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Titel: Kolumbiens erste Linksregierung: Sich wie Erwachsene verhalten

Datum: 27. September 2022 um 8:44 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Wahlen
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Es bedarf großer Anstrengungen, wenn die Regierung von Gustavo Petro ihre Ziele des gesellschaftlichen Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erreichen will. Die Aufgabe wäre gut gelöst, wenn in vier Jahren Petros Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl Kolumbiens dieselbe politische Überzeugung vertritt. Von Yezid Arteta.

Das Auto bahnt sich seinen Weg durch die Menge. Der Fahrer fährt vorsichtig. Es wäre nicht gut, einen der jungen Leute zu überfahren, die den beiden Männern auf dem Rücksitz zujubeln. Sie sind die Chefs der neuen Regierung. Sie tragen keine Krawatten. Sie haben im Wahlkampf etwas versprochen, aber sie sind mit einer dunklen Realität konfrontiert worden. Das Land ist bankrott. Die Verschuldung ist ein Superlativ. Die Gläubiger machen Druck. Der Finanzminister beobachtet das Volk durch das Panzerglas. Er wendet sich an den Premierminister und sagt: “Sie sind unsere Stärke, sie können sich nur gegen uns wenden, wenn wir sie im Stich lassen oder sie verraten”.

Die Szene stammt aus dem (in Deutschland nie aufgeführten) Film „Adults in the room“, bei dem der preisgekrönte Regisseur Costa-Gavras Regie führte. Die beiden Männer auf dem Rücksitz sind Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis, gespielt von professionellen Schauspielern. Wir schreiben das Jahr 2015. Griechenland steht am Rande des Bankrotts. In einem Referendum stimmte die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit gegen die von der Troika (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) auferlegte brutale Rettungsaktion. Tsipras akzeptiert entgegen dem Mandat des Volkes die Bedingungen der Troika, um politisch zu überleben. Varoufakis tritt zurück. Das griechische Volk trägt die Konsequenzen. Im Jahr 2019 verliert Syriza, die Partei von Tsipras, die Wahlen und geht in die Opposition.

Gustavo Petro und Francia Márquez, das progressive Tandem, das seit dem 7. August 2022 an der Spitze Kolumbiens steht, muss in den nächsten vier Jahren beweisen, dass die Linke es besser machen kann als ihre Vorgänger. Es ist eine schwierige Aufgabe, aber sie ist zu bewältigen. Die Zukunft des Landes und der fortschrittlichen Kräfte hängt davon ab, was diese Regierung tut. Die ungünstigen globalen Wirtschaftsaussichten, die endemische Gewalt, die tiefsitzende Korruption und ihre weitreichenden Verästelungen sowie das Mediengefüge sprechen dagegen. Die kolumbianische Linke hat gute Muskeln, denn sie rudert seit einem Jahrhundert gegen alle Widrigkeiten an. Doch diesem Muskel muss ein Kopf gegeben werden.

1. Symbolik und Realität

Symbolische Handlungen bewegen uns. Es ist unmöglich, das Weinen zu vermeiden. Sie machen uns menschlich. Aber nichts ist so bewegend wie die Realität. Im Kino bewegt uns ein Film, aber wenn wir auf die Straße zurückkehren, spüren wir die Ohrfeige der realen Welt. Eine Regierung, eine Linke, eine Partei, ein Kollektiv, das nur von Symbolen lebt, kann nicht ernst genommen werden. Sie müssen gemacht werden, aber ohne sie zu verherrlichen. Die Realität kann auch auf andere Weise verkürzt werden. Ein guter Schüler sollte eine Medaille, aber auch ein Stipendium erhalten. Die 50 verbindlichen Regional Dialoge, die von der Petro-Regierung in der Stadt Turbaco initiiert wurden, sind, wenn sie zustande kommen, eine gute Möglichkeit, die Realität zu verändern. „Die Zeit, die wir in Turbaco verbrachten, war eine der angenehmsten und nützlichsten“, schrieb Alexander von Humboldt einst in seinen Tagebüchern. Nützliche Dialoge, die die schmerzhafte Realität verändern könnten.

2. In oder außerhalb der Regierung?

Hunderte von Kadern und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern haben sich jahrelang aufgerieben und buchstäblich Hunger gelitten. Es scheint nachvollziehbar, dass die Regierung von Petro – für die sie seit Jahren gekämpft haben – ihre Nöte auf staatlichem Wege lindert. Sie in Positionen beruft, die ihren Kämpfen entsprechen. Den gesellschaftlichen Kampf institutionalisieren. Doch was passiert, wenn alle sozialen Führer Beamte werden? Wer wird dann noch übrig bleiben, um die sozialen Bewegungen zu steuern? Das Fundament einer fortschrittlichen Regierung liegt in der sozialen Organisation. Ohne dieses Fundament wird die Struktur schwach oder bricht ganz zusammen. Die Niederlage von Syriza in Griechenland, die Schwächung von Podemos in Spanien oder der Alptraum der FMLN in El Salvador lassen sich unter anderem durch die Aushöhlung der sozialen und nachbarschaftlichen Bewegungen erklären. Wenn alle in der Regierung sind, wer macht dann die Politik?

3. Wirtschaft für die Mehrheit oder die Wenigen?

Präsident Petro und die Vize-Präsidentin Márquez müssen für das ganze Land regieren, ohne dabei die gesellschaftliche Mehrheit zu vergessen, welche sie in den Palacio de Nariño (der Regierungssitz) brachte. Das Zusammentreffen von Faktoren wie der Krieg in der Ukraine, die Unterbrechung der Handels- und Logistikkette, die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen, die Dürre und die Inflation zwingen die Regierungen, sich um das Schicksal der Arbeiterklasse zu kümmern. In Kolumbien haben bisher immer nur die Arbeitgeber das Wort ergriffen, aber nie die Arbeitnehmer. Die von Petro und anderen vorgeschlagene Prämie von 500.000 Peso (rund 120 Euro) für ältere Menschen ist eine Maßnahme zur rechten Zeit. Die Regierung sollte auf die Mächtigen des Landes hören, sich aber nicht von ihren Äußerungen einschüchtern lassen. Es ist keine Schande, eine Politik für die gesellschaftliche Mehrheit des Landes zu betreiben. Soziale Gerechtigkeit ist ein Konzept, das die gegenwärtige Regierung mit Sinn erfüllen muss.

4. Frieden mit Hindernissen

Es wäre gut, die ELN (Ejército de Liberación Nacional – Nationale Befreiungsarmee, Guerillagruppe marxistischer Prägung in Kolumbien) zu fragen, gegen wen sie noch zu den Waffen greift. Die Antwort würde viel zur Klärung der Verhandlungen beitragen. Politische Verhandlungen, versteht sich. Profitorientierte Organisationen – vor allem der Drogenhandel – sind eine andere Sache. Der Drogenhandel ist eine kapitalistische Wirtschaftstätigkeit, die unabhängig von den Machthabern ausgeübt wird. Den Narcos ist es egal, ob der Herrscher ein Faschist, ein Sozialdemokrat oder ein Bolschewik ist. Mexikos Präsident López Obrador zum Beispiel hat es nicht geschafft, sie zu besiegen. Es gibt Orte in Mexiko, an denen ein Narco mehr Macht hat als ein Gouverneur oder ein Bürgermeister. In Kolumbien, wie auch in Mexiko, ist der Drogenhandel eine Alchemie zwischen Politik, Wirtschaft und Wurzeln. Am besten wäre es, wenn die derzeitige Regierung mit internationaler Wirtschaftshilfe die Gewinne der Kokabauern verbessern würde, indem sie ihre Nahrungsmittelproduktion über dem realen Preis aufkauft. Ergänzt um Abschreckung oder Neutralisierung der Anpflanzung von Koka. Die Armee mit ihrer abschreckenden Feuerkraft kann Bauern begleiten, die den Übergang zur legalen Produktion vollziehen. Der Schutz der Bürger – ist das nicht die verfassungsmäßige Aufgabe der Streitkräfte?

5. Zuckerbrot oder Peitsche?

Sicherheit ist ein Thema, das der Linken beim Regieren Kopfzerbrechen bereitet. Wenn man den größten Teil seines Lebens damit verbracht hat, Steine zu werfen und Kugeln in die Rippen zu bekommen, ist es logisch, dass man unter „tombofobia“ (kolumbianischer Ausdruck für Angst vor Polizeigewalt) leidet. Ihr wart tadellose Oppositionelle. Ihr seid sogar auf Krücken zum Protest gegangen. Tränengas hat Euch regelmäßig die Luft zum Atmen genommen. Doch jetzt stellt sich heraus, dass Ihr an der Regierung seid. Ihr habt den Schlüssel zum „Repressionsapparat“, wie jener alte Marxist sagen würde.

Was tut Ihr jetzt? Der Polizei Paintball-Waffen geben? Das Problem ist nicht, ob die Polizei bewaffnet ist oder nicht. Das Problem ist, wie ihre Gehirne ausgestattet sind. Eine Änderung der Mentalität des Polizeiapparats braucht Zeit. Es handelt sich um eine Aufgabe, an der zivile Regierungen, Polizeikommandanten und Vertreter der Gesellschaft beteiligt sind. Am 4. September traf sich der Direktor der Nationalen Polizei, unterstützt von den Vereinten Nationen, mit Vertretern der „Frontlinie“ („Primera línia“ – loses Kollektiv von Demonstranten in Kolumbien oder auch Chile, die in der ersten Linie stehen und den Rest der Demonstranten vor der anrückenden Polizei beschützen). Dies ist ein guter Anfang, um den durch Demonstrationen verursachten materiellen Schaden zu minimieren, Provokateure zu neutralisieren, den Dialog zu fördern und den Protest zu gewährleisten. Die demokratische Kultur ist eine der unvollendeten Aufgaben Kolumbiens.

6. Bolschewistische, pragmatische oder Vogelscheuchen-Linke?

Der Umgang mit Euren Freunden von der Linken ist ein Akt des Glaubens. Die älteren, jakobinischen und widerspenstigen Menschen erwarten von der Regierung Petro ein Dekret, das dem von Lenin nach der Einnahme des Winterpalastes unterzeichneten gleichkommt oder besser ist. Die Faulen, Bürokratischen und Quälgeister hoffen aus Pragmatismus auf eine Ernennung für sich oder ihre Kinder in irgendeinem offiziellen Gremium für geleistete Dienste an der Sache. Diejenigen, die aufgrund ihres Alters mehr Energie haben, weil sie ins Fitnessstudio gehen oder sich gut ernähren, übernehmen buchstäblich das Motto „Die Revolution ist eine Party“ und nehmen sich die Freiheit, sich zu betrinken, auszuflippen oder ihre Kleidung und Frisur zur Schau zu stellen, als würden sie zu den Grammy Awards gehen. Die von Petro geführte Regierung braucht eine dynamische Mannschaft, gesunden Menschenverstand und Mut. Der Kampf um die Vorherrschaft der Identitätsfrage – wie bei der jüngsten Volksabstimmung in Chile – und der Akademismus an sich verwirren die gesellschaftliche Mehrheit des Landes und befruchten nur die verlogene Rhetorik der extremen Rechten.

7. Benehmen wir uns daneben (Calle 13)

“Wenn es schlecht läuft, muss man Opfer bringen, und wenn es gut läuft, muss man sich anstrengen”, sagt eine Gewerkschafterin in Laurent Cantets Film Human Resources. Die kolumbianische Linke hat viele Opfer gebracht, um zum ersten Mal an die Regierung zu kommen. Es bedarf großer Anstrengungen, wenn die Regierung von Gustavo Petro ihre Ziele des Wandels und der sozialen Wiedergutmachung erreichen will.

Die Aufgabe wäre gut gelöst, wenn Petros Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl in vier Jahren derselben politischen Partei angehören würde. Die extreme Rechte, das alte Establishment, lauert weiterhin auf unsere Fehler und schürt die Machtkämpfe und Egos innerhalb der Regierungskoalition und des Kongresses. Sie versuchen, die Regierung durch Schlagzeilen im Boulevard und Überheblichkeit zu destabilisieren. Sie ermutigen offen zur Sabotage.

Die Grundlage der Regierung muss immer beim Volk liegen. Unten. Nicht in hohen Positionen. Das Volk darf nicht enttäuscht oder verraten werden. Der zahlreiche und emotionale Empfang für Petro durch die kolumbianische Gemeinde in New York ist mehr wert als der Neid und die Dummheit, die ultra-konservative Politiker wie Pacho Santos und Andrés Pastrana gegen seine Rede bei den Vereinten Nationen zum Ausdruck brachten. Die Liebe eines Volkes ist mehr wert als der Hass von zwei Oligarchen.

Anmerkung der Redaktion: Da die Rede des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro vor der UN-Generalversammlung, auf den sich auch unser Autor bezieht, zumindest in Lateinamerika für Furore gesorgt hat, geben wir diese zur Kontextualisierung in deutscher Übersetzung wieder:

„Ich komme aus einem der drei schönsten Länder der Welt.

Dort gibt es eine überschäumende Natur. Tausende bunter Arten in den Meeren, am Himmel, auf dem Lande. Ich komme aus dem Land der gelben Schmetterlinge und der Magie. Dort, von den Bergen und in den Tälern aller Grüntöne fließen nicht nur das reichlich vorhandene Wasser, sondern auch Ströme von Blut. Ich komme aus einem Land von in Blut getränkter Schönheit.

Mein Land ist nicht nur schön, es ist auch voller Gewalt. Wie passen Schönheit und Tod zusammen, wie kann die Artenvielfalt des Lebens erblühen inmitten von Todes- und Schreckenstänzen? Wer ist schuld, dass der Zauber durch Terror zerstört wird?

Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass das Leben durch die Routineentscheidungen von Reichtum und Kapitalinteressen untergeht? Wer führt uns als Nation und Volk ins Verderben?
Mein Land ist schön, weil es den Amazonasurwald hat, den Urwald des Chocó, die Gewässer, die Gebirgsketten der Anden und die Ozeane.

In diesen Wäldern wird Sauerstoff für den Planeten abgegeben und das CO2 aus der Atmosphäre gespeichert. Eine dieser CO2-absorbierenden Pflanzen, nebst Millionen anderer, ist die auf der Erde am meisten verfolgte. Ihre Vernichtung wird um jeden Preis angestrebt: Es geht um eine Pflanze aus dem Amazonasgebiet, die Koka-Pflanze, die heilige Pflanze der Inkas.

Wie an einem paradoxen Scheideweg: Der Wald, den man zu retten versucht, wird gleichzeitig zerstört. Um die Kokapflanze zu vernichten, werden Gifte und Glyphosat versprüht, die in die Gewässer gelangen, die Anbauer werden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Um die Kokablätter zu vernichten oder zu besitzen werden eine Million Lateinamerikaner ermordet und zwei Millionen Afroamerikaner inhaftiert. Zerstört die todbringende Pflanze, ertönt es aus dem Norden, aber sie ist nur eine von weiteren Millionen, die der Brandstiftung im Urwald zum Opfer fallen.

Den Urwald, den Amazonaswald zu zerstören, ist zur Lösung von Staaten und Unternehmern geworden. Der Aufschrei der Wissenschaftler, die den Regenwald als eine der Grundlagen unseres Klimas bezeichnen, wird missachtet. Die Mächte in der Welt geben dem Regenwald und seinen Bewohnern die Schuld am Unheil, das sie erleiden. Woran die Macht wirklich leidet, das ist ihre Geldsucht, ihr Wunsch nach ewigem Fortbestehen, ihre Gier nach Öl, Kokain und den härtesten Drogen, um sich immer mehr zu betäuben. Nichts ist heuchlerischer als das Gerede über die Rettung des Regenwaldes.

Der Regenwald steht in Flammen, meine Herren, während Sie Krieg führen und mit ihm spielen. Der Regenwald, die klimatische Stütze der Welt, ist mit all seinem Leben im Schwinden begriffen. Der große Schwamm, der das CO2 des Planeten absorbiert, ist dabei zu verdunsten. Der heilbringende Wald wird in meinem Land als Feind betrachtet, den es zu besiegen gilt, als Unkraut, das auszurotten ist.

Der Raum der Koka und der Bauern, die sie anbauen, weil sie nichts anderes zum Anbauen haben, wird dämonisiert. Euer einziges Interesse an meinem Land ist, seine Urwälder zu vergiften, seine Leute einzusperren und seine Frauen auszugrenzen. Ihr interessiert euch nicht für die Erziehung unserer Kinder, sondern dafür, ihre Wälder zu vernichten und aus ihren Eingeweiden Kohle und Öl zu gewinnen. Den Schwamm, der Gifte absorbiert, finden Sie nutzlos, Sie schleudern lieber immer mehr Gifte in die Atmosphäre.

Wir dienen Ihnen als Alibi, um die Leere und Einsamkeit Ihrer eigenen Gesellschaft zu verdecken, Ursache für ein Leben inmitten von Drogenblasen. Wir verdecken Ihre Probleme, die Sie sich weigern anzugehen. Es ist besser, dem Wald, seinen Pflanzen und seinen Menschen den Krieg zu erklären. Während Sie die Wälder brennen lassen, während Sie heuchlerisch den Pflanzen mit Gift zusetzen, um die Katastrophen Ihrer eigenen Gesellschaft zu vertuschen, fordern Sie von uns immer mehr Kohle, immer mehr Erdöl, um Ihre andere Sucht zu befriedigen: die nach Konsum, Macht und Geld.

Was ist giftiger für die Menschheit: Kokain, Kohle oder Öl? Das Diktat der Macht hat verfügt, dass Kokain das eigentliche Gift ist und verfolgt werden muss, auch wenn es nur minimale Todesfälle durch Überdosierung gibt, eher noch durch die Mischungen, deren Ursache der Zwang zur Verheimlichung ist, aber Kohle und Öl müssen geschützt werden, auch wenn ihre Verwendung die gesamte Menschheit auslöschen könnte. So steht es um die Weltmacht, die Ungerechtigkeit, die Irrationalität, denn die Weltmacht ist irrational geworden.

In der Üppigkeit des Urwalds, in seiner Vitalität, sehen Sie das Lüsterne, das Sündige, die Ursache für die Tristesse Ihrer Gesellschaften, die durchseucht sind von einem grenzenlosen Zwang zu besitzen und zu konsumieren. Wie könnte man die Einsamkeit des Herzens, seine Dürre verbergen inmitten einer lieblosen Gesellschaft, die so sehr auf dem Konkurrenzgedanken beruht, dass sie die Seele in Einsamkeit gefangen hält ‒ außer dadurch, dass man die Pflanze, den Menschen, der sie anbaut, die befreienden Geheimnisse des Urwaldes verantwortlich macht? Gemäß der irrationalen Logik der Welt liegt es nicht am Markt, der unser Leben beschränkt, sondern am Wald und an den Menschen, die ihn bewohnen.

Die Bankkonten sind grenzenlos geworden, das angehäufte Geld der Mächtigsten könnte nicht einmal in Jahrhunderten ausgegeben werden. Die Traurigkeit des Daseins, die durch diesen künstlichen Zwang zum Wettbewerb erzeugt wird, wird von Lärm und Drogen überdeckt. Die Sucht nach Geld und nach Besitz hat noch ein anderes Gesicht: Die Drogensucht bei den Verlierern des Wettbewerbs, bei den Verlierern des künstlichen Wettlaufs, in den die Menschheit gezwungen wurde.

Das Übel der Einsamkeit lässt sich nicht heilen, indem man Glyphosat über die Wälder versprüht. Der Wald ist nicht der Schuldige. Schuld ist Ihre Gesellschaft, die zum grenzenlosen Konsum erzogen wurde, zur törichten Verwechslung von Konsum und Glück, was es aber ermöglicht, die Taschen der Reichen mit Geld zu füllen.

Nicht der Urwald ist schuld an der Drogensucht, sondern die Irrationalität Ihrer Weltmacht. Geben Sie Ihrer Macht einen Schuss Vernunft. Schalten Sie aufs Neue die Lichter des Jahrhunderts an. Der Krieg gegen die Drogen dauert seit 40 Jahren an. Wenn wir unseren Kurs nicht korrigieren und er weitere 40 Jahre dauert, werden in den Vereinigten Staaten 2.800.000 junge Menschen an einer Überdosis Fentanyl1 sterben, das nicht in unserem Lateinamerika hergestellt wird.

Millionen von Afroamerikanern werden in Privatgefängnissen inhaftiert werden. Afroamerikanische Gefangene werden zum Geschäft der Gefängnisindustrie, eine weitere Million Lateinamerikaner werden ermordet werden, unsere Gewässer und grünen Felder werden in Blut ertränkt, der Traum von Demokratie wird in meinem Amerika ebenso sterben wie im angelsächsischen Amerika. Die Demokratie wird dort sterben, wo sie geboren wurde, im großen westeuropäischen Athen.

Indem Sie die Wahrheit verschweigen, werden Sie den Urwald und die Demokratien sterben sehen.

Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert. Der Kampf gegen die Klimakrise ist gescheitert. Der tödliche Konsum hat zugenommen, von weichen zu harten Drogen, auf meinem Kontinent und in meinem Land hat es einen Völkermord gegeben, Millionen von Menschen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, und um Ihre eigene soziale Schuld zu verbergen haben Sie dem Regenwald und seinen Pflanzen die Schuld gegeben. Sie haben Reden und Ihre Politik mit Widersinn gefüllt.

Ich fordere von hier aus, von meinem verwundeten Lateinamerika, ein Ende des irrationalen Krieges gegen die Drogen. Zur Reduzierung des Drogenkonsums braucht es keine Kriege, keine Waffen, sondern wir alle müssen eine bessere Gesellschaft aufbauen, eine Gesellschaft mit mehr Solidarität, mehr menschlicher Wärme, wo die Intensität des Lebens vor Süchten und neuen Formen der Sklaverei bewahrt. Wollen Sie weniger Drogen? Denken Sie weniger an Profit und mehr an Liebe. Denken Sie an eine rationale Machtausübung.

Zerstören Sie nicht mit ihren Giften die Schönheit meiner Heimat. Helfen Sie uns ohne Heuchelei, den Amazonas-Regenwald zu retten, um das Leben der Menschheit auf diesem Planeten zu retten.

Sie haben die Wissenschaftler versammelt, und sie haben mit Vernunft gesprochen. Mit Hilfe von Mathematik und Klimamodellen sagten sie, dass das Ende der menschlichen Spezies nahe sei, dass ihre Zeit nicht mehr Jahrtausende, nicht einmal Jahrhunderte betrage. Die Wissenschaft hat die Alarmglocken läuten lassen und wir hören ihr nicht mehr zu. Der Krieg hat als Vorwand gedient, um die notwendigen Maßnahmen zu unterlassen.

Als es am nötigsten war zu handeln, als reden nichts mehr nützte, als es unumgänglich war, Geld in Fonds zu stecken, um die Menschheit zu retten, als es notwendig war, so schnell wie möglich von Kohle und Öl wegzukommen, erfanden Sie einen Krieg nach dem anderen. Sie sind in die Ukraine, aber auch in den Irak, in Libyen und Syrien eingefallen. Sie fielen ein im Namen von Öl und Gas.

Im 21. Jahrhundert entdeckten Sie die schlimmste Ihrer Süchte: die Sucht nach Geld und Öl. Die Kriege haben Ihnen als Vorwand gedient, um nicht gegen die Klimakrise zu agieren. Die Kriege haben Ihnen gezeigt, wie abhängig Sie von dem sind, was die menschliche Spezies töten wird.

Wenn Sie sehen, dass die Menschen verhungern und verdursten und zu Millionen in den Norden wandern, dorthin, wo es Wasser gibt, sperren Sie sie ein, bauen Mauern, setzen Maschinengewehre ein, erschießen sie. Sie vertreiben sie als wären es keine Menschen, Sie reproduzieren die fünffache Mentalität derer, die die Gaskammern und die Konzentrationslager geschaffen haben, Sie reproduzieren auf weltweiter Ebene das Jahr 1933. Der große Sieg des Angriffs gegen die Vernunft.

Sehen sie nicht, dass die Lösung für den großen Exodus, der Ihre Länder erreicht, darin besteht, die Flüsse wieder mit Wasser und die Felder mit Nährstoffen zu füllen? Die Klimakatastrophe überschwemmt uns mit Viren, aber Sie machen Geschäfte mit Medikamenten und verwandeln Impfstoffe in Handelsware.

Sie schlagen vor, dass der Markt uns retten soll vor dem, was er selbst geschaffen hat. Der Frankenstein der Menschheit besteht darin, Markt und Gewinnsucht ohne Lenkung walten zu lassen und auf Verstand und Vernunft zu verzichten. Die Vernunft des Menschen macht einen Kniefall vor der Gier.

Welchen Sinn haben Kriege, wenn es darum geht, die menschliche Spezies zu retten? Welchen Sinn haben Nato und Imperien, wenn das, was kommt, das Ende der Intelligenz ist? Die Klimakatastrophe wird Hunderte von Millionen von Menschen töten, und ‒ hören Sie gut zu ‒ sie wird nicht vom Planeten produziert, sondern vom Kapital. Die Ursache der Klimakatastrophe ist das Kapital. Die Logik einer Zusammenarbeit, die darauf abzielt, immer mehr zu konsumieren, immer mehr zu produzieren und einige immer mehr zu bereichern, das ist das, was die Klimakatastrophe erzeugt.

Sie haben sich der Logik der erweiterten Akkumulation, der Energiemotoren von Kohle und Öl angeschlossen und einen Wirbelsturm entfesselt: Die sich vertiefende und tödliche chemische Veränderung der Atmosphäre. In einer Parallelwelt ist die erweiterte Akkumulation von Kapital eine erweiterte Akkumulation des Todes.

Von den Ländern des Urwalds und der Schönheit aus, da wo Sie beschlossen haben, eine Pflanze des Amazonas-Regenwaldes zum Feind zu erklären und ihre Erzeuger auszuliefern und zu inhaftieren, lade ich Sie ein, den Krieg zu stoppen und die Klimakatastrophe zu verhindern.

Hier, in diesem Amazonaswald, ereignet sich ein Versagen der Menschheit. Hinter den Feuern, die ihn verbrennen, hinter seiner Vergiftung steht ein umfassendes, zivilisatorisches Versagen der Menschheit. Hinter der Sucht nach Kokain und Drogen, hinter der Sucht nach Öl und Kohle verbirgt sich die eigentliche Sucht dieser Phase der Menschheitsgeschichte: die Sucht nach irrationaler Macht, nach Profit und Geld. Dies ist die riesige tödliche Maschinerie, die die Menschheit auslöschen kann.

Als Präsident eines der schönsten Länder der Welt, aber auch eines der blutigsten und am meisten geschändeten, schlage ich Ihnen vor, den Krieg gegen die Drogen zu beenden und unserem Volk ein Leben in Frieden zu ermöglichen.

In diesem Sinn rufe ich ganz Lateinamerika auf. Ich rufe die Stimme Lateinamerikas auf, sich zu vereinen, um das Irrationale zu besiegen, das unsere Körper quält. Ich rufe Sie auf, den Amazonaswald mit den Ressourcen zu retten, die global für das Leben bereitgestellt werden können.

Wenn Sie nicht in der Lage sind, den Fonds für die Wiederbelebung der Wälder zu finanzieren, wenn das Geld für Waffen wichtiger ist als für das Leben, dann reduzieren Sie die Auslandsschulden, um unsere eigenen Haushaltsspielräume freizumachen, damit wir selbst die Aufgabe erfüllen können, die Menschheit und das Leben auf dem Planeten zu retten. Wenn Sie es nicht wollen, können wir es tun.

Tauschen Sie einfach Schulden gegen Leben, gegen die Natur. Ich schlage Ihnen vor und rufe Sie auf, nach Lateinamerika zu kommen, um einen Dialog zu beginnen, um den Krieg zu beenden. Setzen Sie uns nicht unter Druck, um uns auf die Felder des Krieges zu treiben .

Es ist die Zeit für den FRIEDEN. Lassen Sie die slawischen Völker miteinander reden, lassen Sie die Völker der Welt miteinander reden. Der Krieg ist nur eine Falle, die das Ende der Zeiten in einer großen Orgie der Irrationalität beschleunigt.

Von Lateinamerika aus rufen wir die Ukraine und Russland auf, Frieden zu schließen. Nur in Frieden können wir das Leben auf unserem Planeten retten. Es gibt keinen vollständigen Frieden ohne soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit.

Wir befinden uns auch im Krieg mit unserem Planeten. Ohne Frieden mit dem Planeten wird es keinen Frieden zwischen den Nationen geben. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keinen sozialen Frieden.“

Übersetzung: Adriana Yee Meyberg, amerika21

Titelbild: shutterstock / lev radin


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