit zu tun, dass der Kreml-Chef begründen will, dass die heutigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in denen vorwiegend Russisch gesprochen wird, historisch nicht zur Ukraine gehören und Russland historische Gründe hat, die Menschen in diesem Gebiet zu schützen.

„Ukraine ein Kind der Sowjetunion“

Der Kreml-Chef erklärte unter Bezugnahme auf seinen früheren Chef, den Juristen und Bürgermeister von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak, bei der Auflösung der Sowjetunion hätten die Staaten der Sowjetunion, die während der Sowjetzeit Gebiete dazugewonnen haben, diese 1991 eigentlich zurückgeben müssen, nach dem Motto, „verlasst die Sowjetunion mit dem Territorium, mit dem ihr der UdSSR beigetreten seid.“

Die Ukraine, die sich 1991 aus der Sowjetunion löste, sei flächenmäßig wesentlich größer gewesen als die Ukraine, die 1922 an der Gründung der Sowjetunion beteiligt war, und hätte eigentlich 1991 die in der Zeit der Sowjetunion dazugewonnenen Gebiete abtreten müssen. Zu den Gebieten, welche die Ukraine nach 1922 dazugewann, gehört die Donezk-Kriwoj Rog-Republik, das Schwerindustriezentrum Russlands und später der Sowjetunion, die Krim, die Chruschtschow der Ukraine 1954 „schenkte“ und das polnische Gebiet um die Stadt Lviv, das in Folge des „Hitler-Stalin-Paktes“ Teil der Sowjetunion wurde.

Rückgang des Maschinenbaus um 42 Prozent

Die Adressaten seines Artikels sieht Putin wohl nicht nur in den Führern der westlichen Staaten, denen er „rote Linien“ aufzeigen will, sondern auch in der Bevölkerung der Ukraine, die er versucht, daran zu erinnern, dass es den Menschen in der Ukraine vor der Maidan-Revolte besser ging. Die Produktion des Maschinenbaus in der Ukraine sei um 42 Prozent und die Stromproduktion um die Hälfte gesunken. Putin weiter:

„Nach Angaben des IWF lag der Pro-Kopf-Anteil am Bruttoinlandsprodukt in der Ukraine 2019, also noch vor der Corona-Epidemie, bei 4.000 Dollar. Das ist niedriger als Albanien, die Republik Moldau und der nichtanerkannte Kosovo. Die Ukraine ist heute das ärmste Land Europas.“

Man muss nicht mit allen Positionen von Putin übereinstimmen. Doch bei nüchterner Betrachtung sind seine Positionen der Realität wesentlich näher als die Positionen der ukrainischen Führung.

Titelbild: Nikolay Androsov / Shutterstock


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