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Titel: „Wachstum“ – Eine Streitschrift stellt zwei Positionen gegenüber

Datum: 17. September 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Postwachstumskritik, Rezensionen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Es gibt ein breites Spektrum an Themen, die kontrovers diskutiert werden. Eines von ihnen stellt das wirtschaftliche Wachstum dar. Während dessen Befürworter in ihm die Grundlage für Wohlstand und technische Entwicklung sehen, machen die Kritiker ihn für Umweltschäden, Überkonsum oder Klimawandel verantwortlich. Zwei dieser gegensätzlichen Positionen präsentiert der Westend Verlag in seinem Bändchen „Wachstum“, um die Leser zum Selberdenken zu animieren. Es soll das offene Gespräch fördern. „Nur so“, heißt es in der Vorbemerkung, „können Gedanken sich formen und umformen, nur so kann Neues entstehen, kann Gesellschaft wachsen und sich entwickeln.“ Von Eugen Zentner.

„Wachstum“ ist der Erstling aus der Reihe „Streitfragen“, mit der der Westend Verlag die Lust wecken will, eigene Positionen zu entwerfen. Allerdings soll die Debatte nicht zum „Wettkampfspektakel“ verkommen. Es geht nicht um Angriff und Verteidigung. Stattdessen verfassen die Autoren ihre Beiträge ohne die Kenntnis des jeweils Anderen. Sie müssen sich weder rechtfertigen noch auf die Gegenposition direkt eingehen, sondern erhalten genügend Platz, die eigene Betrachtungsweise zu entfalten. Die Reihe widmet sich so brisanten Themen wie „Identitätspolitik“, „Transhumanismus“ oder „Digitalisierte Gesundheit“ und bringt dafür namhafte Experten aus Publizistik und Wissenschaft zusammen. In „Wachstum“ präsentieren die Philosophin Katja Gentinetta und der Volkswirt Niko Paech ihre Positionen. Während der Professor für Produktion und Umwelt als einer der wichtigsten Vertreter der Wachstumskritik gilt, verteidigt die selbstständige Publizistin das Prinzip des Wachstums als Voraussetzung für die stete Steigerung des Lebensstandards.

Unterschiede auch im Stil

Die beiden Autoren unterscheiden sich nicht nur in ihrer Position, sondern auch im Stil. Legt Gentinetta ihre Sicht in einer einfachen wie verständlichen Sprache dar, dominiert bei Paech ein eher wissenschaftlicher Duktus, der die Lektüre unnötig verkompliziert. Die Philosophin schreibt anschaulicher, der Volkswirt sehr abstrakt. Seine Hauptthese lautet: „Jedes Mehr an materiellen Freiheiten wird zwangsläufig mit einem Verlust an nutzbaren Ressourcen und einer Zunahme ökologischer Schäden erkauft.“ Paech spricht sich daher für eine Postwachstumsökonomik aus, die eine „systemische Vermehrbarkeit materieller Handlungsspielräume im endlichen System Erde“ verneint. Es ist ein Plädoyer für ein „Null-Wachstum“, das der Volkswirt unter anderem damit verteidigt, dass industrieller Wohlstand nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden könne: „Eine ökologieverträgliche Wirtschaft kann niemals wachsen, während eine wachsende Ökonomie niemals ökologieverträglich sein kann.“

Katja Gentinetta sieht das anders. Null-Wachstum beschreibt sie als ein „Wohlstandsphänomen“. Es sei etwas für jene, die schon alles haben. Probleme wie Ressourcenverbrauch, Umweltschäden, Überkonsum und Klimawandel, argumentiert die politische Philosophin, könnten nur gelöst werden, wenn das Wirtschaftswachstum weiterhin im Fokus bleibt. Um es umweltfreundlich zu gestalten, bedürfe es bloß eines einzigen, aber zentralen ökonomischen Prinzips: „Jegliche Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen muss den reellen, tatsächlichen Preis abbilden.“ Es müssten nicht nur die direkten Produktionskosten einberechnet, sondern auch die indirekten Folgekosten, die bei der Natur anfallen: „die für genutzte, übernutzte oder verunreinigte Böden und Gewässer oder in verschmutzter Luft“.

Beispiel Griechenland

Wie nicht nachhaltiges Wachstum aussieht, veranschaulicht die Philosophin am Beispiel von Griechenland. Der Staat im Süden Europas bekam vor der Finanzkrise günstige Kredite, investierte sie aber nicht in wirtschaftliche Projekte und innovative Technologien, sondern in die Bürokratie. Nicht die Volkswirtschaft wuchs, sondern der Staat. Als die Finanzierung des Apparats allmählich zu teuer wurde, musste wieder gespart werden. So entstand eine Abwärtsspirale: „Verluste und Bankrotte von Unternehmen erhöhen die Arbeitslosigkeit“, schreibt Gentinetta, „senken die Nachfrage und führen zu weiteren Unternehmensverlusten, womit sich die Krise weiter verschärft.“ Wer also nicht nur die Natur retten möchte, argumentiert sie, sondern auch mehr Menschen ein besseres Leben ermöglichen will, müsse auf Wachstum setzen: „ein Wachstum, das sich der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit verpflichtet“.

Es sind solche griffigen Beispiele, die Gentinettas Beitrag so lesenswert machen. Paech hingegen überzeugt weniger mit seinem Plädoyer für das Null-Wachstum als mit der Kritik am Alarmismus und Missmanagement der grünen Politik in den letzten Jahren. Der deutschen Energiewende stellt der Professor ein schlechtes Zeugnis aus, weil die Wertschöpfungsbeiträge der erneuerbaren Energien ihm zufolge „bestenfalls einen Strohfeuereffekt“ bilden. Das Problem werde lediglich verlagert: „Vermeintlich grüne Technologien lösen ohnehin keine ökologischen Probleme, sondern transformieren diese nur in eine andere stoffliche, räumliche, zeitliche oder systematische Dimension.“ Seine Hauptthese in diesem Zusammenhang beläuft sich darauf, dass diese Technologien für die ökonomische Expansion instrumentalisiert werden. Allerdings „zerstören sie, was sie zu schützen vorgeben“.

Das ist zweifellos richtig, wie unter anderem die investigative Dokumentation „Headwind“21“ des niederländischen Filmemachers Marjin Poels verdeutlicht. Auch für die vermeintlich grünen Technologien werden knappe Ressourcen verbraucht, Wälder gerodet und Gewässer verunreinigt. Dennoch ist das kein Argument für ein Null-Wachstum. Es kommt nämlich darauf an, ob Ressourcen schlicht verschwendet werden oder geschont. Nicht weniger wichtig ist in diesem Zusammenhang, welche Ressourcen verbraucht werden – regenerative oder nicht erneuerbare. Wachstum kann sowohl quantitativ als auch qualitativ sein, sowohl materiell als auch immateriell. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Es müssen smarte und wirklich nachhaltige Technologien her. Doch die können nur entstehen, wenn es weiterhin ein wirtschaftliches Wachstum gibt bzw. dieses weiterhin im Fokus ökonomischen Handelns bleibt. Denn das, um es mit Gentinetta zu sagen, trägt zur technischen Entwicklung bei – zu Technologien, die auf einem geringeren Einsatz materieller Ressourcen beruhen. Um einiges wichtiger sind da Kreativität und Innovationskraft.


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