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Titel: Der Westen will keinen Frieden

Datum: 25. April 2022 um 9:03 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Der ehemalige Schweizer Geheimdienstoffizier und NATO-Berater Jacques Baud spricht über die Wurzeln des Ukraine-Krieges und seine wachsenden Gefahren. Manch einen plagt die Sorge, dass in der kollektiven Hysterie des Westens mit ihren Sanktionen und Waffenlieferungen, und mit der absurden Idee, diesen Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen und Russland bestrafen zu wollen, die Gefahr einer Eskalation zum Atomkrieg liegt. Dieser Auffassung scheint auch Jacques Baud zu sein, der hier von Aaron Maté interviewt wird. Zwar lesen sich seine Einlassungen streckenweise wie eine Putin-Apologie, doch eine sehr kenntnis- und detailreiche, die den Versuch einer Charakterisierung aller Akteure rund um den 24. Februar 2022 unternimmt, und auch vor einer Deutung des „Rätsels Putin“ nicht zurückschreckt. Aus dem Englischen von Susanne Hofmann.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Vorbemerkung Jens Berger: Die NachDenkSeiten sind bemüht, beim Thema „Krieg in der Ukraine“ die verschiedenen Facetten im Meinungsspektrum abzubilden und überlassen es ihren Lesern, die Versatzstücke zusammenzuführen. Wir halten unsere Leser für erwachsene Menschen, die sich ihre eigene Meinung machen können. Wenn wir Gastartikel und Interviews abdrucken, heißt dies daher nicht, dass wir sämtliche Aussagen eins zu eins teilen. So teile ich persönlich beispielsweise die Aussagen von Jaques Baud zu Bucha und Kramatorsk nicht und finde auch seine Aussagen zum Beginn der Invasion ein wenig unterkomplex und einseitig. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele andere Aussagen hochinteressant sind und so in den allermeisten Medien, die alles verteufeln, was auch nur im Verdacht steht, Spuren von Verständnis für die russische Position zu haben, nicht zu lesen oder zu hören sind.

AARON MATÉ: Willkommen bei Pushback. Ich bin Aaron Maté. Mein heutiger Gast ist Jacques Baud. Er hat eine Reihe hoher Sicherheits- und Beraterpositionen bei der NATO, der UN und den Schweizer Streitkräften bekleidet. Er ist auch ehemaliger Geheimdienstoffizier des Swiss Strategic Intelligence Service. Jacques, danke, dass Sie sich zuschalten konnten.

JACQUES BAUD: Danke für die Einladung.

Lassen Sie mich mit der Frage beginnen – erzählen Sie doch mehr von Ihrem Hintergrund und welche Einblicke in die Ukrainekrise Ihnen dieser verschafft.

Wie Sie gerade sagten, bin ich strategischer Geheimdienstoffizier. Mein Aufgabengebiet waren die Kräfte des Warschauer Paktes. Das war während des Kalten Krieges, aber ich habe immer noch einen guten Blick auf die Vorgänge in Osteuropa. Ich pflegte auch russisch zu sprechen und zu lesen, das erleichtert den Zugang zu gewissen Dokumenten.

Und kürzlich wurde ich zur NATO geholt als Chef der Abteilung gegen die Proliferation kleiner Waffen. In dieser Eigenschaft nahm ich an mehreren NATO-Projekten seit 2014 in der Ukraine teil. Dadurch kenne ich diesen Kontext gut. 2014 untersuchte ich auch den möglichen Influx kleiner Waffen in den Donbass.

Und drittens arbeitete ich – weil ich für die UN schon mit der Wiederherstellung von Streitkräften befasst war – als die ukrainische Armee Probleme kriegte mit persönlichen Angelegenheiten, Selbstmord, all diese Dinge, die es 2014 gab, auch Probleme bei der Rekrutierung von Soldaten – wurde ich von der NATO-Seite gebeten, an mehreren Projekten zur Wiederherstellung der ukrainischen Streitkräfte teilzunehmen. Das ist also, kurz zusammengefasst, mein Hintergrund zu diesem Thema.

#Runup zum 24. Februar

Sie haben einen langen Artikel geschrieben, in dem Sie die Ursachen des Ukrainekonfliktes in drei Hauptgebieten darlegen. Da gibt es die strategische Ebene, die Expansion der NATO; die politische Ebene mit dem, was Sie als die Weigerung des Westens bezeichnen, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen; und auf der operativen Ebene die andauernden und wiederholten Angriffe auf die Zivilbevölkerung des Donbass während der letzten Jahre, die gegen Ende Februar 2022 dramatisch zunahmen.

Lassen Sie uns damit beginnen. Sprechen Sie über diesen Anstieg der Angriffe auf Zivilisten im Donbass im Februar, also den Tagen unmittelbar vor der russischen Invasion, und wie dieser Anstieg zu diesem Krieg oder dieser Invasion führte.

Nun, wir dürfen natürlich nicht vergessen, wie Sie wissen, dass der Krieg nicht wirklich am 24. Februar dieses Jahres begonnen hat. Sondern schon im Jahr 2014. Aber ich glaube, die Russen hatten immer die Hoffnung, dass dieser Konflikt auf der politischen Ebene gelöst werden könne, ich meine die Minsker Vereinbarungen und all das. Was also zu der Entscheidung führte, eine Offensive im Donbass loszutreten, waren nicht die Ereignisse seit 2014. Sondern es gab einen Auslöser, und der kam, wenn Sie so wollen, in zwei Phasen. Die erste ist die Entscheidung und das Gesetz, das Wolodymyr Selenskij im März 2021 – also letztes Jahr – verabschiedet hat, die Krim gewaltsam zurückzuerobern, und daran schloss sich ein Aufmarsch russischer Trupp… pardon, ich meinte natürlich ukrainischer Truppen, an, im südlichen Teil des Landes. Und so glaube ich, dass die Russen über diesen Aufmarsch genau Bescheid wussten. Ihnen war klar, dass eine Operation gegen die Republiken im Donbass bevorstand, aber sie wussten nicht wann, und natürlich haben sie das nur beobachtet, aber dann kam der wirkliche Auslöser.

Vielleicht erinnern Sie sich – ich meine, es war am 16. Februar – da sagte Joe Biden in einer Pressekonferenz, er wisse, die Russen würden angreifen. Und woher hätte er das wissen sollen? Nun, ich habe noch einige Kontakte, und zu Ende Januar, Anfang Februar, glaubte noch niemand, dass die Russen die Ukraine angreifen würden. Also muss es etwas gegeben haben, das Biden gewarnt hat. Und dieses Etwas, das war die Zunahme des Artilleriebeschusses des Donbass (1), die am 16. Februar begann. Und das wurde tatsächlich von der Beobachtungsmission der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) beobachtet, sie zeichneten diesen Anstieg der Waffenstillstandsverletzungen (2) auf, das war ein massiver Anstieg.

Ich meine, wir haben es mit einer Steigerung auf das Dreißigfache zu tun – in den letzten acht Jahren hatte es schon eine Menge Waffenstillstandsverletzungen (2) von beiden Seiten gegeben. Aber dann am 16. Februar gab es diesen massiven Anstieg von der ukrainischen Seite. Deshalb war das für die Russen, und insbesondere Wladimir Putin, das Signal, dass die Operation – nämlich die der ukrainischen Seite – nun beginnen würde. Und dann ging alles los: ich meine, nun ging es Schlag auf Schlag. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, dann bemerken Sie einen massiven Anstieg vom 16. auf den 17. Februar, und dann erreichte es eine Art Maximum am 18., und setzte sich weiter fort. (3)

Auch in der Duma, dem russischen Parlament, wusste man über diese mögliche Offensive Bescheid, und sie verabschiedeten eine Resolution, in der sie Wladimir Putin baten, die Unabhängigkeit der beiden selbstproklamierten Republiken im Donbass anzuerkennen. Und das tat Putin dann am 21. Februar. Und gleich nach dem Gesetz, das die Unabhängigkeit der beiden Republiken anerkennt, unterzeichnete er eine Vereinbarung über Freundschaft und gegenseitige Hilfe mit diesen Republiken. Zu welchem Zweck? Nun, das würde den Republiken gestatten, militärische Hilfe anzufordern, wenn sie angegriffen würden. Und deshalb konnte am 24. Februar, als Putin die Offensive begann, diese sich auf Artikel 51 der UN-Charta berufen, der genau diese Art von Hilfe gewährleistet.

Und, wie Sie schon sagten, stellte die OSZE eine starke Zunahme der Waffenstillstandsverletzungen fest, Artilleriefeuer gegen die Seite der Rebellen. Aber glauben Sie, nach dem was Sie bei der Positionierung der ukrainischen Truppen beobachten konnten, dass die Bedrohung durch einen unmittelbar bevorstehenden Angriff der ukrainischen Truppen real war? Kann man das abschätzen anhand ihrer Positionierung auf der anderen Seite der Kontaktlinie?

Ja, hundertprozentig. Ich meine, wir hatten Berichte, und die waren verfügbar während der letzten zwei Monate. Seit dem letzten Jahr wissen wir, dass die Ukrainer ihre Kräfte im Süden des Landes konzentrieren, nicht an der Ostgrenze mit Russland, sondern an der Kontaktlinie im Donbass. Und tatsächlich, wie wir seit dem 24. Februar erleben, stießen die Russen bei Beginn der Offensive kaum auf Widerstand, insbesondere im Norden.

#Kriegsführung im Donbass

Und dadurch konnten sie, was sie seitdem getan haben, die ukrainischen Kräfte im Süden umstellen, im Südostteil des Landes – zwischen den beiden Donbass-Republiken und der restlichen Ukraine. Und dort befindet sich heute die Hauptmasse der ukrainischen Kräfte. Das entspricht genau der russischen, operationellen Kampfdoktrin. Die Hauptoffensive war im Süden, weil durch die Zielvorgabe Wladimir Putins – Entwaffnung und Entnazifizierung – beide Ziele im Süden erreicht werden konnten, und dort wurden die Hauptanstrengungen der Offensive unternommen.

Der Angriff auf Kiew war ein sogenannter sekundärer Angriff, und er hatte im Grunde eine doppelte Funktion. Erstens, die politische Führung in Kiew unter Druck zu setzen, in der Hoffnung, sie an den Verhandlungstisch zu bekommen. Zweitens, den Rest der ukrainischen Streitkräfte zu binden und festzunageln, so dann sie die Hauptkräfte im Donbass nicht verstärken konnten. Und das hat gut funktioniert. Wie ich schon sagte, konnten die Russen die Hauptmasse der ukrainischen Kräfte umstellen, Nachdem sie das geschafft hatten, konnten sie einige Truppen von Kiew abziehen, und das ist es, was sie seit Ende März getan haben. Sie haben mehrere Einheiten abgezogen, um anderswo Verstärkung zu gewinnen, nämlich für die Hauptauseinandersetzung um den Donbass. Jetzt sind sie bei diesem Abzug, und diese Truppen lagen vorher im Gebiet um Kiew, und werden nun die Flanken der Vorhut schützen, in der Offensive gegen die Hauptstreitkräfte im Donbass.

Und das ist es, was einige die „Mutter aller Schlachten“ genannt haben, das findet jetzt im Donbass statt, wo sie – niemand kennt die genaue Anzahl eingekesselter ukrainischer Soldaten, die Schätzungen reichen von 60.000 bis 80.000 – und diese Kräfte sollen in kleinere Kessel zerschnitten, und dann vernichtet oder neutralisiert werden.

#Selenskij und seine Vorgesetzten

Für mich ist es ziemlich klar, dass Selenskijs Regierung an ernsthaften Gesprächen über all die kritischen Themen, die diesen Krieg hätten vermeiden können, kein Interesse hatte, und für den Hauptgrund halte ich den wahrscheinlich hinter den Kulissen ausgeübten Druck der USA, was wir jetzt nicht endgültig beweisen können. Aber ich glaube, die Beweise werden später auftauchen. Der zweite Grund ist offene Feindschaft von Ukraines Ultrarechten, die faktisch Selenskijs Leben bedrohten, wenn er Frieden mit Russland geschlossen hätte.

Und diese Drohungen waren sein ständiger Begleiter als Präsident, die ganze Zeit bis zum Vorabend der Invasion, und führten dazu, dass Leute wie sein Top-Sicherheitsberater Ende Januar verkündeten, die Implementierung von Minsk würde die Ukraine zerstören – nachdem Selenskij die Wahl mit dem Versprechen, Minsk zu implementieren, gewonnen hatte – und das führte zu den finalen Gesprächen über die Implementierung von Minsk, die von Frankreich und Deutschland vermittelt wurden. In diesen Gesprächen im Februar weigerte Selenskijs Regierung sich urplötzlich, auch nur mit den Abgesandten der Rebellen zu sprechen, was jede Übereinkunft unmöglich machte. Und in der Zwischenzeit hatte es Entwicklungen wie die folgende gegeben, was jüngst vom *Wallstret Journal* publiziert wurde: Der deutsche Kanzler Olaf Scholz soll Selenskij am 19. Februar geraten haben, dass „die Ukraine auf ihre NATO-Ambitionen verzichten und Neutralität erklären sollte, als Teil eines weiter gefassten Sicherheitskonzepts zwischen Russland und dem Westen.“ Und dieses von Scholz vorgeschlagene Abkommen würde von Biden und Putin mitunterschrieben, aber Selenskij wollte das nicht und lehnte es rundheraus ab.

Aber meine Frage ist, nachdem es ziemlich klar ist, dass Selenskij und die Ukraine die Diplomatie sabotiert haben, was ist mit Russland? Hat Russland alle diplomatischen Mittel eingesetzt, um einen Krieg zu vermeiden? Zum Beispiel, warum geht es nicht zur UN und beantragt einen Blauhelmeinsatz für den Donbass? Und zweitens, wenn das Ziel ist, die Bevölkerung des Donbass zu schützen, warum invadiert man dann nicht nur im Donbass, sondern auch weit davon entfernt?

Nun, ich glaube, die Russen haben ihr Vertrauen in den Westen komplett verloren. Ich glaube, das ist der Hauptgrund. Sie vertrauen dem Westen nicht mehr, und deswegen, glaube ich, setzen sie auf einen vollständigen militärischen Sieg, um eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen.

Ich glaube, dass Selenskij … ich bin nicht sicher, dass er dem Frieden so abgeneigt ist. Ich glaube, er kann es sich nicht leisten, Frieden zu schließen. Ich glaube, dass er von Anfang an gefangen war zwischen… Sie erinnern sich, er wurde gewählt für die Idee, im Donbass Frieden zu stiften. Das war sein Ziel, das war seine Agenda als Präsident.

#Europa blockiert den Frieden

Aber ich glaube, der Westen – besonders die Amerikaner und Briten – wollten nicht, dass es zu diesem Frieden kommt. Und natürlich die Deutschen und Franzosen, die Garantiemächte für die ukrainische Seite der Minsker Vereinbarung sind, haben das – ihre Funktion – nie implementiert. Sie haben schlicht und einfach ihren Job nicht gemacht. Das gilt besonders für Frankreich, das gleichzeitig im UN-Sicherheitsrat sitzt. Denn, zur Erinnerung, die Minsker Vereinbarung war auch Gegenstand einer Resolution des Sicherheitsrates. Also haben sie nicht nur die in Minsk geleisteten Unterschriften der Parteien, sondern auch jene der Mitglieder des Sicherheitsrates, die für die Implementierung verantwortlich waren – und keiner wollte, dass diese Vereinbarung umgesetzt wird. Das scheint zu bedeuten, dass Selenskij unter großem Druck stand, so dass er nicht einmal mit den Repräsentanten der beiden abtrünnigen Republiken sprechen wollte.

Damit haben wir übrigens ein Beispiel gesehen, mehrere Hinweise, dass Selenskij nicht die volle Kontrolle über das hatte und hat, was in der Ukraine geschieht. Ich glaube, die, sagen wir, rechtsextremen Nationalisten – es ist schwierig, das richtige Wort zu finden, es ist eine Mischung von allem – aber eindeutig diese Kräfte haben ihn bisher gehindert, irgendetwas zu tun. Und wir sehen auch, dass er in der Frage des Friedens heftig schwankt. Sobald er anfing – Sie erinnern sich an das Ende vom Februar, als er seine Bereitschaft zu Verhandlungen bekundete, die damals in Belarus stattfinden sollten – Stunden, nachdem er das entschieden hatte, kam die EU mit einer Entscheidung, der Ukraine für eine halbe Milliarde Waffen zu liefern. Offenbar unternahmen die Amerikaner, aber wahrscheinlich der ganze Westen, jede mögliche Anstrengung, eine politische Lösung des Konfliktes zu verhindern. Und ich glaube, die Russen verstehen das genau.

#Der Plan zur Schwächung Russlands

Nun müssen wir auch wissen, dass die Russen ein ganz anderes Verständnis vom Krieg haben als westliche Länder, besonders die USA. Im Westen neigen wir dazu, wenn wir verhandeln, tun wir das bis zu einem bestimmten Punkt und hören dann auf, und der Krieg beginnt. Und dabei bleibt es dann. Ganz anders bei den Russen. Man fängt zwar Krieg an, aber die Diplomatie läuft immer parallel, zugleich mit dem Kriegsgeschehen. Man benutzt mentalen Druck und versucht, ein Ziel zu erreichen, auch mit Diplomatie. Das erinnert sehr an Carl von Clausewitz, den preußischen General und Militärtheoretiker, von dem der berühmte Satz stammt, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Genauso sehen die Russen das auch. Deshalb boten sie während der gesamten Offensive, und schon bei deren Beginn, Verhandlungen an. Denn die Russen wollen sicherlich verhandeln, aber sie trauen den westlichen Ländern – ja dem Westen insgesamt – nicht, die Verhandlungen zu erleichtern. Und deshalb kamen sie auch nicht zur [Münchener] Sicherheitskonferenz. Außerdem wissen sie wahrscheinlich, dass dieser Krieg, den wir jetzt sehen, Teil eines größeren Krieges gegen Russland ist, der schon vor Jahren begonnen wurde (6), und ich glaube, in Wirklichkeit ist die Ukraine nur… in Wirklichkeit interessiert sich niemand für die Ukraine, denke ich. Das eigentliche Ziel, der Masterplan ist, Russland zu schwächen, und wenn sie mit Russland fertig sind, dann machen sie dasselbe mit China, wie man heute schon unschwer erkennen kann. Ich meine, wir haben gesehen, dass bis jetzt die Ukrainekrise den Rest überschattet hat, aber etwas ganz Ähnliches könnte zum Beispiel mit Taiwan passieren. Den Chinesen ist diese Möglichkeit voll bewusst. Deshalb werden sie auch nicht ihre, sagen wir, Beziehung zu Russland aufs Spiel setzen.

Nun, wenn der Name des Spiels ist, Russland zu schwächen, und wie Sie wissen, hat die RAND Corporation mehrere Studien durchgeführt, wo es um Ausdehnung oder Überdehnung von Russland ging und so weiter, und wo das ganze Szenario…

Nur zur Erklärung für alle Zuschauer, die es noch nicht wissen: RAND ist eine dem Pentagon nahe Denkfabrik, und sie machten 2019 eine Studie, in der sie nach Wegen suchten, wie die USA Russland imperial überdehnen und aus dem Gleichgewicht bringen könnten, und als Top-Option stellte sich heraus, Waffen in die Ukraine zu schicken und dort einen Konflikt zu entfachen, der Russland mit hineinziehen würde, also genau das Szenario, das jetzt eingetreten ist.

Hundertprozentig. Und ich halte das für einen ausgereiften Plan zur Schwächung von Russland, und genau das geschieht jetzt vor unseren Augen. Wir hätten es voraussehen können, und ich denke, Putin hat es vorausgesehen. Und ich glaube, er verstand in den Tagen vor dem 24. Februar, dass er nicht nichts tun konnte. Er musste irgendetwas tun.

#Putins Entscheidung

Die öffentliche Meinung in Russland würde es nie verstehen, wenn Russland dabei zuschauen würde, wie die Donbass-Republiken von der Ukraine invadiert oder zerstört würden. Niemand würde das verstehen. Also musste er etwas machen. Und dann – Sie erinnern sich, was er am 24. Februar sagte: Egal was er tun würde, das Sanktionspaket für Russland würde das gleiche bleiben. Er wusste also, dass die kleinste Intervention im Donbass ein massives Sanktionspaket nach sich ziehen würde, das war klar. Deshalb entschied er sich gleich für die maximale Option. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, die Republiken, ohne staatliche Anerkennung, nur an der Kontaktlinie zu verteidigen. Aber er entschied sich für die größere Variante, die Kräfte zu zerstören, die den Donbass bedrohten.

Und dann haben Sie diese beiden [von Putin benannten] Ziele: Entwaffnung, das bezieht sich nicht auf die ganze Ukraine, sondern sollte die militärische Bedrohung für den Donbass entschärfen, das war das Hauptziel. Was er sagte, wurde vielfach missverstanden, und natürlich waren seine Worte nicht sehr klar, aber so ist nun mal die russische Art zu kommunizieren und zu agieren. Man hält sich Optionen offen, aus diesem Grunde sagen sie nur so viel wie unbedingt nötig. Und das ist genau das, was Putin am 21. meinte, als er von der Entschärfung der militärischen Drohung gegen den Donbass sprach. Sein zweites Ziel, Entnazifizierung, läuft nicht darauf hinaus, Selenskij umzubringen oder die Regierung in Kiew abzusetzen. Wie ich schon sagte, Krieg bedeutet für die Russen eine Kombination von Kampfhandlungen mit Diplomatie. Bei dieser Vorgehensweise braucht man eine intakte Führung als Ansprechpartner für die Verhandlungen, und deshalb scheiden alle Varianten aus, in denen die Kiewer Führung umgebracht oder zerstört wird.

Also geht es bei der „Entnazifizierung“ nicht um jene 2,5 Prozent der rechtsextremen Parteien in Kiew. Sondern um die 100 Prozent von Asow-Leuten in Mariupol oder Charkow, und derartige Gruppen. Das wird immer missverstanden. Es geht definitiv um jene Gruppen, die tatsächlich 2014 von den Ukrainern rekrutiert wurden, um, sagen wir, [potentielle Rebellen] zu beschwichtigen und zu kontrollieren (4). Mir fehlt das passende Wort dafür, aber um im Donbass zu kämpfen. Diese Leute sind Extremisten, Faschisten, und sie sind gefährlich.

#Überläufer und andere Probleme

Und eine der Aussagen, die Sie in Ihrem Artikel machen und die ich noch nicht kannte, ist, dass ein Teil des Grundes, warum die Ukraine diese Milizen braucht, ultrarechte Milizen und ausländische Söldner, die hohe Rate von Überläufern innerhalb der eigenen Militärhierarchie ist, wobei es sich teils um Leute handelt, die nicht dienen wollen, und teils um solche, die im Donbass zu den Rebellen überlaufen.

Genau. Wie ich schon sagte, beobachtete ich für die NATO den Waffentransfer in den Donbass hinein, und was wir fanden, war, wir konnten keinen russischen Import oder Export von Waffen in Richtung Donbass feststellen. Aber was wir bemerkten, war das Überlaufen ganzer Einheiten, bis hin zur Bataillonsstärke. Und im Jahr 2014 stammte der größte Teil der schweren Artillerie, die der Donbass dazugewann, von solchen Überläufern. Ganze Einheiten wechselten die Seiten komplett mit Mannschaften, Munition und allem. Der Grund ist, dass die ukrainische Armee in Personal und Organisation regional strukturiert war. Dadurch gab es viele russischsprachige Soldaten. Wenn sie zum Kämpfen in den Donbass geschickt wurden, wollten sie nicht gegen ihre russischsprachigen Kollegen kämpfen und zogen es vor, überzulaufen.

Hinzu kommt, dass in den Jahren 2014 bis 2017 die Führung der ukrainischen Armee extrem schwach war. Es gab eine Menge Korruption. Ich bin mir nicht sicher, ob das Militär für diese Art von Kriegsführung vorbereitet war, ein Krieg, der seitens der Rebellen ganz ähnlich geführt wurde wie heute und in den letzten Jahren im Nahen Osten. Das bedeutet sehr mobile Einheiten, die sehr schnell die Position wechseln, viel schneller als die schweren Einheiten der ukrainischen Armee. Und wenn wir uns die verschiedenen Schlachten ansehen, die 2014/15 ausgetragen wurden, dann waren es nie die Ukrainer, die vorne lagen. Sie hatten nie die Initiative, sondern die lag immer bei den Rebellen.

Und – das ist wichtig – es handelte sich nicht um Guerillakämpfer. Sondern es war einfach eine extrem mobile Art von Kriegsführung. Hinzu kam, die ukrainische Armee war generell nicht wirklich bereit zu kämpfen. Es gab eine Menge Selbstmorde, Alkoholprobleme, Unfälle und Morde in der ukrainischen Armee. Und das führte dazu, dass viele junge Ukrainer, um nicht gezogen zu werden, das Land verließen. Und was ich hier sage, wurde aufgezeichnet und stand in den offiziellen Berichten Großbritanniens und der USA, glaube ich. Es gibt sehr interessante Berichte über die niedrige Rekrutierungsrate von Einzelpersonen, weil einfach niemand in die Armee wollte.

#Milizen und Söldner

Und das ist der Grund, warum die NATO involviert war, auch ich war Teil eines solchen Programms, das das Image der Armee und die Rekrutierungsbedingungen und Derartiges verbessern sollte. Aber die Lösungen, die die NATO lieferte, waren institutioneller Art und würden lange dauern, und um den Mangel an Personal zu kompensieren, und wahrscheinlich auch, um aggressivere Soldaten zu bekommen, fingen sie an, Internationalisten und Söldner zu nehmen, das sind Tatsachen. Niemand kennt die genaue Zahl dieser Paramilitärs und rechtsextremen Milizionäre. Reuters schätzt ihre Zahl auf 100.000 – ich kann dazu nichts sagen. Aber es passt zu dem, was wir jetzt in den Regionen des Landes sehen. Dabei haben die Paramilitärs keine Rolle im mobilen Krieg, und ich würde sagen, auch nicht auf dem Schlachtfeld. Sondern sie wurden eingesetzt, um in den Städten für Ordnung zu sorgen.

Genau das sehen wir heute zum Beispiel in Mariupol, wo diese Leute sich aufhalten, denn sie sind für Feldoperationen nicht ausgerüstet. Ihre Ausrüstung ist für den Straßenkampf. Sie haben leichte Waffen und ein paar gepanzerte Fahrzeuge, aber nicht wirklich Panzer oder Ähnliches. Es sind also definitiv Einheiten für die urbane Kriegsführung. So ist das in allen großen Städten. Und diese Typen sind extrem fanatisch, kann man sagen, und extrem gefährlich. Das erklärt die Schlachten und sehr brutalen Kämpfe in Mariupol, als Beispiel, und Dasselbe steht uns wahrscheinlich auch in Charkow bevor.

#Bucha und Kramatorsk

Bevor wir zum Schluss kommen, möchte ich Sie zu den jüngsten Gräueltaten befragen, über die berichtet wurde. Es gab Berichte über russische Massentötungen von Zivilisten in der Stadt Bucha sowie Tötungen ukrainischer Kräfte, und dann hatten wir den Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk. Ich frage mich, ob Sie diese beiden Fälle ausgewertet haben und was Sie darüber denken.

Zwei Dinge. Erstens, was wir in beiden Fällen an Indizien haben, deutet für mich darauf hin, dass die Russen nicht verantwortlich waren. Aber, wir wissen es natürlich nicht. Ich glaube, so ehrlich müssen wir sein, wir wissen nicht, was passiert ist. Das Wenige, was wir wissen, alles, die ganzen Einzelheiten scheinen auf die Ukrainer hinzuweisen, aber wir wissen es nicht.

#Europa spielt mit dem Feuer

Das was mich an der ganzen Sache stört, ist nicht, dass wir so wenig wissen. Solche Situationen, wo man die Verantwortlichen nicht festnageln kann, sind in Kriegszeiten normal. Was mich stört, ist, dass westliche Führer anfingen, Entscheidungen zu treffen, ohne zu wissen, was los ist, was passiert ist. Und das stört mich ganz gewaltig. Bevor irgendein Ergebnis von irgendeiner Untersuchung vorliegt – und das sollte eine internationale, unparteiische Untersuchung sein. Ohne das zu haben, fangen wir schon an, Sanktionen zu verhängen, Entscheidungen zu treffen – ich denke, das zeigt, wie pervertiert dieser ganze Entscheidungsprozess im Westen ist.

Seit Februar oder noch davor, denn wir hatten etwas Ähnliches nach der Entführung – oder Nicht-Entführung, denn es war keine – dieser Zwischenfall in Belarus mit dem Ryanair-Flug. Das war im letzten Mai, 2021, dass die Leute schon Minuten, nachdem die Presse darüber berichtet hatte, reagierten, obwohl sie nicht einmal wussten, was los war!

Das ist die Art und Weise, wie die politische Führung in Europa reagiert – auf EU-Ebene, aber auch in den einzelnen Ländern. Als Geheimdienstoffizier stört mich das. Wie kann man so schwerwiegende Entscheidungen treffen (5) für die Bevölkerung oder für ganze Länder, die sogar unsere Wirtschaften durcheinanderbringen?

Es schlägt also auf uns selbst zurück. Aber wir entscheiden ja auch, ohne wirklich den Sachstand zu kennen. Und das, glaube ich, zeigt, was für eine unreife Führungsschicht wir generell im Westen haben. Das gilt sicherlich für die USA, aber ich glaube, an diesem Beispiel der Ukrainekrise sieht man, dass die europäische Führungsebene nicht besser ist als das, was wir in den USA haben. Wahrscheinlich eher noch schlimmer, denke ich manchmal. Das ist es, was uns wirklich beunruhigen sollte, dass wir Leute haben, die ohne jede Grundlage Entscheidungen treffen, und das ist extrem gefährlich.

Jacques Baud, ehemaliger strategischer Geheimdienstoffizier beim Swiss Strategic Intelligence Service, der auch eine Reihe hoher Sicherheits- und Beratungspositionen bei der NATO, den UN und beim Schweizer Militär innehatte. Jacques, vielen Dank für Deine Zeit und Deine Erkenntnisse.

Danke für alles. Vielen Dank.

Anmerkungen des Übersetzers:

  1. … durch ukrainische Einheiten…
  2. … der Waffenstillstand im Rahmen der Minsker Vereinbarung…
  3. In diesen Tagen fanden, nach Berichten des russischen Senders RT, in großem Umfang Evakuierungen von Zivilisten aus dem Donbass nach Russland statt, man rechnete also wirklich mit einem ukrainischen Angriff.
  4. Eine solche rechtsradikale Gruppe, die von Kiew in die Schwarzmeermetropole Odessa geschickt worden war, verübte dort am 2. Mai 2014 ein Massaker an prorussischen Aktivisten mit mindestens 42 Toten. Der Vorfall konnte bis heute nicht juristisch aufgearbeitet werden, da die Ermittlungsbehörden sich auf die Untersuchung prorussischer Aktivisten als Verdächtige beschränkten (Quelle: Wikipedia).
  5. Der europäische Luftraum wurde für Flugzeuge belarussischer Herkunft – insbesondere für alle Flüge des staatlichen Carriers Belavia – gesperrt. Die meisten Airlines in der EU wurden angehalten, den belarussischen Luftraum nicht zu überfliegen. Auch Wirtschaftssanktionen wurden angedacht. Wir haben ausführlich über den Zwischenfall [berichtet.](rubikon.news/artikel/das-ukraine-deja-vu ).
  6. Das klingt nach Dramatisierung, doch die Fakten sprechen für sich: siehe etwa rubikon.news/artikel/das-gesetz-des-dschungels (Putin hat es angekündigt), rubikon.news/artikel/bewahrte-kriegstreiberin und rubikon.news/artikel/kalte-kriegerin (Victoria Nuland und der Maidan-Putsch), rubikon.news/artikel/der-vernichtungsfeldzug (Das britische Netzwerk zur Destabilisierung der Nachbarländer Russlands).

Link auf die Originaldatei (Video plus Transcript).


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