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Titel: Eine Streitschrift für Kunstautonomie

Datum: 1. Oktober 2022 um 13:00 Uhr
Rubrik: Kultur und Kulturpolitik, Rezensionen
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Die Freiheit der Kunst gehört zu den großen Versprechungen des Bürgertums, das es zunächst gegen die Enge der Kunst des Feudalismus und später gegen Kunstdoktrinen totalitärer Systeme richtete. Mit der Zunahme von Cancel-Culture auch in westlichen Ländern erweist sich die Kunstfreiheit keineswegs mehr als selbstverständlich. Auf Grund innergesellschaftlicher Entfremdung und auch ganz anderer, schon viel älterer Zusammenhänge war sie das nie – das behauptet der israelische Historiker und Kulturtheoretiker Moshe Zuckermann in einer Streitschrift für die Kunstautonomie, mit der er die Kulturtheorie von Theodor Adorno und Max Horkheimer aktualisiert. Von Sabine Kebir.

Die Kunstautonomie stellt die ideale Seite der Kunstfreiheit dar, sofern sich ein Kunstwerk ganz nach seiner eigenen Intention und seinen eigenen inneren Gesetzen entwickeln kann, was sich in großen Beispielen der Kunstgeschichte auch realisierte. Das heißt nicht, dass die Kunst, einschließlich der „autonomen“, frei von gesellschaftlichen Voraussetzungen, Einflüssen und Wirkungen ist. Sie entwickelt sich von ihrer Materialbasis und von ihrer geistigen Basis her mit der Gesellschaft, in der sie entsteht und wirkt auch in sie hinein. Zuckermann erinnert an Horkheimers Diktum, wonach Kunst – jedenfalls große Kunst – jedoch immer ein „Spiel“ ist, in dem sie sich sowohl formal als auch inhaltlich autonom von den repressiven Zwängen ihrer Zeit machen und ein utopisches, emanzipatives Moment gewinnen kann.

Zunächst untersucht Zuckermann eine Episode der Kunstmoderne, der sich die Frankfurter Schule nicht widmete, da sie sich erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts voll entfaltete. Sie begann 1917, als Marcel Duchamp kraft seiner Autorität als anerkannter Künstler ein Urinal in einer Kunstausstellung präsentierte und es zum Kunstwerk erklärte. Duchamps „Fountain“ wurde damals von 500 Experten zum „einflussreichsten Kunstwerk der Moderne“ gekürt. Zuckermann sieht die Konzeptkunst als Sackgasse, tendenziell sogar als Suizid der Kunst, denn sie verzichtet auf ihren spezifischen Herstellungsprozess. Hier führe das der bürgerlichen Kunst immanente „Postulat der permanenten Formüberbietung […] konsequent zugespitzt, zur radikalen Formaufhebung, mithin zur Forderung ihrer totalen Aufhebung“. In dieser Radikalität verzichtet die Konzeptkunst auf jeglichen Autonomieanspruch und damit auch auf einen emanzipatorischen Horizont. Entscheidender für Zuckermann ist jedoch, dass die von der Konzeptkunst suggerierte Aussage präziser im verbalen Diskurs vermittelbar ist.

Freilich gäbe es Ausnahmen wie die Verhüllung des Reichstags, die Christo und Jeanne-Claude 1995 realisieren konnten, nach 24-jähriger Ungewissheit, eine Zeit, in der tausende Zeichnungen, Gemälde, Macketten und schließlich auch Computersimulationen entstanden, die durchaus einen künstlerischen Entwicklungsweg darstellten und dessen Ergebnis beim Publikum Kunstdebatten, auratische Eindrücke sowie intellektuelle Kontemplation über das verhüllte Objekt hervorrief.

Wenn Adorno zeitweise behauptete, dass nach Auschwitz kein Dichten mehr möglich sei, umschrieb er auch die Grenzen der Kunst, zur Menschheitsemanzipation entscheidend beizutragen: Sie hatte Auschwitz nicht vorhergesehen und nicht verhindert. Doch, so Zuckermann, „weder Unbehagen in der Kultur noch Entsetzen über ihr Versagen führen aus der Kultur heraus“. Werde diese „subjektive Unfähigkeit“ der Kunst mit dem „Stand der objektiven Wahrheit rationalisiert“, bliebe eine Spalte geöffnet, sofern sich die Kunst selbst „kritisch reflektiert hinsichtlich ihrer Ohnmacht gegenüber dem, worin sie eingezwängt ist“.

In ihrer Schrift zur industriellen Massenkultur hatten Horkheimer und Adorno diese als originären Ausdruck der Entfremdung in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften entlarvt: Die Kulturproduktion findet hier von vornherein als reine Warenproduktion statt, weshalb sie sich am Bildungsstand und den unmittelbaren geistigen und sexuellen Wünschen des Publikums orientiert, diese aber nur reproduziert, ohne emanzipatorische Ansprüche hervorzurufen. Sie will nichts anderes als Ware sein und wenn sie ein eigenes Interesse hat, dann nur dies: die Menschen im Zustand unreflektierter Konsumenten zu halten. Die Einlösung des Versprechens der Aufhebung des Gegensatzes zwischen „hoher“ und „niederer“ Kultur wird so verhindert: die Subalternen bleiben unfähig, sich „Hochkultur“ mit emanzipatorischem Potential anzuverwandeln.

Die Kritischen Theorie sah den heutigen Zustand nicht voraus, in dem Formen der Massenkultur nicht nur in die Hochkultur eindringen, sondern alle Bereiche des Lebens kolonisieren. Freier Wille herrscht nur scheinbar, realiter werden die Individuen den Erfordernissen des permanenten Konsums immer mehr angepasst: „Ob Kunst, Unterhaltung, politisches Ereignis oder Naturkatastrophe, ob Mord oder Hungertod, Ziehung der Lottozahlen oder Abdankung des Ministers“ – alles werde im Stil warenförmiger Massenkultur vermittelt: „Sterben in Afrika hat einen ökonomisch kalkulierbaren prime-time-Wert; es wird als item konsumiert und hat eine Wirkungsdauer, die sich am nächsten item, an der nächsten Sensation, an der ihr folgenden Unterhaltungssendung bemisst.“ Die fetischisierte Hinnahme dieser „Totalvirtualisierung des Lebens“ produziere im globalen Maßstab das, was Erich Fromm „autoritäre Charaktere“ nannte – die Grundlage, auf der totalitäre oder gar faschistoide Entwicklungen im Bereich des Möglichen liegen.


Moshe Zuckermann: Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022.


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