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Titel: Noam Chomsky, Marv Waterstone: „Konsequenzen des Kapitalismus“

Datum: 16. Juni 2022 um 14:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Aufrüstung
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Das kapitalistische System bedroht heute alles Leben auf dem Planeten. Doch Noam Chomsky und Marv Waterstone sehen diese Krise als große Chance, die kapitalistischen Strukturen herauszufordern. Dafür müssen wir zuerst verstehen, wie unser Leben, unsere Wahrnehmung und unser „gesunder Menschenverstand“ tatsächlich von den Bedürfnissen und Interessen der herrschenden Klassen bestimmt werden. Chomsky und Waterstone decken in ihrem neuen Buch „Konsequenzen des Kapitalismus“ diese oft unsichtbaren Verbindungen der strukturellen Macht auf. Ein Auszug.

Eine Konsequenz des US-Imperialismus ist die enorme Zahl von US-Stützpunkten. Hier in den USA ist man sich dessen gar nicht bewusst. Es wird nicht viel darüber berichtet. Die Definition von »Stützpunkt« ist ebenfalls gar nicht so einfach, aber auch hier machen wir einfach von der bestmöglichen Schätzung Gebrauch. Sie stammt von Dave Vine, der darüber 2015 in der Zeitschrift In These Times schrieb und seine Zahlen kürzlich aktualisiert hat:

»Während es in den Vereinigten Staaten selbst keine permanenten selbständigen Stützpunkte gibt, haben die USA mittlerweile an die 800 Stützpunkte in anderen Ländern. 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 62 Jahre nach dem Koreakrieg haben wir laut Pentagon in Deutschland immer noch 174, in Japan immer noch 113 und in Korea immer noch 83 ›Basis-Stützpunkte‹, und in etwa 80 Ländern rund um den Planeten befinden sich Hunderte von weiteren Stützpunkten. […] Dennoch ist nur wenigen Amerikanern klar, dass die USA wahrscheinlich mehr Stützpunkte im Ausland haben als irgendein anderes Volk, irgendeine andere Nation und irgendein anderes Imperium der Geschichte.

Nur selten fragt jemand, ob wir tatsächlich Hunderte von Stützpunkten in Übersee brauchen oder ob die Vereinigten Staaten sich diese angesichts der geschätzten jährlichen Kosten von mindestens 156 Milliarden Dollar überhaupt leisten können. Auch darüber wird kaum gesprochen, aber es ist eine existentielle Tatsache.

Nur selten fragt sich jemand, wie wir uns fühlen würden, wenn China, Russland oder der Iran auch nur einen einzigen Stützpunkt in der Nähe unserer Grenze oder gar in den Vereinigten Staaten selbst errichten würden.« (Vine 2015)

Die Prämisse hinter diesen weltweiten Stützpunkten ist tatsächlich sehr interessant. Sie besagt, dass die USA (als unentbehrliche Nation) ein praktisch unbestreitbares Recht haben, überall auf der Welt ihre Stützpunkte zu errichten, während schon der bloße Gedanke, dass andere Länder dasselbe tun könnten, so gut wie unvorstellbar ist. Es gab da allerdings ein interessantes Gegenbeispiel. 2007 hieß es in einem Bericht von Reuters:

»Ecuador möchte einen Militärstützpunkt in Miami errichten. Tatsächlich sagte Rafael Correa, wenn die Vereinigten Staaten weiterhin ihren Luftwaffenstützpunkt [in Manta] an der Pazifikküste Ecuadors benutzen wollten, müsse Washington ihm die Eröffnung eines Militärstützpunktes in Miami erlauben.«

Nun, hat irgendjemand den Stützpunkt Ecuadors in Miami zu Gesicht bekommen? Nein? Ecuador hat ja dort auch tatsächlich keinen Stützpunkt bekommen, aber der US-Stützpunkt in Manta wurde geschlossen. Daran konnte man sehen, wie lachhaft die Idee ist, dass wir auch nur in Betracht ziehen würden, einem anderen Land einen Stützpunkt in den USA zu geben. Das ist schlicht nicht möglich.

Und schließlich müssen wir zu den schon erwähnten wirtschaftlichen Kosten von 156 bis 157 Milliarden Dollar auch einen menschlichen Tribut für die Stützpunkte hinzurechnen. Sie sind für die Familien der Soldaten eine enorme Belastung. Rings um die US-Militärstützpunkte gibt es ein enormes Ausmaß an sexueller Gewalt. Wo immer sie errichtet werden, verursachen die Stützpunkte auch ein enormes Maß an Umweltschäden.

Sie werden außerdem allein schon dadurch, dass sie da sind, zum Ziel antiamerikanischer Agitation und antiamerikanischer Gefühle. So war ja die US-Militärprä­senz in Saudi-Arabien einer der expliziten Gründe, die Osama bin Laden für die Angriffe vom Elften September gab: Die Barbaren hätten sich im Heiligen Land niedergelassen.

Diese Stützpunkte begünstigen außerdem die Denkbarkeit von Kriegen und machen damit die Welt gefährlicher. Schon die Tatsache, dass wir dort Soldaten stationiert haben, bedeutet, dass wir über militärische Lösungen für bestimmte Probleme nachdenken.

Einen sehr guten Überblick auf diese gesamte Thematik liefert übrigens der gerade erst auf sehr gute Art aktualisierte Bericht von Nick Turse, »Stützpunkte, Stützpunkte, Überall … Außer im Bericht des Pentagon«. (Turse 2019)

Zu all dem bisher Diskutierten kommen noch die enormen finanziellen Kosten des Militarismus hinzu. Die heutigen Militärausgaben der USA sind inflationsbereinigt höher als je zuvor mit Ausnahme der intensivsten Zeit des Irakkriegs. Das Budget für 2019 beträgt 716 Milliarden Dollar. Und das ist nur der Betrag, der in den Büchern erscheint.

Laut dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) übertreffen die Militärausgaben der USA die aller anderen Länder der Welt. Die weltweiten Militärausgaben beliefen sich 2017 auf 1,74 Billionen Dollar und waren damit gegenüber dem Vorjahr um ein Prozent gestiegen. An dieser Gesamtsumme hatten die USA einen Anteil von 35 Prozent. Die US-Militärausgaben sind etwa genauso hoch wie die acht nächsthöchsten Militärhaushalte der Welt zusammengenommen. Ein kürzlich erschienener Artikel von Michael Klare zum Thema »Übertreffen« vertritt die These, dass wir nun von der simplen Eindämmung, die im Wesentlichen die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte, dazu übergegangen sind, überall und zu jeder Zeit die vorherrschende Macht sein zu wollen, und dass wir offenbar bereit sind, alle dafür notwendigen Kosten an Blut und Geld zu zahlen (Klare 2018). Mit »wir« meine ich mich selbst und all meine Mitbürger. Erinnern wir uns daran, dass all das vom Steuerzahler bezahlt wird.

Mit ihrem Anteil von 35 Prozent an den Militärausgaben liegen die USA mit großem Abstand an der Spitze. Ich schätze, wir »übertreffen« hier das Nötige. Ganz im Gegensatz zu einer solchen Politik wurden nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung der Vereinigten Staaten und wichtiger Verbündeter die Vereinten Nationen gegründet, die sich die Bewahrung des Friedens durch internationale Abkommen und kollektive Sicherheit zum Ziel setzten und nichtmilitärische Mittel wie Diplomatie und Ähnliches anstrebten.

Titelbild: max.ku/shutterstock.com

Noam Chomsky, Marv Waterstone: „Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand“, 464 Seiten, aus dem Englischen von Michael Schiffmann, Westend Verlag, 13.6.2022


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