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Titel: Wahlanalyse zu Brasilien: Lulas glanzloser Sieg und die Stärke der Bolsonaristen 

Datum: 8. Oktober 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Rechte Gefahr, Wahlen
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Die Hegemonie der Ultrarechten ist nach den Wahlen in Brasilien gefestigt. Das Phänomen und die Mobilisierungskraft des Bolsonarismus wurde von Lula und seinen Anhängern unterschätzt. Das wird die Regierungsfähigkeit beeinträchtigen, wenn Lula denn überhaupt seine dritte Amtszeit erreicht. Von Gerardo Szalkowicz.

Die Gesten und Worte in der Wahlkampfzentrale der Arbeiterpartei PT drückten die ersten Gefühle deutlich aus: Überraschung und Besorgnis. Der gedämpfte Ton von Lulas kurzer Rede konnte die Fassungslosigkeit angesichts der Ergebnisse auch nicht verbergen.

Eine Stunde später war die Avenida Paulista nach einer kurzen und nicht sehr großen, fast schon protokollmäßigen Feier bereits menschenleer. Es war eine Versammlung, die mehr dem Bedürfnis diente, die Stimmung mit Bier und Cachaça zu heben, als dem Bedürfnis, Siegesfreude zu verströmen.

Trotz des großartigen Abschneidens der PT mit 48,4 Prozent der Stimmen (fast 20 Prozentpunkte mehr als in der ersten Runde 2018) schien das halbleere Glas im Mittelpunkt zu stehen, nämlich die Enttäuschung darüber, nicht um die Stichwahl herumzukommen und über Bolsonaros unvorstellbare 43,2 Prozent – ein viel höheres Ergebnis als erwartet ‒ sowie über seinen großen Erfolg bei den Gouverneurs- und Kongresswahlen.

Es stimmt, dass Lula mit einem Vorsprung von mehr als sechs Millionen Stimmen einen guten Start in die zweite Runde hat, aber ohne die siegessichere Gewissheit von vor ein paar Tagen und mit dem Argwohn gegenüber den Meinungsforschern, die ziemlich daneben lagen. Der PT-Vorsitzende wird mit Simone Tebet verhandeln müssen, die mit vier Prozent an dritter Stelle liegt, und er muss sehen, wie viel er von der Wählerschaft von Ciro Gomes (drei Prozent) und den 20 Prozent, die sich der Stimme enthalten haben, zusammenkratzen kann.

Bolsonaro gewinnt hinterrücks. Es gibt eine breite Ablehnung gegen ihn, vor allem wegen der zunehmenden Armut (33 Millionen Menschen leiden an Hunger und 115 Millionen unter Ernährungsunsicherheit) und wegen seiner Leugnung der Pandemie, die in Brasilien zu zehn Prozent der weltweiten Todesfälle geführt hat. Durch seine Unberechenbarkeit und konfrontative Haltung verlor er die Unterstützung der Mainstream-Medien, der Justiz und eines großen Teils der traditionellen Elite, die es vorzieht, Lula zu unterstützten. Dennoch hat das Phänomen des Bolsonarismus, das vielleicht unterschätzt wurde, gezeigt, dass seine Höchstmarke nicht so niedrig ist wie angenommen. Und es gelang ihm, breitere Kreise zu gewinnen als seinen bedingungslosen, reaktionären, rassistischen und machistischen harten Kern, der auf 25 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird. Seine Kostümierung als System-Gegner zahlt sich weiterhin aus.

Der andere entscheidende Faktor für seine 51 Millionen Stimmen ist die tief verwurzelte Anti-PT-Stimmung und die direkte Verknüpfung Lulas mit der Korruption, die sich immer wieder in den zufälligen Gesprächen auf der Straße zeigt. Obwohl der Ex-Präsident in allen Fällen freigesprochen und das von Sergio Moro beförderte juristische Konstrukt gegen ihn nachgewiesen wurde, haben sich die Spuren der justiziellen Kriegsführung gegen Lula (Lawfare) in das kollektive Unbewusste eingeprägt.

Was für ein trauriges Paradoxon: Moro ist der meistgewählte Senator im Bundesstaat Paraná geworden, wie auch sein wichtigster Lava-Jato-Kumpan, der Ex-Staatsanwalt Delton Dalagnoll, als Kongressabgeordneter.

In Rio de Janeiro wurde außerdem der pensionierte General Eduardo Pazuello, Bolsonaros ehemaliger Gesundheitsminister, der sich weigerte, Impfstoffe auszugeben, zum meistgewählten Abgeordneten; und Damares Alves, die ehemalige Frauenministerin, die durch ihren euphorischen Ausruf “Jungen tragen Blau und Mädchen tragen Rosa” in Erinnerung geblieben ist, bekam die meisten Stimmen als Senatorin für Brasília.

Eine noch rechtslastigere politische Landkarte

Die Regional- und Parlamentswahlen festigten das Wachstum der Ultrarechten. Im Senat, in dem ein Drittel der Sitze erneuert wurde, gewann Bolsonaros Partei acht Abgeordnete dazu und wird die größte Fraktion. In der Abgeordnetenkammer liegt sie mit 96 Sitzen vor der PT und ihren Verbündeten, die auf 79 Sitze kommen.

Die gute Nachricht ist, dass die Linke die Wahl der ersten Transgender-Abgeordneten, Erika Hilton und Robeyoncé Lima, der ersten indigenen Abgeordneten, Sonia Guajajara und Celia Xakriaba, und von sechs Anführern der Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) als Abgeordnete gewonnen hat. Darüber hinaus wurde Guillherme Boulos, Vertreter der Wohnungslosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Sem-Teto) in São Paulo zum meist gewählten Abgeordneten.

Sicher ist jedoch, dass der Kongress weiterhin mehrheitlich männlich, weiß und konservativ sein wird. Dasselbe bei den Gouverneursposten: Von den 27 Bundesstaaten gehen nur drei an die PT und elf an rechte Kräfte. Die Übrigen müssen noch in einer Stichwahl entschieden werden. Die Linke schnitt in den drei wichtigsten Bundesstaaten schlecht ab: In São Paulo schlug der Bolsonaro-Anhänger Tarcísio de Freitas den PT-Politiker Fernando Haddad; in Rio de Janeiro gewann Claudio Castro, ein weiterer Verbündeter des aktuellen Präsidenten, und wurde wiedergewählt; und in Minas Gerais gewann der Konservative Romeu Zema ebenfalls in der ersten Runde.

Zusammengefasst: Es ist eine politische Landkarte, in der sich die Hegemonie der Rechten und der Ultrarechten gefestigt hat und die Lula viele Schwierigkeiten hinsichtlich der Regierungsfähigkeit bereiten wird, wenn er seine dritte Amtszeit erreicht.

Demokratie gegen Neofaschismus

Bolsonaros starke Wahl hinterließ diesen Nachgeschmack beim Sieg von Lula, dem nur 1,6 Punkte fehlten, um in der ersten Runde zu gewinnen, etwas, was er nie geschafft hat. Nun beginnt eine weitere Partie, eine andere Wahl, bei der Kalkulationen wenig taugen.

Aber wenn jemand eine lange Geschichte des Durchhaltevermögens hat, dann ist es Lula. Brasiliens erster Arbeiterpräsident, der drei Niederlagen einstecken musste bevor er 2002 gewann, der den Krebs, die Lynchkampagnen der Medien und 580 Tage unrechtmäßiger Haft überwunden hat und der am vergangenen Sonntag mit zunehmend heiserer Stimme versprach:

“Der Kampf geht weiter bis zum endgültigen Sieg. Ich habe immer geglaubt, dass wir diese Wahl gewinnen, und ich möchte euch sagen, dass wir sie gewinnen werden”.

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21

Titelbild: shutterstock / casa.da.photo


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