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Titel: Medizin, die Leiden verlängert

Datum: 4. Februar 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik
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Im internationalen Vergleich liegt die Krankenhaussterblichkeit bei Covid-19-Behandlungen in Deutschland deutlich über dem internationalen Durchschnitt. Verantwortlich dafür ist der hierzulande vergleichsweise häufige Einsatz des anspruchsvollen ECMO-Verfahrens. Jüngere Untersuchungen ergaben nun, dass ECMO viel zu häufig auch bei Patienten eingesetzt wird, deren Prognose aussichtslos ist – dass ist die vielzitierte inhumane Apparatemedizin. Mitverantwortlich sind wirtschaftliche Fehlanreize für die Krankenhäuser. Jörg Phil Friedrich ist dem Thema und den damit verbundenen Fragen für die NachDenkSeiten nachgegangen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es sind keine Außenseiter, keine Vertreter von wissenschaftlichen Randmeinungen, die vor einer Woche im Deutschen Ärzteblatt einen Artikel veröffentlicht haben, der eigentlich zu einem Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit hätte führen müssen. Der wohl bekannteste Autor ist Christian Karagiannidis, Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Wie er sind auch die anderen Autoren Klinikdirektoren in Universitätskrankenhäusern. Dennoch fand ihr Aufsatz mit dem Titel „ECMO-Einsatz bei COVID-19: Hohe Sterblichkeit in der Klinik“ kaum Aufmerksamkeit in den Medien, die Google-News-Suche liefert bis heute, neben dem Link auf die Publikation selbst, gerade mal einen Zeitungsbericht.

Worum geht es? ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) ist ein technisches Verfahren, bei welchem dem Patienten pro Minute ca. 3-5 Liter Blut aus den Venen abgeführt wird. An einer Membran wird diesem Blut dann Kohlendioxid entzogen, zugleich wird Sauerstoff zugeführt. Das Blut wird dann in die Vene zurückgeführt. Somit muss die Versorgung mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff nicht mehr über die Atmung und die Lunge erfolgen.

Das Verfahren ist kompliziert und anspruchsvoll, es erfordert große Erfahrung, Expertise und Routine beim Personal. Die entsprechende Richtlinie empfiehlt, dass in einem Krankenhaus wenigstens 20 Behandlungen dieser Art pro Jahr durchgeführt werden sollen, damit die Expertise aufgebaut und erhalten werden kann.

Was den Autoren Sorgen macht, ist die hohe Sterblichkeit von COVID-19-Patienten, die mit ECMO behandelt werden. In Deutschland gibt es zwei Studien dazu, die im Wesentlichen von den gleichen Autoren erstellt worden sind, die auch den aktuellen Aufsatz veröffentlicht haben: eine AOK-Studie über die Verläufe bei 768 Patienten ermittelte eine Sterblichkeit von 73 Prozent. Eine weitere Studie, die 3.397 Fälle analysierte, kam auf eine Sterblichkeit von 68 Prozent. Die Sterblichkeit älterer Patienten war besonders hoch, lag sie bei 18- bis 49-Jährigen noch bei gut 50%, starben bei den über 69-Jährigen 88% der Patienten innerhalb eines Vierteljahres nach Beginn der ECMO-Behandlung.

Besonders bedenklich ist: „Die Ergebnisse in Deutschland sind im internationalen Vergleich deutlich schlechter“, wie die Autoren feststellen. In einer internationalen Metaanalyse „zum Effekt des ECMO-Einsatzes bei schwerer SARS-CoV-2-Erkrankung“ wurde eine Krankenhaussterblichkeitsrate von 35,7 Prozent ermittelt, eine andere Studie ergab eine Krankenhaussterblichkeit von 51,9 Prozent. Allerdings sind die Patienten in Deutschland im Schnitt um sechs Jahre älter als im internationalen Durchschnitt – eine mögliche Teil-Erklärung für den Unterschied, zugleich aber auch ein Hinweis auf das Problem.

Wie erklären die Autoren die Tatsache, dass der „Einsatz eines modernen Organersatzverfahrens, das international evidenzbasiert als Instrument zur Behandlung des schweren hypoxämischen Lungenversagens angesehen wird“ in Deutschland während der Pandemie „das Ziel einer Verbesserung der Überlebensrate der lebensbedrohlich erkrankten Patienten nicht erreicht“ hat?

Ohne Umschweife nennen sie „Fehlanreize durch die ‚Verführung‘ zu technisch realisierbaren Leistungen auf der einen Seite und durch eine nicht reglementierte finanzielle Vergütung auf der anderen Seite“. In den Leitlinien zum Einsatz der ECMO ist das Verfahren als „Rescue-Therapie“ oder als „Ultima Ratio“ bezeichnet, also als letztes Mittel, wenn andere Therapien keine Aussicht auf Erfolg mehr haben. Die Autoren beklagen hier die Verwendung einer militärischen Metaphorik, die, so stellen sie fest, „zunehmend mit Zuspitzung der COVID-Krise eingesetzt wird und eine abgestufte, am Therapieziel orientierte Indikationsstellung erschwert“. Das heißt, in der Corona-Pandemie wird zu Mitteln gegriffen, die sich nicht mehr vernünftig mit einem Therapieziel rechtfertigen lassen. Das technische Verfahren verwischt „die Grenze eines natürlichen Todesverlaufes“, schafft aber nicht die Möglichkeit eines „angemessenen Überlebens des Patienten“. Es kann dazu kommen, dass eine „unangemessene und letztlich sinnlose Therapie durchgeführt wird“, die nicht mit dem Patientenwunsch in Einklang zu bringen ist. Die Autoren verweisen ausdrücklich auf das akute und schwere Leid, das die Behandlung für die Betroffenen und deren Angehörige bedeutet, sie nennen das schmerzhafte Verfahren, den Kontrollverlust sowie die Verletzung von Intimsphäre und Persönlichkeitsrechten, aber auch die hohe Belastung, die ECMO für das Personal bedeutet.

Auf den Punkt gebracht: Die Sterblichkeitsraten bei ECMO-Behandlungen sind in Deutschland so hoch, weil Patienten mit diesem Verfahren behandelt werden, die gar keine Überlebenschance haben. Damit wird das Leiden dieser Patienten unnötig verlängert, sie werden am Leben gehalten, obwohl sie nach medizinischem Ermessen gar keine Heilungschance, keine „Prognose im Hinblick auf ein angemessenes Überleben“ haben. Warum? Weil es technisch möglich ist, und wohl auch, weil sich in der Corona-Pandemie angesichts hoher Fallzahlen das Ziel durchgesetzt hat, jeden retten zu wollen; auch die, die nicht mehr gerettet werden können und bei denen die Rettungsversuche letztlich nur Verlängerung des qualvollen Todeskampfes bedeuten.

Ein anderes Problem deuten die Autoren nur an, auch wenn es wohl als tieferer Grund für diesen Trend zu sehen ist: Der Einsatz der ECMO-Technik wird schlicht zu gut bezahlt. Die Autoren schreiben von „Fehlanreizen … durch eine hohe Vergütung“. Das heißt: Die Investition in die teure Technik muss sich lohnen, und sie lohnt sich nur, wenn die Maschinen laufen, und sie laufen nur, wenn Menschen an die Maschinen angeschlossen sind.

Zwischen den Zeilen kann man zudem lesen, dass sich wohl zu viele Krankenhäuser – wohl auch im Zuge der Corona-Pandemie – teure ECMO-Geräte angeschafft haben. Nicht von ungefähr betonen die Autoren die Notwendigkeit von Erfahrung und Expertise bei der Anwendung des Verfahrens. Das heißt, kleine Krankenhäuser, die gar nicht genug Kompetenz beim Einsatz dieser Technik haben, sollten die Finger davon lassen.

Ökonomische Fehlanreize und die Verselbstständigung einer Apparatemedizin, die über das technisch Mögliche vergisst, dass es ein leidender Mensch ist, der da an die Geräte angeschlossen ist, führen zu unnötigem und langem Leiden von Patienten, die auch mit modernster Technik nicht gerettet werden können. Das ist das Fazit, das aus dem Aufsatz der renommierten Mediziner im Ärzteblatt gezogen werden muss. Darüber muss die ganze Gesellschaft diskutieren, das muss auf die Tagesordnung des Ethikrats, wenn der seine Aufgabe ernst nimmt. Aber in den deutschen Medien wird dazu geschwiegen.

Titelbild: Kiryl Lis/shutterstock.com


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