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Titel: Ein Offener Brief an Ver.di Berlin wegen Ver.dis feindseliger Haltung zu Demos

Datum: 8. Februar 2022 um 11:53 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Gewerkschaften, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich:

Die Sonderpädagogin Magda von Garrel hat einen Offenen Brief an Ver.di geschrieben. Wir machen darauf aufmerksam und veröffentlichen diesen Brief (Teil A), weil es langsam unerträglich wird, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Einrichtungen und Organisationen, die eigentlich anderes zu tun haben, gegen Menschen positionieren, die ihr demokratisches Recht wahrnehmen zu demonstrieren. In Teil B ist ein Unterstützungsschreiben von Angehörigen von Anti-Nazi-Widerstandsfamilien angefügt, passend zur Kritik Garrels an Ver.di. Albrecht Müller.

Teil A – Offener Brief

Magda von Garrel Berlin, d. 07.02.2022
Offener Brief
an die Bezirksleitung des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg

Herrn Landesbezirksleiter Frank Wolf
Köpenicker Str. 30
10179 Berlin

Sehr geehrter Kollege Wolf,

als ver.di-Mitglied (Mitgliedsnummer 5550009707) protestiere ich gegen die am 04.02.2022 als Mail bei mir eingegangene Presseinformation des Landesbezirks Berlin-Brandenburg mit der Überschrift „Ver.di unterstützt bezirkliche Demos gegen ‘Montagsspaziergänge’“.

Der Inhalt der Presseinformation widerspricht dem Wortlaut der Satzung von ver.di in der Fassung vom 12.10.2021. In § 5.1 bekennt sich ver.di „zu den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats“. In § 5.3 bezeichnet sich ver.di als „pluralistisch“ (Unterpunkt h.), setzt sich ein für die „Verteidigung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit“ (Unterpunkt k.) sowie für die „Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von faschistischen, militaristischen und rassistischen Einflüssen“ (Unterpunkt i.).

Der Aufruf zur Unterstützung einer Gegendemonstration ignoriert, dass in einem demokratischen Rechtsstaat die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts grundsätzlich nicht durch eine organisierte Gegendemonstration behindert werden darf. Darüber hinaus verletzt der Aufruf das innergewerkschaftliche Prinzip des Pluralismus in einer Einheitsgewerkschaft, untergräbt die Verteidigung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit und ist kein Beitrag zur Auseinandersetzung mit und zur Bekämpfung von „faschistischen … Einflüssen“, da diese ohne jeden juristischen Beweis lediglich unterstellt werden.

In der bei mir am 04.02.2022 eingegangenen Presseinformation wird Andrea Kühnemann mit den Worten zitiert: „Wir wehren uns dagegen, dass insbesondere rechte Gruppierungen versuchen, aus der Pandemie Kapital zu schlagen und ihre kruden Thesen auf die Straße tragen. Diese Leute mit ihren ‘Montagsprotesten’ sind nur eine kleine Gruppe, sie haben kein Recht, für die große Mehrheit der Bevölkerung zu sprechen. Das müssen wir klar zum Ausdruck bringen, deswegen rufen wir die ver.di-Mitglieder auf, gegen diese ‘Montagsspaziergänge’ zu demonstrieren.“

Einmal abgesehen davon, dass man kein Recht für obsolet erklären kann, das gar nicht in Anspruch genommen wird (Sprechen für die große Mehrheit der Bevölkerung), sollte es zum demokratischen Selbstverständnis einer Gewerkschaft gehören, sich für die Rechte von Minderheiten einzusetzen.

Diese drastische Abkehr von einem einstmals ehernen Grundprinzip rechtfertigt ver.di mit einer weiteren bloßen Behauptung, nach der die Teilnehmer*innen an den Montagsspaziergängen Impfgegner und Rechte seien. Bei allem Verständnis für eine Positionierung gegen rechte Gruppierungen wird hier völlig ausgeblendet, dass das Spektrum der Beteiligten sehr viel größer ist und beispielsweise auch mehrfach geimpfte Menschen umfasst. Dieser nicht beachtete Umstand lässt die Frage aufkommen, inwieweit ver.di-Vertreter*innen eigene Recherchen durchgeführt haben. Darüber hinaus wird auf die für die sogenannten Impfgegner ausschlaggebenden Gründe gar nicht erst eingegangen.

Dementsprechend fehlt auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb es zu einer größeren Beteiligung von Rechten überhaupt kommen konnte. Meines Erachtens haben wir es hier mit der Folge eines eklatanten gewerkschaftlichen Versagens zu tun. Von Anfang an hat sich ver.di in einem als gewerkschaftlich zu bezeichnenden Sinne lediglich um die Absicherung finanzieller Unterstützungsleistungen (zum Beispiel für Künstler und Solo-Selbstständige) und um die Organisation von Streiks zur Durchsetzung besserer Rahmenbedingungen für das Pflegepersonal bemüht.

Dieses Engagement ist zwar aller Ehren wert, aber nicht ausreichend für Menschen, die von einer Gewerkschaft ein umfassendes gesellschaftskritisches Verhalten erwarten. Dass in dieser Hinsicht von ver.di nicht mehr viel zu erwarten ist, lässt der letzte Satz der Presseinformation befürchten, in dem Sie sich wie folgt geäußert haben: „Die Experten sind sich einig – nur eine Impfung schützt derzeit vor schlimmen Krankheitsverläufen und Folgeschäden.“

Diese Aussage trifft schon allein wegen der zu Unrecht behaupteten Einigkeit der Experten nicht zu, aber noch wichtiger ist mir die Feststellung, dass keinerlei Bereitschaft zur Führung eines ergebnisoffenen Dialogs erkennbar ist. Eine Gewerkschaft, die (abgesehen von einigen Ausnahmen) unter Inkaufnahme schwerster sozialer Folgen seit Ausrufung der Pandemie auf eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen verzichtet und durch die Nichteröffnung eines Diskussionsraums zur Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung beigetragen hat, spricht und handelt weder in meinem Namen noch im Namen ihrer eigenen Statuten.

Deshalb fordere ich den ver.di Landesbezirk Berlin-Brandenburg auf, die o.g. Presseinformation als gewerkschaftsschädigend zu widerrufen.

Mit freundlichen Grüßen


Teil B

26. Januar 2022
Angehörige von Anti-Nazi-Widerstandsfamilie für “Spaziergänge”

In letzter Zeit erlebt Deutschland etwas sehr Hoffnungsvolles. Etwas, das Mut macht. Jede Woche gehen gut 300.000 Leute (etwa dreihundert Tausend Personen) auf die Straßen, um größtenteils friedlich, freundlich und grundrechtstreu f ü r demokratische Rechte auf zu treten. Für “Frieden Freiheit, Demokratie” . Gegen die Grundrechts-“Einschränkungen” der Regierenden. …

Leute, die in der damaligen DDR lebten (wie der heute israelische Journalist und Schriftsteller Chaim Noll) weisen immer wieder darauf hin, dass die gegenwärtig angebliche Anti-“Corona”-Politik deutscher Regierungen teils auffällig an die Unterdrückung der Bevölkerung in der einstigen DDR erinnert.

Umso erfreulicher, dass die friedlichen Massenproteste diesen Januar (und bald Februar?) 2022 in Hunderten deutscher Orte sich ähnlich friedlich zeigen wie die auch damals nicht “genehmigten” Demonstrationen in den letzten Monaten der DDR-Honecker-Regierung.

Demokratie lebt von Meinungsvielfalt. Gerade auch jetzt, Januar/Februar 2022. Mit ein Grund dafür, dass mehrere heutige Mitglieder von Familien, deren Angehörige teils während der Nazi-Zeit Widerstand gegen das Hitler-Regime leisteten, die “Spaziergänge” in Hunderten deutscher Orte, Januar 2022, sehr begrüßen.

Sie tun dies bewusst am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022 – denn die Blutopfer des deutschen Widerstands sollen nicht umsonst gewesen sein, sondern auch heute einer freien Demokratie mit gesicherten Grundrechten dienen.

Die Unterzeichnenden dieser Erklärung:

Julian Aicher

(Sohn der “Die Weiße-Rose”-Verfasserin Inge Aicher-Scholl)

Christian von Lerchenfeld

(Verwandter Nachfahre von Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg, geborene von Lerchenfeld)

Weitere Mitglieder aus Verfolgten- und Widerstandsfamilien haben diese Erklärung ausdrücklich begrüßt, möchten aber aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden.


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