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Titel: Das Gute hat einen Sprung

Datum: 30. März 2022 um 8:22 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
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Als ich in den sechziger Jahren in einem kleinen Ort im südlichen Osten der DDR aufwuchs, war es für mich sehr schwer, mich zu orientieren. Meine Eltern waren traumatisierte Kriegskinder und das herrschende System war doch recht hermetisch. Meine politische Auseinandersetzung begann mit einem Mund voller lauwarmer Milch. Im Kindergarten hieß es nämlich, wir Kleinen müssten unsere Milch austrinken, denn die Kinder in Vietnam wären froh, wenn sie welche hätten. Ich wusste nicht, wo Vietnam war und warum dort die Kinder keine Milch hatten. Aber weil ich erst aufstehen durfte, wenn mein Plaste- (so hieß das damals) Becher leer war, nahm ich wenigstens den letzten Schluck in den Mund und spuckte ihn später draußen unauffällig ins Gebüsch. So rettete ich mir ein wenig Selbstbestimmung. Ein Essay von Holm Andree Jochmann.

Etwas später sah ich dann DEFA-Indianerfilme. Ich verstand, dass da schöne Menschen in Einklang mit der Natur lebten und dann kamen böse, versoffene Halunken mit modernen Gewehren und schossen wahllos Indianer vom Pferd und ganze Herden von Büffeln tot. Ich war empört über diese Ungerechtigkeit. Und fasste den heimlichen Plan, wenn ich einmal groß wäre, würde ich zur Armee gehen, aber nur so tun, als ob ich da mitmache. Und dann wollte ich ein Maschinengewehr stehlen, mich damit auf ein Schiff schleichen, nach Amerika fahren und die Indianer retten, indem ich alle “Cowboys” erschieße. Rattatatata.

1973 war wieder etwas mit Milch. Der gute Präsident Allende in Chile hatte dafür gesorgt, dass jedes Kind jeden Tag einen halben Liter Milch bekam. Vorher hatten die, genau wie die vietnamesischen Kinder, so etwas nicht gehabt. Dann kam aber ein Böser, der hieß Pinochet. Der nahm den Kindern die Milch wieder weg und ließ Leute, die sich darüber beschwerten, von ganz hoch aus Flugzeugen ins Meer werfen. Ich war darüber sehr traurig. Inzwischen hatte ich lesen gelernt und einige meiner Kinderbücher handelten von der Sklaverei. Ich verstand, dass die Cowboys also zuerst ein riesiges Land geklaut hatten und dazu noch die Arbeitskraft von schwarzen Menschen, die für sie die Reichtümer dieses geklauten Landes zusammenscharren mussten, wenn sie nicht ausgepeitscht oder erschossen werden wollten. Mit geklautem Land und geklauter Arbeit waren die so reich, dass sie auf der ganzen Welt böse Dinge tun konnten. Flugzeuge nach Vietnam schicken oder den Pinochet in Chile anstiften.

Wir in unserer DDR hatten zum Glück den Sozialismus. Das Land gehörte allen und niemand musste für jemand anderes Reichtum arbeiten. Das einzige Problem waren immer die USA. Die wollten Krieg und gönnten uns den Sozialismus nicht. Deshalb dachte ich auch, als ich zur Armee ging, ich beschütze jetzt den Frieden.

Ich machte sehr schnell die Erfahrung, dass es keine gute Armee gibt. Der Kompaniechef war ein Psychopath. Wenn er wütend wurde, schrie er Sachen, die hätte ich im Sozialismus nicht für möglich gehalten. Dabei wurde er ganz dunkelrot im Gesicht. Wirklich alle hatten Angst vor ihm. Im Februar 1981 musste meine Kompanie in den Wald, an die polnische Grenze. Es war bitterkalt. Immer zwei Soldaten bekamen einen Strohballen und zwei Zeltbahnen. Daraus sollte man sich etwas zum Schlafen bauen. Ich habe nachts vor Kälte sogar meinen Schutzanzug übergezogen. Das war aber eine schlechte Idee, der war aus einer Art Gummi, man wurde darunter ganz feucht und fror noch mehr. Nach einer Woche Kälte und Drill wurde langsam klar, dass es darum ging, dass wir nach Polen marschieren sollten, um dort Konterrevolutionäre zu erschießen. Solidarnosc hießen die wohl.

Eine Woche lang heftig zu frieren, verändert einen Menschen sehr. Ich war mittlerweile in einem Zustand, dass ich dachte, wenn das passiert, erschieße ich erst diesen Kompaniechef und dann mich. Auf keinen Fall schieße ich auf junge polnische Männer, denen auch nur kalt ist, wie mir. Zum Glück wurde die Sache abgeblasen. In Moskau war wohl entschieden worden, die Sache anders zu handhaben.

Später war ich mal in einer Kaserne der Roten Armee. Ich bekam den Eindruck, das was ich in der einen Woche im Wald erlitten hatte, das hatte ein Sowjetsoldat jeden Tag.

Etwas später fand ich mich in Dresden bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale. Jeder konnte sich etwas mitnehmen, eine Leninbüste oder ein Telefon. In den Dienstzimmern waren noch die erschrockenen ehemaligen Angestellten und beantworteten Fragen. Sie hätten einfach nur aufzustehen und herumzulaufen brauchen, dann hätte man sie nicht erkannt, denn sie waren ja in Zivil. Aber sie saßen da und ließen sich ausfragen. Es waren wohl fast alle in der Küche beschäftigt gewesen oder als Fahrer, erfuhr man. Ich kann mich noch erinnern, dass die mir leid taten, wie sie so anfingen zu ahnen, dass sie wohl auf die falsche Seite geraten waren.

Dann gab es ein paar schöne Jahre. Ich dachte, das mit dem Krieg wäre erledigt. Wieso dann die Serben plötzlich Konzentrationslager hatten und wir da in Belgrad die chinesische Botschaft und den Fernsehsender bombardieren mussten, habe ich nicht verstanden. Dann kam 9/11. ich erinnere mich an eine Sendung im Fernsehen, wo Staatsführer ihre Statements abgaben. George Bush sagte, wer immer das war, bekommt es doppelt und dreifach zurück. Dann war Yasser Arafat zu sehen, der nicht sprechen konnte, weil er weinen musste.

Kurzzeitig war ich Gerhard-Schröder-Fan, weil der beim Irakkrieg nicht mitmachen wollte. Unvergesslich Colin Powell vor der UNO mit einem Fläschchen …, ja, was eigentlich? Kaffeeweißer? Die Bild-Zeitung wusste, dass Saddams Waffen uns alle in 20 Minuten töten können. Tony Blair hat es auch nochmal gesagt. Es gibt verschiedene Zahlen, aber man geht ungefähr von einer Million toten Irakern aus. Tony Blair wurde letztens von der Queen geadelt. George W. Bush geht es prima und Colin Powell bekam einen schönen Nachruf. Wie geht das? Wie leben solche Leute damit, eine Million Tote auf dem Gewissen zu haben? Und warum kommen die damit durch? Warum heißt es nicht auf Schritt und Tritt, wohin sie auch gehen: Da kommt ein Mörder?

Der Irrsinn ging so weiter. Die Afghanen kamen und haben Berlin besetzt. Sie fanden, unsere Scheidungsquote wäre viel zu hoch, wir hätten keine Kultur. Das kleine Libyen suchte sich eine Koalition der Willigen und bombardierte Norwegen. Muss man sich mal vorstellen. 6.000 Kilometer weit weg bombardieren die Norwegen. Was haben die dort zu suchen? Leider gab es keine Friedens-Demo gegen dieses Libyen. Die hätte sonst vielleicht verhindert, dass Jens Stoltenberg gepfählt wurde. Die letzte nennenswerte Demo, die ich gesehen habe, war wegen des Irak-Krieges. Sowas hat man wahrscheinlich seitdem im Griff.

Und nun sind wir also im nächsten Krieg. Was ich höre, ist wieder wie: Wer das war, kriegt es doppelt und dreifach zurück. Mir fehlt der weinende Arafat. Ich hab’ sie so satt, diese Geschichte vom bösen Mann und wenn der endlich tot ist, ist alles gut. Präsident Selenskyj hat sich bei Mark Zuckerberg bedankt, weil der es möglich gemacht hat, dass man auf Facebook jetzt doch “Hatespeech” posten darf. Man darf zum Mord an Putin und Lukaschenko aufrufen und gegen russische Soldaten sagen, was man möchte.

Mir tun alle leid, die unter dem Krieg leiden. Junge Mütter, die mit ihren Kindern auf dem Arm durch die Kälte unterwegs sind, Omas in kaputten Häusern ohne Heizung und Essen. Krieg hat anscheinend immer etwas mit Kälte zu tun. Für mich ist das so ein Test. Wer schafft es, Mitgefühl zu haben mit den russischen Soldaten? Ich habe gesehen, wie es denen geht.

Ich bin gegen „Putins Krieg“. Ich wäre dafür, dass die ganze Welt sagt, wir kaufen jetzt von mir aus kein russisches Gas mehr, bis die sich einkriegen. Frieren für den Frieden. Ich will dann aber auch kein Erdöl aus Saudi-Arabien. Die führen Krieg in Jemen, 350.000 Tote, davon 70% unter 5 Jahren. Bis die damit aufhören. Bis sich die amerikanische Regierung entschuldigt hat für Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien (die klauen da immer noch das Öl), kaufen wir keine I-Phones mehr und boykottieren Netflix. Sollen die doch ihre Amerika-gewinnt-immer-Filme selber glotzen.

Das soll jetzt kein “Whataboutism” sein. Ich wünsche mir, dass wir uns nicht ständig ablenken lassen. Das Problem mit der höchsten Priorität sind die Armeen und Waffen, allen voran die Atomwaffen. Dagegen ist doch selbst der Klimawandel harmlos. Was ist schlimmer, globale Erwärmung oder nuklearer Winter? Die ganze Menschheit läuft mit einer Pistole am Kopf herum, von der niemand weiß, ob oder wann die los geht. Sind wir bescheuert? Wir tun alle jeden Tag so, als wäre nichts. Oder als wäre alles gut, wenn Bin Laden, Saddam Hussein oder Wladimir Putin endlich tot sind. Wann schauen wir uns endlich mal das große Bild an und unternehmen etwas?

Meine Eltern waren traumatisierte Kriegskinder. Ich bin aufgewachsen in einer Art Knalltrauma. Heute sehe ich, man kann entweder fühlen oder agieren. Damals ging das nicht. Der Krieg war zu schlimm gewesen, das wollte niemand fühlen und das Agieren hieß: “Haben wir’s nicht schön? Man rennt herum, macht dies und das, klappert und kommt hoffentlich nicht zu sich. Sonst müsste man weinen oder auf dem Fußboden liegen und hilflos strampeln. Man renoviert ein Haus, kauft eine teure Küche und wenn einem gar nichts mehr einfällt, kann man immer noch eine Garage bauen.

Was auf der Welt passiert, was in der Ukraine passiert, das ist Ausdruck des unbewussten Träumens von fast 8 Milliarden Menschen. Man geht entweder ins Gefühl oder in die Spaltung. Jeden Tag aufs Neue hat man die Wahl. Und es ist nicht einfach. Spaltung ist viel leichter! Habe ich Mitgefühl mit den russischen Soldaten, den ukrainischen Kindern, mit Selenskyj, Putin und Joe Biden? Das Handeln von Menschen kann man verurteilen, aber alle gehören sie dazu. Alle. Und wir sollten endlich anfangen, Probleme zu lösen, ohne uns gegenseitig umzubringen.

Wer innerlich jemanden ausschließt, schließt etwas von sich selbst aus. Ich schreibe diese Zeilen, weil ich das gerade an mir selbst erlebt habe. Ich hatte in den Medien verfolgt, dass aus vielen Ländern Männer unterwegs in die Ukraine sind, die dort mitkämpfen wollen. Vor allem war mir ein Foto aufgefallen, darauf waren Männer in Tarnuniformen zu sehen, gestrickte Sturmhauben über dem Kopf. So standen sie mit ihren Koffern am Flughafen. Nun kam die Meldung, dass russische Raketen in der Nähe der polnischen Grenze eine Unterkunft solcher Kriegstouristen zerstört haben. Ein russischer Politiker sagte: “Was haben sie gedacht? Dass sie auf Russen-Safari gehen?” Es gab viele Tote und Verletzte und für einen Moment dachte ich: “Recht geschieht ihnen.” Aber ein gewaltsamer Tod geschieht niemandem recht. Diese Männer hatten ihre Geschichte, die sie diese dumme Entscheidung treffen ließ. In diesem Moment hatte ich mich für die Spaltung entschieden. So schnell geht das. Es hat sich irgendwie befriedigend angefühlt, diese Männer blöd zu finden. Es war für einen Moment toll, dass sie tot waren.

Und dann fiel mir die Geschichte wieder ein, wie ich als kleiner Junge mal alle Cowboys erschießen wollte. Aus purem Gerechtigkeitsgefühl. Und ganz plötzlich hätte ich weinen können über die armen Kerle, die da jetzt irgendwo in der Ukraine im kalten Dreck liegen und tot sind. Ach was, hätte können… ich habe geweint!

Jeder Krieg ist Krieg mit sich selbst und jeder Hass zumindest auch Selbsthass. Bestimmte kulturelle Entwicklungen haben uns von uns entfremdet, Konzepte wie Schuld oder eigene Unzulänglichkeit haben sich in die Menschheit als Ganzes eingefressen und werden in fast jeder Biografie reaktiviert.

Weil wir etwas in uns nicht ertragen, in der Überzeugung, damit wären wir nicht liebenswert, verschieben wir es nach außen. Das ist dann der Feind. Weil wir aber nicht nur etwas loswerden wollen, sondern uns auch nach “Richtigsein” sehnen, findet auf der anderen Seite auch eine Identifikation mit etwas “Gutem” statt. Es geht also nicht nur darum, uns in dem zu entdecken, was wir ablehnen.

(Ich habe in mir den Kriegstouristen wiederfinden können, der ich als kleiner Junge sein wollte. Und sofort waren mir die blöden Kerle mit ihrem Schicksal nahe.) Es geht auch darum zu hinterfragen, womit man sich identifiziert. Wir brauchen Distanz zu unserer eigenen Ablehnung und wir sollten auch kritisch beobachten, mit was wir uns identifizieren. Haben sie die Rede von Emilia Fester vor dem Bundestag gesehen? Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn man sich mit dem „Guten“, also dem, was man dafür hält, vollständig identifiziert. Man möchte Cowboys erschießen und borgt sich die moralische Unfehlbarkeit der jeweiligen Opfer, die das gar nicht wollen.

Es lohnt sich, im Bösen nach dem Irrtum, der Verzweiflung, der verschmähten Liebe und auch nach dem zu suchen, was man darin von sich selber kennt. Auch das “Gute” ist am Ende nur menschlich und hat irgendwo einen kleinen Sprung – und ist vielleicht gerade deshalb liebenswert. Wenn wir an der Spaltung festhalten, wenn es uns nicht gelingt, die Welt als Ganzes zu sehen, werden wir keine Lösung finden. Die Spaltung ist nicht nötig, wenn jeder Einzelne sein eigenes kleines Böses akzeptiert und vor allem, vielleicht noch schwerer, selbst völlig in Ordnung und liebenswert zu sein.

Titelbild: autumnn/shutterstock.com


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